Etikettenschwindel

Reaktion auf Jantine Nierop (II): Eine naturwissenschaftliche Perspektive
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Foto: epd-bild/Christian Ditsch

Jantine Nierop interpretiert in ihrem Text Streit um die Queer-Theorie den Cass-Review des britischen Gesundheitsministeriums über die Behandlung so genannter genderinkongruenter Kinder falsch. Das meint der Theologe Alexander Maßmann. 

Wenn Menschen sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren als dem, das bei Geburt zugewiesen wurde, finden viele es befremdlich, dass eine elementare, scheinbar objektive Kategorie des alltäglichen Erlebens ins Wanken gerät. Ist die Welt nicht schon kompliziert genug? Andererseits erleben viele Menschen, die ihr biologisches Geschlecht als das „falsche“ wahrnehmen, gravierende seelische Belastungen. Kann hier eine hormonelle Behandlung helfen, mit der Transpersonen ihren Körper an das empfundene Geschlecht angleichen möchten? Meiner Meinung nach hilft unsere traditionelle Wahrnehmung des binären Geschlechts dabei, sich mit geringerem Aufwand in der Welt zurechtzufinden. Ob diese Wahrnehmung der geschlechtlichen Wirklichkeit der Menschen entspricht, ist aber eine andere Frage.

 

Jantine Nierop äußert sich in ihrem Zeitzeichen-Artikel sehr kritisch zu diesen Fragen. Sie meint unter anderem: Ein „hoher Prozentsatz“ der Kinder, die sich vom ursprünglich zugewiesenen Geschlecht abwenden, würden eigentlich ihre Homosexualität verdrängen. Sie seien nicht trans, sondern würden durch einen Geschlechtswandel die Heterosexualität anstreben. Nierop behauptet, das sei ein Ergebnis eines prominenten wissenschaftlichen Berichts, des Cass-Reviews. Das ist jedoch Etikettenschwindel. Außerdem meint sie, „immer mehr kritische Studien“ würden zeigen, dass eine Hormonbehandlung das Suizidrisiko bei Transpersonen nicht mindere. Auch das ist ein Irrtum. 

 

Aus theologisch-ethischer Sicht wären zahlreiche Aspekte zum Thema „trans“ anzusprechen. Ich beschränke mich hier auf naturwissenschaftliche Gesichtspunkte in Nierops Artikel. Zu den Konflikten in der Gemeinde, die sie ebenfalls darstellt, kann ich mich nicht äußern, da ich damals nicht vor Ort war. Insgesamt eignet sich jedoch das angesprochene Cass-Review zur Versachlichung der Debatte. Die englische Pädiaterin Hilary Cass hat ihren wissenschaftlichen Bericht[1] im April 2024 veröffentlicht. In der deutschsprachigen christlichen Ethik wird diese differenzierte, gut informierte Publikation noch nicht rezipiert. Doch Cass stützt keineswegs Nierops Homosexualitätsthese. In der Frage wiederum, ob Hormonbehandlungen das seelische Befinden verbessern, äußert sich Cass mehrdeutig. Doch die Hormonbehandlung ist anscheinend besser, als Cass meint.

 

Der Auslöser: Die Tavistock-Klinik. Von 2013 bis 2016 stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen steil an, die sich an den „Gender Identity Development Service“ der Londoner Tavistock-Klinik wandten. Die jungen Menschen gaben an, sie würden eine Geschlechtsinkongruenz empfinden. An der Klinik legte man vielen jungen Menschen eine hormonelle Transition nahe, oft nach nur kurzer Beratung. Viele erhoffen sich von den Hormonen eine Milderung der seelischen Belastung, die das Leiden am „falschen“ Körper bedeutet und die oft Suizidgedanken mit sich bringt. Da die Londoner Klinik aber wichtige Sorgfaltspflichten verletzte, beauftragte das britische Gesundheitswesen Cass mit einem Bericht. Ihre Frage lautet: Welche Maßnahmen sind bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz wissenschaftlich zu empfehlen?

 

Gegen die Homosexualitätsthese: Nierop gibt vor, sich auf Cass’ Bericht zu stützen, wenn sie die Selbstbeschreibung als trans bei einem „hohe[n] Prozentsatz“ von Kindern mit verdrängter Homosexualität erklärt. Cass verweist einmal (S. 188) auf die hier relevante Online-Umfrage[2] aus den USA. 100 Personen gaben an, sie hätten eine Geschlechtsanpassung vorgenommen, und davon schrieben 23, sie führen das inzwischen auf damalige Vorbehalte gegenüber ihrer Homosexualität zurück. Cass weist darauf hin, dass die Angaben anonym gemacht wurden. Sie erwähnt nicht, dass die Angaben nicht mit anonymisierten Dokumenten abgeglichen wurden (sollte man alle Aussagen für bare Münze nehmen?) und dass die Autorin der Studie eine repräsentative Bedeutung der Zahlen bestreitet. Nierop wiederum verschweigt, dass die Befragten ausgewählt wurden, weil sie angaben, sie hätten sich für eine „Detransition“ entschieden: Sie haben mit der Einnahme von Geschlechtshormonen aufgehört oder hatten eine Operation, die die ursprüngliche Transition rückgängig machen sollte. Cass schätzt die Zahl derer, die das tun, als gering ein, obgleich steigend. Es wäre aber sinnvoll gewesen, hätte Cass entgegen der Tendenz ihrer Darstellung erwähnt, dass viele – 25 oder mehr – mit der Detransition keineswegs das binäre, bei der Geburt zugewiesene Geschlecht als Resultat anstrebten. Außerdem spielten auch Diskriminierungserfahrungen eine Rolle.

 

Bei dieser Studie geht es um Teilmengen von Teilmengen. Die besagten 23 Individuen repräsentieren nicht 23 Prozent aller „Detransitionisten“, und noch weniger stehen sie für 23 Prozent der jungen Menschen mit medizinischer Transition. Nimmt man zu ihnen noch die jungen Transpersonen ohne medizinische Transition hinzu, sind die 23 erst recht nicht repräsentativ. In einer ähnlichen, größeren Umfrage, die Cass ebenfalls darstellt, kommt Homosexualität nicht vor, ebenso wenig wie in der Auswertung von 40 Detransitionen an der Tavistock-Klinik. Das Stichwort Homosexualität fällt in Cass’ 26-seitiger Zusammenfassung ihres Review nicht. Die Homosexualitätsthese als ernsthafte Erwägung oder gar Ergebnis des Berichts auszugeben, ist Desinformation. Dass Transpersonen sich für ein Coming Out deutlich mehr Zeit nehmen als Schwule oder Lesben, spricht außerdem gegen die Homosexualitätsthese.

 

Der jeweilige Einzelfall: Immer wieder insistiert Cass, man müsse den Kindern und Jugendlichen als Individuen gerecht werden. Man darf sie nicht über einen Kamm scheren. Sie erklärt ihren Respekt gegenüber Menschen, die sie interviewt hat und bei denen sie keineswegs am Sinn der Geschlechtsangleichung zweifelt, im Gegenteil. Von anderen berichtet sie, sie hätten sich in der früheren Beratung eine kritische Perspektive gewünscht. Deshalb bemängelt Cass, dass die Londoner Spezialisten vielen proaktiv eine Hormonbehandlung nahelegten. Die bezeichnet sie als experimenteller Natur.

 

In ihrer Übersicht zur Forschung äußert sich Cass teils auffällig skeptisch, teils aber auch vorsichtig aufgeschlossen zur hormonellen Behandlung. Nehmen Kinder Pubertätsblocker ein, ist laut Cass allgemein gesprochen keine längerfristige Verbesserung der seelischen Gesundheit zu erhoffen. Mit längerfristigen körperlichen Beeinträchtigungen aufgrund von Pubertätsblockern sei zu rechnen. Zugleich aber sieht Cass durchaus Indizien dafür, dass die Vergabe von Geschlechtshormonen das psychische Wohlbefinden von Transpersonen verbessert („suggestive evidence“). Darüber, ob sich andererseits die psychische Belastung von Transpersonen bessert, wenn sie keine Medikamente erhalten, liegen laut Cass keine Daten vor. Beachtlich: Insgesamt mag für manche eine Hormonbehandlung trotz allem angezeigt sein, so Cass – mit „extremer Vorsicht“ sogar mit Pubertätsblockern im Kindesalter. Andererseits gibt Cass besonders zu bedenken, dass manche später von einer frühen Identifikation als trans wieder deutlich Abstand nehmen. Wenn aber junge Menschen einmal Hormone einnehmen, würden sie sie in der Regel nicht mehr absetzen.

 

Kritik an Cass: Die Ansicht, immer mehr Studien würden belegen, die Hormonbehandlung senke das Suizidrisiko nicht, ist ein Irrtum.[3] Cass stützt diese Aussage zwar teils, aber teils auch nicht. Doch Wissenschaftler kritisieren in renommierten Fachzeitschriften, dass Cass relevante Studien herabstuft, wenn sie nicht einem bestimmten, methodisch besonders anspruchsvollen Design entsprechen. Doch bei solchen „kontrollierten“ Studien müsste man einigen Probanden Placebos statt Hormone geben. Das sei bei Suizidgefahr nicht verantwortbar. Also hätte Cass unter anderem die bis dato größte Studie aus einer renommierten Fachzeitschrift würdigen sollen, die eine deutliche Verbesserung des seelischen Befindens bei Jugendlichen nachweist, die mit Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen behandelt wurden.

 

Ausblick: Cass’ Kritik überzeugt, dass das britische Gesundheitswesen bei Selbstbeschreibungen der Geschlechtsinkongruenz zu oft zu schnell eine Hormonbehandlung nahegelegt hat. Doch man darf nicht kurzschlüssig für das andere Extrem Partei ergreifen, das die Selbstidentifikation als transgender pauschal kritisiert. Das sind die beiden Seiten des „culture war“, vor dem Cass deutlich warnt. Sie selbst fordert nachdrücklich, jeweils die einzelne Person zu betrachten. Dem ist nun hinzuzufügen: Gibt sich die Pauschalkritik künstlich den Anschein der Wissenschaftlichkeit, dann kann auch die wissenschaftliche Expertise an Vertrauen verlieren. Damit kann niemandem gedient sein.

 

Den Text „Streit um die Queertheorie“ von Jantine Nierop aus zeitzeichen 11/2024, auf den sich unser Autor bezieht, finden Sie hier. Weitere Texte dazu finden Sie hier und hier

 


 

[1]      Hilary Cass, Independent review of gender identity services for children and young people. Final report, 2024, https://cass.independent-review.uk/.

[2]      Lisa Littman, Individuals Treated for Gender Dysphoria with Medical and/or Surgical Transition Who Subsequently Detransitioned, Archives of Sexual Behavior 50 (2021), 3353–69, 3364, https://epov.short.gy/d5uwfL.

[3]      Vgl. hier und im Folgenden: S. L. Budge u.a., Gender Affirming Care Is Evidence Based for Transgender and Gender-Diverse Youth, Journal of Adolescent Health 75 (2024), 851–53, https://epov.short.gy/N8Yeme; X. Lopez und L. Kuper, Large study on hormone therapy for transgender youth provides reassurance amid treatment politicization, Nature Reviews Endocrinology 19 (2023), 319–20, https://epov.short.gy/hkxg8L; D. Doyle u.a., A systematic review of psychosocial functioning changes after gender-affirming hormone therapy among transgender people, Nature Human Behaviour 7 (2023), 1320–31, https://epov.short.gy/dyYbOn.

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