Schwieriges Gedenken
Am 9. November steht die Pfarrerin gemeinsam mit dem Bürgermeister auf dem alten Jüdischen Friedhof. Gedenken an die Novemberpogrome 1938. In diesem Jahr mit deutlich mehr Teilnehmer:innen in den Vorjahren. Das Gedenken bleibt eine Pflicht, die von den aufrechten Demokrat:innen erfüllt wird. Angeleitet wird das Gedenken nicht selten von Lokalpolitiker:innen und Kirchenvertreter:innen. Man kann über „Gedächtnistheater“ schimpfen, sicher. Doch am 9. November der Pogrome offiziell und förmlich zu gedenken und aktuellen Antisemitismus zu beklagen, das ist nicht falsch, sondern vielmehr bitter nötig.
Andernorts werden Stolpersteine geputzt oder Rosen neben ihnen abgelegt. So auch in der Würzburger Innenstadt, durch die ich am 9. November 2024 in den frühen Abendstunden eile. Wir haben uns ein wenig verquatscht und sind vom Weg abgekommen, der uns eigentlich zum gemeinsamen feierlichen Empfang der Bayerischen Staatsregierung mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern führt, der am Vorabend der Eröffnung der Synodentagung der Evangelischen Kirche in Deutschland stattfindet. Wir kommen rechtzeitig an. Ein Schwätzchen hier, ein Plausch dort. In der Neubaukirche der Alten Universität steht das evangelische „Who-is-Who“ des Landes beisammen: Bischöf:innen, Kirchenpräsident:innen, Pfarrer:innen und Synodale, auch mehr oder weniger prominente Politiker:innen und Medienschaffende. Dann geht das Programm los.
Generalverdacht beim Innenminister
Anderthalb Stunden Begrüßungen und Podiumsgespräch liegen vor uns. Auf dem Podium hat der bayerische Innenminister und Gastgeber des Abends, Joachim Herrmann, Probleme damit, legitimen Protest von Palästinenser:innen und ihren Unterstützer:innen von antisemitischer Hetze zu unterscheiden. Laute und junge Palästinenser:innen stehen beim bayerischen Innenminister unter Generalverdacht. Die ebenfalls an der Gesprächsrunde teilnehmende Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, interveniert freundlich, aber bestimmt: Derlei „Schwarz-Weiß-Denken“ wolle man gerade entgegentreten. Das ist sachlich angemessen und auch höflich. Als einer der Gäste aus der Ökumene nimmt Bischof Ibrahim Azar von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL) an der Tagung teil. Er sitzt in der ersten Reihe.
Es ist also ganz und gar nicht so, dass aktuelle Politik und „Zeitenwenden“, dass die große Geschichte, die sich mit dem Datum des 9. November verbindet, auf der Synodentagung keine Rolle spielen. Am Vortag haben Vertreter:innen der Evangelischen Kirche auch am Pogromgedenken in Würzburg teilgenommen. (Die Bischofskonferenz der VELKD hat eine eigene Stellungnahme veröffentlicht.) Und so ist das (fast) auf allen Tagungen der EKD-Synode, der Generalsynode der VELKD und der Versammlung der UEK, die in verbundener Weise immer im Herbst des Jahres stattfinden. Nur im vergangenen Jahr lag der 9. November knapp vor dem Beginn Tagung der Synoden (und doch fand zum Termin die VELKD-Bischofskonferenz statt). Auch in den beiden kommenden Jahren liegt der 9. November mitten in der evangelischen Synodenbetriebsamkeit.
Häppchen und Weißwein
Mein Problem damit ist noch nicht einmal, dass die ohnehin schon thematisch hoch aufgeladenen Reden auf der Synode durch Verweise auf das historische Datum nicht selten überladen werden. Natürlich muss man, wenn man schon am 9. November tagt, dem Gedenken an die Novemberpogrome Rechnung tragen. Wenn, wie in diesem Jahr, auch noch ein bedeutsames Jubiläum des Mauerfalls – 35 Jahre, immerhin – anliegt, findet auch diese positive Sternstunde deutscher Geschichte Erwähnung. Man habe, informierte mich ein älterer Kollege, der über die Geschichte der Evangelischen Kirche weitaus besser Bescheid weiß als ich, ja auch am 9. November 1989 getagt. Aber die Geschichte muss er selbst erzählen …
Mein Problem mit dem Termin ist kurz und knapp: Während „in der Fläche“ Pfarrer:innen, Kirchenvorstände und die protestantische Zivilgesellschaft auf Friedhöfen, an Denkmälern, in Kirchen, mit Andachten, Gedenkstunden, Podien und Konzerten den Novemberpogromen gedenken und damit einen unverzichtbaren Teil zur Bildungsarbeit in der Gesellschaft leisten, steht das evangelische „Who-is-Who“ halb zehn abends erleichtert bei Mini-Häppchen und Weißwein oder sitzt in Besprechungsräumen eines Tagungshotels inmitten einer deutschen Großstadt – und doch weltabständig – beisammen.
Win-Win-Situation
An den noch verbleibenden Terminen für die 13. EKD-Synode in den Jahren 2025 und 2026 lässt sich wohl nichts mehr ändern. Aber für die neue Legislatur ab 2027 sollte die Synode ihren Termin ändern. Das hat sie nicht einmal zu Corona-Zeiten 2022 und 2023 gemacht, als Tagungen im späten Herbst zu Hochrisikoveranstaltungen wurden. Aber es wird Zeit. Und es ist auch möglich, die Synodaltagung vielleicht nicht gleich zwei Monate, aber doch zwei Wochen vorzuziehen.
Dann könnten all die Bischöf:innen, die sich die Evangelische Kirche in steigender Zahl gönnt, die Kirchenpräsident:innen, Superintentend:innen, Pfarrer:innen, Journalist:innen und Synodalen statt sich in Würzburg, Dresden oder Bremen gegenseitig der Wichtigkeit des Gedenkens zu versichern, tatsächlich vor Ort und in der Fläche das Gedenken anführen und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Aufmerksamkeitssteuerung in unserer Gesellschaft leisten.
Dafür würde ich es sogar in Kauf nehmen, auf einer Synodentagung von einem Gedenktagspodium aus nicht mehr von einem westdeutsch-bräsigen Politiker darüber aufgeklärt zu werden, dass am 9. November 1989 die Bürger:innen der DDR die Deutsche Einheit erwählten. Eine Win-Win-Situation.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de