Vom Warten

Warum Advent und Aktionismus nicht zusammenpassen
LP-Cover Kater Mikesch, 1966
Cover der Langspielplatte „Kater Mikesch“, 1966.

In meiner Kinderzeit lief an Heiligabend im Fernsehen auf ARD ein mehrstündiges Kinderprogramm mit dem Titel „Wir warten aufs Christkind“. So sollte den Kindern die Zeit bis zur Bescherung vertrieben werden. Gesendet wurden immer wieder Klassiker des Kinderfernsehens. Beliebte Figuren aus ARD-Kinderprogrammen wie Kater Mikesch von der Augsburger Puppenkiste, Cäsar der mutige Hase vom Hessischen Rundfunk oder später auch Hein Blöd aus der Truppe von Käpt‘n Blaubär sorgten für das Rahmenprogramm. Das Format lief im Ersten von 1960 bis 1995. 1996 gab es noch einmal eine Ausgabe im Dritten Programm des NDR, danach war zunächst Funkstille. 2001 wurde das Format schließlich wiederbelebt und läuft seither zu Heilig Abend im Dritten Programm des WDR.

Ein Lied wie Philipp Friedrich Hillers „Wir warten Dein, o Gottes Sohn“ (EG 152), geschrieben 1767, würde wohl nicht so recht in das Heiligabendprogramm des WDR passen. Es ginge höchsten als Partycrasher durch, versehen mit einer Triggerwarnung: „Für Jugendliche unter 16 nicht geeignet“, obwohl die ja sonst alles Mögliche im Internet und in den sogenannten Social Media zu sehen bekommen – was künftig in Australien gesetzlich unterbunden werden soll.

Hiller (1699–1769) war ein bedeutender Liederdichter des württembergischen Pietismus. Sein erwähntes Lied handelt nicht von Weihnachten, sondern will den Glauben an die Wiederkunft Christi, wie er im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausgesprochen wird, lebendig halten. Aus Hillers Versen spricht auch die Überzeugung, dass die jetzige Weltzeit bald zu Ende gehen wird. Das Lied ist aber nicht von Angst, sondern von Hoffnung und Freude getragen: „Wer an dich glaubt, / erhebt sein Haupt / und siehet dir entgegen; / du kommst uns ja zum Segen“ (Strophe 1). Eine Anspielung auf Lukas 21,28, die kongenial auch in der Frage 52 des Heidelberger Katechismus aufgegriffen wird. Und am Ende des Liedes heißt es: „Wir freuen uns schon überdies / mit kindlichem Verlangen“ (Strophe 4). Man könnte meinen: fast wie zu Weihnachten.

Zum Christkind geschrumpft

Vom Kater Mikesch zum Wiederkunft Christi am Ende der Tage ist es allerdings ein gewagter Schritt. Oder sollten wir besser sagen: Von der Erwartung der ersten Christen auf den wiederkommenden Christus ist am Ende nur noch die Vorfreude auf die Bescherung am Heiligen Abend geblieben, und der Sohn Gottes, sitzend zur Rechten des Vaters im Himmel, ist zum Christkind geschrumpft. (Wobei es, nebenbei bemerkt, Martin Luther war, der das Christkind erfunden haben soll, um der katholischen Anrufung der Heiligen, darunter auch des Heiligen Nikolaus, etwas Reformatorisches entgegenzusetzen.)

Tatsächlich ist der Advent die Zeit im Kirchenjahr, die nicht nur auf das Weihnachtsfest einstimmen soll, sondern auch an das Ende der Zeiten erinnert. Allerdings nicht als bloßes Memento mori, sondern als Grund zur Hoffnung. Wir warten, so hieß es bei den ersten Christen, „auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2. Petrus 3,13). Wenn es das gäbe, einen Himmel und eine Erde, in der Gottes Wille so geschieht, wie wir es im Vaterunser erbitten, eine Erde unter einem neuen Himmel, auf der Gerechtigkeit und Frieden herrschte – ja, das wäre eine schöne Bescherung!

Wer darauf hofft, so eine verbreitete Überzeugung, kann lange warten. Warten aufs Christkind? Warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der Gerechtigkeit herrschen? Es sollte wohl besser heißen, auf den Sankt Nimmerleinstag zu warten!

Diagnose: Appellitis

Solchen Spott mussten sich schon die Christen am Beginn des zweiten Jahrhunderts anhören, als der zweite Petrusbrief in Umlauf kam. Er gibt vor, vom Apostel Petrus geschrieben zu sein, ist aber wohl ein pseudonymer Text aus dem ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts nach Christus. In den Gemeinden meldeten sich Zweifel, ob der Glaube an die Wiederkunft Christi nicht eine Illusion sei. Kritische Stimmen meldeten sich zu Wort, die fragten: „Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind. bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist.“ Zweitausend Jahre später hat der Einwand nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Ist die christliche Religion nicht bloß Opium fürs Volk oder meinetwegen auch Opium des Volkes, wie Karl Marx erklärt hat? Eine Vertröstung auf ein Jenseits, darin noch niemand war, weil es das gar nicht gibt? Sind der neue Himmel und die neue Erde nicht einfach zu schön, um wahr zu sein?

Doch wie heißt es: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und schon macht sich eine verbreitete Krankheit bemerkbar, die uns tief in den Knochen und in den Genen steckt. Die Diagnose lautet: Appellitis. Motto: Wenn Ihr wollt, ist es kein Traum. Ihr müsst aber nicht bloß daran glauben, sondern auch etwas dafür tun. Wir sind es, die die Welt retten und erneuern müssen! Wir sind es, die die Schöpfung bewahren und zu einem besseren Ort machen müssen! Wir sind es, die für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen haben! Wir müssen nur endlich, wie es heute immer so schön heißt, ins Tun kommen. Steht nicht schon im Jakobusbrief im Neuen Testament: „Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein, womit ihr euch selbst betrügt“? (Jakobus 1,22). Ist das nicht auch das Motto der Diakonie: Wir machen das, wovon die Pfarrer auf der Kanzel bloß reden?

Es gibt da nur ein kleines Problem: Wie sollen wir, die wir alles andere als gerecht und gut sind, für endzeitlichen Frieden und Gerechtigkeit sorgen? Wir sollen wir das schaffen, die wir nach biblischer Überzeugung nicht die sind, die wir nach Gottes Willen sein sollten? Wie sollten wir die Welt zum Guten wenden, die wir doch immer wieder mit Schrecken feststellen, dass wir absichtsvoll das Gute, das wir erkannt zu haben glauben, nicht tun, sondern stattdessen das Böse, das wir nicht wollen?

Wartehaltung einüben

Nur noch ein Gott, so der Philosoph Martin Heidegger, kann uns retten. Und auf sein rettendes Eingreifen können wir nur hoffen und warten. Das aber nicht ins Blaue hinein, sondern im Vertrauen auf die Zusage dieses Gottes, auf sein letztgültiges Ja zu uns und zu seiner Schöpfung, das er, wie Paulus im zweiten Korintherbrief schreibt, in Jesus Christus gesprochen hat. 

Dazu können wir eigentlich nur noch Amen sagen. Amen, so Martin Luther in seiner Nachdichtung des Vaterunsers, das heißt: Es werde wahr. Also nicht: Alles klar und fraglos in Butter. Sondern die flehentliche und immer wieder von Zweifeln angefochtene Bitte: Amen, das ist: Es werde wahr.

Ein von dieser Bitte geprägtes Leben ist ein Leben in der Haltung des Wartens. Und genau darum geht es im Advent: Die Haltung des Wartens einzuüben. Nicht warten auf den Sankt Nimmerleinstag, sondern auf Gott und sein Kommen. Nicht erst am Ende der Tage, sondern schon hier und jetzt, mitten in unserem Leben.

Aber: Warten fällt uns schwer. Lieber verfallen wir in Aktionismus. Warten zu müssen, bedeutet von jemandem oder von etwas abhängig zu sein, das wir nicht in unserer Hand haben. In Momenten oder Zeiten des Wartens erleben wir, das unser Leben von einer grundlegenden Passivität gekennzeichnet ist. So wie wir uns nicht selbst auf die Welt gebracht haben, befinden wir uns das ganze Leben hindurch in einer schlechthinnigen Abhängigkeit, auch und gerade da, wo wir höchst aktiv sind und meinen, alles im Griff zu haben. Friedrich Schleiermacher, der protestantische Kirchenvater des 19. Jahrhunderts hat diese Erfahrung schlechthinniger Abhängigkeit für den Kern aller Religion gehalten.

Es gibt unterschiedliche Arten des Wartens. Wir kennen Momente und Zeiten freudiger Erwartung. Es gibt aber auch die quälende Erwartung, zum Beispiel auf einen Befund oder ein Prüfungsergebnis, verbunden mit Ängsten, die manchmal grundlos, manchmal aber auch durchaus berechtigt sind. Wir erleben bisweilen, dass unsere Erwartungen enttäuscht werden. Wir warten auf einen Besuch, der sich verspätet. Wir warten vielleicht ganz vergeblich, vielleicht auf Grund unglücklicher Umstände, vielleicht auch, weil uns jemand tief enttäuscht und sein Versprechen nicht gehalten hat. Eine Schule des Wartens ganz besonderer Art ist die Deutsche Bahn. Hier kann man lernen, was es heißt, vergeblich zu warten und hoffen – und dann doch manchmal die geradezu religiöse Erfahrung machen, dass ein Zug wider alle Hoffnung pünktlich fährt und sogar einigermaßen pünktlich ankommt!

Banalisierung und Moralisierung

Wir aber wollen uns darin einüben, nicht bloß mit innerer Gelassenheit auf den nächsten Zug zu warten, sondern darin, auf Gottes Zeit zu warten. Davon hat Dietrich Bonhoeffer gesprochen. In dunkler Zeit schrieb er davon, dass die Worte der biblischen Überlieferung ihre Kraft verloren hätten. Das sei auch die Schuld der Kirche, die in der NS-Zeit nur um ihren Selbsterhalt gekämpft habe. Ich frage mich immer wieder, wie weit wir auch heute in Kirche und Theologie mit daran Schuld tragen, dass die Worte der biblischen Überlieferung so kraftlos geworden sind. Wie weit dies nicht etwa nur die Folge von Machtmissbrauch und Fehlern bei der kirchlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, sondern auch eine Folge der Banalisierung und Moralisierung des Evangeliums und einer Selbstsäkularisierung der Kirche ist. Sicher, die Diakonie hat in der Gesellschaft nach wie vor ein hohes Ansehen, wie die jüngste Kirchenmitgliedschaftsstudie gezeigt hat. Aber es fällt laut dieser Studie offenbar zunehmen schwer, die religiösen Bezüge, den Quellgrund und die biblischen Prägekräfte diakonischen Handelns in der Gesellschaft zu verdeutlichen.

Warten kann unterschiedliche Formen annehmen. Es gibt es untätiges Abwarten. Es gibt ein gelassenes Abwarten und Teetrinken. Es gibt aber auch ein gespanntes, tätiges Warten, das freilich bei allem Tun weiß, dass es das, worauf man wartet, nicht selbst hervorbringen und garantieren kann. 2. Petrus 3,13 verwendet übrigens im Griechischen das Verb prosdokáo. Es meint das hoffnungsvolle, ebenso wie das angstvolle oder auch das emotional neutrale Erwarten. Häufiger als prosdokān kommt im Neuen Testament das Verb prosdéchomai vor, das mit „warten“ oder „erwarten“ übersetzt werden kann. Es wird zum Beispiel in Markus 15,43 Josef von Arimathäa erwähnt, der für Jesus sein Grab zur Verfügung stellt, er habe auf das Reich Gottes gewartet (Lukas 23,51). Simeon wartet ein Leben lang auf die Rettung oder Trost (paraklesis) Israels (Lukas 2,25). Die neben ihm bei der Beschneidung Jesu erwähnte hochbetagte Prophetin Hanna spricht über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten (Lukas 2,38).

Bonhoeffer wird gern mit den Worten zitiert, das Christentum der Zukunft bestehe im Beten und im Tun des Gerechten. Dabei wird zumeist unterschlagen, dass Bonhoeffer eine dreigliedrige Formel verwendet. Er hoffte auf eine Zeit, in der Gottes Wort wieder ganz neu und umstürzend vernehmbar werde, so dass sich die Welt darunter verändere. Bis dahin werde es Christenmenschen geben, die Beten und das gerechte Tun – und auf Gottes Zeit warten!

Warten = hegen, pflegen

Warten ist ja auch ein anderes Wort für hegen und pflegen. In diesem Sinne brauchen wir eine wartende Kirche, eine wartende Theologie und eine wartende Diakonie, die auf Gottes Zeit warten, indem sie das ihre tun, um den Glauben lebendig zu halten. Das tun wir, indem wir in allem Tun immer neu auf Gottes Wort hören und darin lesen. Geradezu in Umkehrung des Satzes aus dem Jakobusbrief muss es heißen: Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, womit ihr euch selbst betrügt.

Im Wort und in der gottesdienstlichen Mahlfeier seiner Gemeinde ist der abwesende Christus anwesend, auch wenn diese Anwesenheit unverfügbar bleibt und er sich immer wieder entzieht, so wie es die Emmausgeschichte erzählt (Lukas 24,31). Und wenn wir in Zweifel geraten oder des Wartens müde sind, erinnert uns 2. Petrus 1,19: „Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da leuchtet an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“

 

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