„Entkoffeinierte Andere“

Reaktionen auf Jantine Nierop (III): Der Streit um das Geschlecht
Fahne
Foto: epd-bild/Christian Ditsch

Die scheinbare Eindeutigkeit, die Jantine Nierop in Bezug auf das biologische Geschlecht in zz 11/2024 an den Tag legt, ist nach Meinung des Theologen Frank Mathwig für den innerkirchlichen Diskurs ungeeignet. Er verkörpert eine hegemoniale Undurchlässigkeit, die evangelischer Freiheit zuwiderläuft.

O mein Leib, sorge dafür, 
dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!»

Frantz Fanon[1]

«Man ist und fühlt, von wo aus man denkt.»
Walter D. Mignolo[2]

I. Beim Umgang mit Konflikten kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen einem «objektiven» Zugang, bei dem die Ursachen und Wirkungen des Konflikts analysiert, seine Genese rekonstruiert und kontextualisiert und mögliche Lösungen entwickelt und evaluiert werden, und einem «subjektiven» Zugang, bei dem der Konflikt adaptiert und zum Anlass für eine Selbstreflexion über die vertrauten Konfliktreaktionen und -bearbeitungsweisen wird. Die handelnden Personen verorten sich im ersten Fall außerhalb des Konflikts, im zweiten Fall im Konflikt selbst. Janine Nierop wechselt in ihrem Beitrag «Streit um die Queer-Theorie»[3] zwischen beiden Standpunkten, indem sie einerseits ihre Beteiligung an dem Konflikt thematisiert und andererseits ihre eigene Haltung aus der Beobachter:innenperspektive mit Hinweisen auf «wissenschaftliche Grundlagen» und «die «Wissenschaft» begründet.[4] Im Folgenden geht es nicht um Nierops Aussagen, sondern um eine epistemologische Re-Konstruktion des Konflikts, der in ihre Bemerkung mündet: «Kirche könnte hier Eigenes einbringen, das dem Menschen hilft: Du bist als Mann oder Frau geschaffen, aber das sagt nichts über deine Persönlichkeit aus. Wir müssen wieder lernen, dass manche Dinge einfach so sind, wie sie sind.»[5] Was als Zugeständnis gemeint ist, bestätigt ein systemisches Unverständnis, das symptomatisch ist für ein selbstgenügsames Denken. 

II. Das selbstgenügsame Denken entspricht grob dem Bild in der Scherzfragewie viele Sprossen ein Matrose, der auf einer an der Schiffsreling befestigten Strickleiter mit einem Sprossenabstand von 30 cm Abstand kurz über der Wasseroberfläche steht, hochsteigen muss, wenn der Meeresspiegel um zwei Meter ansteigt. Immunitas – Egal, wie dramatisch der Pegel der gesellschaftspolitischen Herausforderungen anschwillt, die Personen auf der Strickleiter müssen nichts unternehmen, um trockene Füsse zu behalten. Würden die Akteur:innen umgekehrt ihre Standpunkte aufgeben, riskieren sie nicht nur, nass zu werden, sondern auch, dass ihre Positionen untergehen. Am Ende des Bildes stehen die Macht des Schiffs und der Personen auf der Strickleiter und die Ohnmacht derjenigen, die in der Realität schwimmen.

In dem Bild geht es nicht um christliche Seenotrettung oder um die fromme Resilienz von Noah in der Arche oder auf dem «Schiff, das sich Gemeinde nennt», sondern um die soziale Konstruktion von Erkenntnis und die Funktionsweise des «Denkkollektivs» Kirche. Der Mikrobiologe Ludwik Fleck definiert ein «Denkkollektiv» als eine diskursive und kommunikative Gemeinschaft, die Trägerin eines Wissens- oder Kulturbestands ist, der den Denkstil festlegt. Ein «Denkstil» richtet die Wahrnehmung aus, legt fest, was als relevantes Problem, evidentes Urteil und angemessene Methode gilt, und entwickelt subtilere und gröbere Beharrungstechniken gegen Kritik, Irritationen und Widersprüche. Das Denkkollektiv funktioniert wie eine normative und hoch selektive Brille, durch die Subjekte auf die Welt schauen, auf sie einwirken und die eigenen Weltwahrnehmungen und -erfahrungen deuten.[6]

III. Ambivalenzerfahrungen sind der Elchtest für einen auf Klarheit, Korrespondenz, Kohärenz und Orientierung zielenden Denkstil. Ambivalenz ist das Kennzeichen christlicher Existenz (in spe nondum in re; simul iustus et peccator[1]). Kirche und Theologie kennen die Misere des Paulus nur zu gut: «Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.» (Römer 7,19) Auffällig ist, dass Paulus zwar am Guten scheitert, nicht aber an der Frage nach dem Guten, die vom Ambivalenzdispositiv ausgenommen wird. Er setzt voraus, was in Kirche und Theologie später zum ernsthaften Streitfall wird. Die Gewalt hinter der Idee von der Einheit des Guten zeigt sich darin, wie schwer sich Kirche (abgesehen von der Eschatologie) mit dem Gedanken tut, dass es auch anders sein könnte. Nicht nur, dass «das Gute» anders definiert werden könnte (das ist in der Kirchen- und Theologiegeschichte immer wieder passiert), sondern dass es vielleicht keine einzige und einheitliche Definition des Guten gibt und geben muss und dass möglicherweise Kirche und Theologie gar nicht (so genau) darum wissen können und müssen und dass Kirche vielleicht intensiver (andere) nach dem Guten fragen sollte, anstatt Antworten zu geben.

Sternstunden der Kirchengeschichte waren häufig Konstellationen, in den Denkkollektive aufgebrochen wurden, mit den verpönten Mitteln der Häresie, Delinquenz, Subversion, des Protests, Widerspruchs und Widerstands. Dieser Kraft verdanken die reformatorischen Kirchen ihre Existenz und darin bestätigt sich die pneumatologische Generalprämisse: «Geht nicht, gibt’s nicht!» Nüchtern betrachtet, gilt die kirchliche Subversionsaffinität (Calvin: peregrinatio[2]) in unseren Breiten eher auf dem Papier: in den biblischen Schriften, den kirchlichen Bekenntnissen und Bekenntnisschriften und in den Manifesten kirchlich-theologischer Aufbrüche. Die Kirchenzeugnisse thematisieren je auf ihre Weise den notorisch verdrängten Zusammenhang, dass zum Glauben neben Glaubens- auch Kirchenzweifel gehören, weil Glaubensgewissheit nicht zuletzt in der Freiheit zum Zweifel an der Kirche zum Ausdruck kommt und weil Kirche nur in diesem Selbstbefremden ihrer eigenen Botschaft treu bleibt, dass wir «hier keine bleibende Stadt [haben], sondern die zukünftige suchen» (Hebräer 13,14).

IV. An dieser Stelle setzen feministisch-, gender- und queer-theologische Konzepte an, indem sie die Perspektiven «Frau», «Geschlecht», «Trans»/«Queer» als Fragestruktur oder -dispositive an die kirchlich-theologischen Debatten herantragen. Frauen, Personen mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierungen und diversen Geschlechtsidentitäten sind nicht neu, auch nicht in der Kirche. Aber sofern und weil sie dem heteronormativen, binär-essentialistischen und cisgeschlechtlichen Paradigma widersprechen, werden sie auf den Status von «entkoffeinierten Anderen» (Slavoj Žižek) reduziert. Wie Kaffee ohne Koffein oder Bier ohne Alkohol werden sie als Menschen angesprochen, bei denen von allem abstrahiert wird, was sie als Personen in ihrer körperlichen Integrität und leiblichen Identität ausmacht, sofern es mit dem Menschenbild des Denkkollektivs kollidiert. 

Die programmatische Diskriminierung wird kaschiert durch die Rede vom Abstraktum «Mensch» anstelle von diesem Menschen als konkrete Person. Die Differenz ist fundamental: «Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches, irdisches Produkt».[7] Hannah Arendt bestreitet nicht die Geschöpflichkeit von konkreten Menschen, sondern markiert den prekären Übergang zwischen Aussagen über den abstrakten Menschen-im-Singular und Aussagen über die konkreten Menschen-im-Plural. Der Mensch-im-Singular aus dem schöpfungstheologischen Sprachspiel lässt sich nicht in das gesellschaftstheoretische Sprachspiel von den Menschen-im-Plural verschieben, in dem sie unter den normativen Begriff der Person gefasst werden. Genau diese Person ist das an Freiheit, Rechten und Würde gleiche Mitglied der Menschheitsfamilie in den Menschenrechten. Die Gleichheit an Freiheit, Rechten und Würde realisiert sich nichtdiskriminierend (ein Menschenrecht!) nicht im Abstraktum «Mensch», sondern ausschließlich in der Person als Körperindividuum in ihrer spezifischen Differenziertheit, insbesondere ihrer Geschlechtsidentität.[8] Das Geschlecht des abstrakten Menschen ist die Phantasie eines Naturalismus oder «Kontingenzexorzismus»[9] des es-ist-einfach-so-wie-es-ist, der nicht nur nichts in gesellschaftlichen Zusammenhängen entspricht, sondern die die politischen und sozialen Dimensionen von Geschlecht – sein konstitutives Eingebundensein in Herrschafts- und Unterdrückungsgeschichten – vollständig ausblendet. Geschlecht ohne Gesellschaft ist ein Phantom.

V. Das Problem steckt tiefer. Der theologische Denkstil des Denkkollektivs Kirche lässt sich nicht durch einige semantische Umstellungen oder Ergänzungen korrigieren oder der neuen Situation anpassen. Es wäre zynisch, den genannten Personen und Gruppen eine Addition oder Komplettierung von Geschlechtsbegriffen, sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten anzubieten. Denn die institutionelle Gestalt der Kirche und die theologischen Systeme, Topoi und Praktiken wurden nicht nur (weitestgehend) ohne diese Personen und Gruppen entwickelt, konzeptionalisiert, etabliert und praktiziert, sondern auch dezidiert gegen sie. Wohlmeinende Korrektur- und Öffnungsbemühungen müssen um der Sache willen zurückgewiesen werden, weil sie dem fatalen Irrtum aufsitzen, es handele sich lediglich um in der Vergangenheit entstandene oder übersehene Leerstellen im kirchlich-theologischen Text und nicht um bewusste und absichtliche, dem Denkstil geschuldete Durchstreichungen. Die Perspektiven von Frauen, Personen mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierungen, Trans- und Queer-Personen fehlen nicht nur im Text, sie wären auch – hätten sie den Anspruch erhoben, aufgenommen zu werden – herauszensiert worden. Deshalb steckt nicht viel Zuspitzung in der Feststellung, dass es keine gemeinsame Tradition gibt, auf die sich Kirche heute berufen kann, sondern eine paradigmatische Kirchen- und Theologiegeschichte und eine Schattenkirchen- und theologische Unsichtbarkeitsgeschichte. 

Die Bemerkung, dass Personen mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierungen und mit diversen Geschlechtsidentitäten im theologischen Denkstil und im Denkkollektiv Kirche nicht vorkommen, muss präzisiert werden. Der Vorwurf, dass Kirche Menschen ausschließt, trifft nicht zu. An die Stelle treten subtile Mechanismen «barmherziger Diskriminierung», die Moral dort aufrufen, wo die Rechte der Person auf dem Spiel stehen, und die pathologisieren, ohne Güte und Benevolenz zu entziehen. Der Preis für die paradoxen Strategien ist die Atomisierung der betroffenen Personen. Sie erscheinen als Wesen ohne Biographie und Identität, genau genommen sogar ohne Selbsterleben, weil ihnen die Neutralisierung der konkreten Person als abstrakter Mensch ernsthaft zugemutet wird.

Kirche und Theologie sind mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert: (1.) Ein bias[10]- und Repräsentanz-Problem: Der selektive Zugang und die einseitige Repräsentanz im Denkkollektiv Kirche erzeugen systematische Denkstilverzerrungen in den Gottes-, Selbst- und Weltwahrnehmungen und ihren Deutungen, die sich im Denken und in den Praktiken reproduzieren. (2.) Ein opacity- oder Intransparenz-Problem: Die exklusiven Zugangsbedingungen theologischer Diskurse haben einen Denkstil (Lehren, Dogmen, Bekenntnisse) hervorgebracht und verfestigt, der gar nicht anders kann, als kritische Impulse von exkludierten Personen und Gruppen reflexartig zurückzuweisen oder systematisch zu nivellieren. Das ist keine böse Absicht von Diskursbeteiligten, sondern – weitaus gravierender – die erwartete und erwartbare Normalität: Wer dazu gehört, findet grosso modo sich und das eigene Weltbild repräsentiert und bestätigt, wer nicht dazu gehört, sucht sich und die eigene Lebensrealität darin vergeblich.

VII. Angesichts der genannten Schwierigkeiten drängt sich die Frage auf, ob den Diskursen über Geschlechtsorgane, -merkmale, -determinanten, -identität, -ordnung, geschlechtliche Selbstbestimmung, Geschlechterdual, biologisches und soziales Geschlecht etc. nicht zu viel Gewicht gegeben oder zu viel zugemutet wird. Die Frage wäre berechtigt, wenn das Thema von außen an Kirche und Theologie herangetragen worden wäre. Aber es gehört ins Zentrum ihres Selbstverständnisses und Denkens. Dass die genannten Personen und Gruppen (neben anderen) nicht in ihrem Text vorkommen, ist das Ergebnis kirchlich-theologischer Identitätspolitik. Dem Denkkollektiv Kirche ist eine «hegemoniale politische Identität»[11] eingeschrieben, die aufgrund ihrer hegemonialen Stellung unsichtbar bleibt. Damit bestätigt sie im Umkehrschluss die gendertheoretische These der Relationalität von Geschlecht,[12] weil das Geschlecht verschwindet, sobald es aus der Relationalität extrahiert, die Relationalität also aufgehoben und als absolute Geschlechtsidentität gesetzt wird. 

Nierops Beitrag steht für die irrtümliche Unterstellung eines offenen Diskurses, in dem sie an den gemeinsamen Denkstil appelliert, den es nicht gibt, weil die Gegenseite an seiner Konstituierung nicht beteiligt war. Die Aufforderung zur Anerkennung dessen, was so ist, wie es ist, läuft deshalb auf die Fortschreibung des hegemonialen Denkstils hinaus. Damit rückt die postkoloniale Gretchenfrage «Wer spricht?» (Gayatri Chakravorty Spivak) ins Zentrum, mit der Kirche eigentlich viele gute Erfahrungen gemacht. Sie korrespondiert den kirchlichen Artikulationsformen des Betens, Bekennens und der Verkündigung (die weniger Rede, als invertiertes Hörerlebnis ist). Zwar wird für andere gebetet und verkündigt und vor anderen bezeugt, aber niemals über andere gebetet, verkündigt oder bekannt. Die 3. Person-Perspektive, die Grammatik von Diskriminierung, Ausgrenzung, Rassismus und Ignoranz, kommt darin nicht vor. Dagegen muss die 1. Person-Perspektive, wie bereits Hiob erfuhr, erst energisch erkämpft werden: «Ertragt es, dass ich rede, [...] Wendet euch zu mir und erstarrt und legt die Hand auf euren Mund!» (Hiob 21,3a.5)

Den Text „Streit um die Queertheorie“ von Jantine Nierop aus zeitzeichen 11/2024, auf den sich unser Autor bezieht, finden Sie hier. Weitere Texte dazu finden Sie hier und hier


 

[1] Deutsch: In der Hoffnung, nicht in der Realität: Sünder und Gerechter zugleich.

[2] Deutsch: Reise, Wallfahrt.


 

[1]     Frantz Fanon, Schwarze Haut, weisse Masken, Wien 2013, 197.

[2]     Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012, 99.

[3]     Vgl. Jantine Nierop, Streit um die Queer-Theorie. Die Geschichte einer Theologin in Heidelberg: zeitzeichen 11/2024, 15–17.

[4]     Nierop, Streit, 16.17.

[5]     Nierop, Streit, 17.

[6]     Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/M. 1980. Flecks Modell dient als Heuristik zur (funktionalen) Rekonstruktion der Struktur eines Konflikts und der Verortung der Konfliktparteien. Es geht nicht um Kirchentheorie, -geschichte oder die Darstellung und Kritik empirischer Sachverhalte. 

[7]     Hannah Arendt, Was ist Politik?: dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, Zürich 2003, 9.

[8]     Vgl. Volker Schürmann, Die Wirklichkeit der Konstruktion – am Fall geschlechtlicher Personalität: Jonas Barth/Anna Henkel (Hg.), Leib. Grenze. Kritik. Festschrift für Gesa Lindemann zum 66. Geburtstag, Weilerswist 2022, 300–310 (301f.).

[9]     Schürmann, Wirklichkeit, 305.

[10]    Deutsch: Voreingenommenheit.

[11]    Mignolo, Ungehorsam, 118 (Fn. 66).

[12]    Vgl. Petra Gehring, Wer hat Angst vor genauer Lektüre? Warum sowohl Judith Butler als auch Kathleen Stock für feministische und für queere Debatten wichtig sind: Jahrbuch Sexualitäten 2023, 140–149 (140).

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