Das Messer erlernen

Fanny und das Schächten

"Frauen in Männerberufen“ finden mittlerweile viele gut, das Schächten immer weniger. Fanny Kajsman steht für beides, ist aber eine literarische Gestalt. Sie ist die Hauptfigur des abgründigen und oft krachend komischen Romans Fannys Rache. Er spielt 1894 im Ansiedlungsrayon, dem im heutigen Polen, Belarus und der Ukraine liegenden Schtetl-Gebiet, wo es im Zarenreich dem Gros seiner jüdischen Bevölkerung einzig zu leben erlaubt war. Allerdings sah der Staat Pogrome an den gut fünf Millionen Juden dort gern und stachelte auch dazu an. Keine 50 Jahre später brachten Deutsche sie fast alle um... .

Schächter-Tochter Fanny ist mehrfache Mutter und lebt dort mit einem Hirten auf dem Dorf unter Gojim, von der Gemeinde im nahen Städtchen Motele dafür beargwöhnt. Schon als Kind galt sie als wilde chaje, etwa so viel wie Göre oder Wildfang. Die Halbverwaiste hatte ihren eignen Kopf. Und sie will „das Messer erlernen“. Nach viel Quengeln und Fragen beim Rebbe, ob Frauen dies dürften, bringt der Vater ihr dann das Schächten bei und sie es darin zu bestaunter Kunst. Sie wird zur Attraktion der Gegend, lässt das Handwerk nach einem Vorfall aber sein, doch trägt sie seit dem Tod des Vaters sein Messer griffbereit unterm Rock am Bein. Ihre ältere Schwester Mende wollte indes immer nur das Eine: traditionell Mutter sein. Doch weil deren Mann nach Minsk verschwand, hockt sie nun ohne Scheidebrief, also ohne Aussicht auf neue Bindung, mit den Kindern ungelitten in der Hütte der Schwiegereltern in Motele. 

Fanny bricht heimlich nach Minsk auf, um Mendes Scheidebrief zu erzwingen. Der schweigsame Fährmann Cicek, einst von der Gemeinde als ärmster Leute Kind der Zwangsrekrutierung ausgeliefert, zieht abseits der Wege mit ihr los, da Juden sich nicht frei bewegen dürfen. Wegelagerern entgehen sie dennoch nicht. Ihn schlagen sie nieder, Fanny wollen sie vergewaltigen. Sie zieht erstmals das Messer. Drei kunstgerecht geschächtete Leichen alarmieren indes die Ochrana, die zaristische Geheimpolizei, die überall Spitzel gegen Aufruhr hat. Hier leitet sie der Ex-Offizier Pjotr Novak, der den Rayon-Argonauten rasch auf die Spur kommt. Ein Gegenspieler, der den Zynismus des Systems durchschaut, jedoch loyal ist. Der Faszination der Frau mit dem Messer erliegt er aber doch. Showdown ist in Minsk, der Epilog auf Moteles Henkplatz sorgt aber für Überraschungen.

Begnadeter Erzähler

Der mitreißende, stimmungsdichte Roman grenzt ans Epos. Yaniv Iczkovits (* 1975) glänzt als begnadeter Erzähler. Geschult an Bashevis Singers Schtetl-Romanen und an Gogol (die ebenfalls, nur anders geschundenen Gojim sind echt, keine Klischees), verbindet er Road-Trip-Abenteuer und historisches Setting furios. Schlüssig greift dabei die Handlung räumlich (New York, Palästina) und zeitlich weiter aus, zurück zum Krim-Krieg und einmal nach vorn: „Die Welt steht auf der Schwelle zum Übergang, und was sich in den letzten Wochen ereignet hat, ist nichts, verglichen mit dem, was kommen wird.“ Fannys Rache erlaubt unterhaltsam mehrere Lesarten – nicht zuletzt die emanzipatorische. 

Trotz konkreter Verortung hat der Roman aber im Grunde eine mythologische Struktur, wie Jakob Hessing in der FAZ zutreffend zeigte. Fanny ist daher nicht nur eine umwerfende, sympathische Frau, sondern auch Kulturheroin, die neues Terrain erschließt. Die Kritik der patriarchalischen Blindstellen hängt ebenso daran wie die unbeabsichtigte Aktualität des Romans: Das Original erschien 2015, lange vor dem Massaker vom 7. Oktober, doch die Zeitläufte haben es eingeholt. Bewegend ist insofern am Rande, dass Iczkovits Offizier einer IDF-Spezialeinheit war, jedoch den Dienst in besetzten Gebieten – darunter damals noch der Gaza-Streifen – verweigerte und deshalb in Haft kam. 2023 kehrte er zur Armee zurück und sagte auf Fragen zu israelischer Mitschuld am Massaker strikt, dafür gebe es keine Entschuldigung. Gar keine.

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