Poetisch

Über Krieg und Unterdrückung

Was für ein Buch! Nur selten gelingt es einer Autorin/einem Autor, so glaubhaft, überzeugend und wahrhaftig das komplexe Seelenleben ihrer Protagonisten auszuleuchten, wie der vergleichsweise jungen Niederländerin Wytske Versteeg. In ihrem neuen Roman Die goldene Stunde erzählt die 41-Jährige die Geschichte dreier Menschen, deren Schicksale auf besondere Weise miteinander verknüpft sind: Neben Mari, einer niederländischen studierten Archäologin und Sozialarbeiterin, ist da Ahmad, ein Geflüchteter, der in den Niederlanden Schutz vor Krieg und Unterdrückung sucht. Und dann ist da noch Tarik, den Mari kennenlernt, als sie sich auf der Suche nach dem plötzlich verschwundenen Ahmad in dessen Heimatland begibt – unter dem Vorwand, Höhlenmalereien zu erkunden.

Tarik hat eine ganz andere Geschichte als Ahmad: Er stand als Soldat im Dienste des Gewaltregimes und war an Folterungen und Morden in einem von dessen Straflagern beteiligt. Er ist ein schwacher Mensch. Seine Taten sind noch längst nicht verarbeitet, als er Mari als Fahrer zu den Orten begleitet, an denen sie ihre Forschungen aufnehmen will. Zugleich dient er ihr als Übersetzer der schriftlichen Aufzeichnungen, die Ahmad nach seinem plötzlichen Verschwinden in der Wohnung, die er zusammen mit Mari bewohnt hat, zurückgelassen hat. Für Mari wird Tarik zum Brückenbauer zu ihrer verlorenen Liebe Ahmad.

Dabei währte die Liebesbeziehung zwischen Mari und Ahmad nur kurz: Zu groß war die Fremdheit, das gegenseitige Nichtverstehen – trotz bester Absichten. Gering ist die Zahl der Momente von echter Nähe und Geborgenheit, die Zahl der „goldenen Stunden“.

Einsamkeit als tragendes Thema

Einsamkeit ist denn auch das tragende Thema des Buches. Jede der drei Figuren ist auf sich gestellt, jede auf ihre Art heimatlos. Und das, obwohl die Schrebergartenanlage mit einem Treffpunkt für Geflüchtete, in dem sich Ahmad und Mari kennenlernen, doch „Paradies“ heißt …

Zu der Einsamkeit und inneren Verlorenheit der Protagonisten kommen bei Ahmad die äußere Heimatlosigkeit, die Fluchterfahrungen, der Verlust seiner Familie und seiner kulturellen Wurzeln – wo auch immer die sein mögen. Denn auf eine konkrete geografische Zuordnung verzichtet Versteeg. Das Land, aus dem Ahmad kommt, könnte Syrien sein. Aber das müssen die Leserinnen und Leser nicht wissen. Im Gegenteil: Es ist gerade dieser Verzicht, der ihre Geschichte so glaubhaft macht, weil im Mittelpunkt menschliche Erfahrungen stehen, die nur zum Teil an einen Ort und eine Zeit gebunden sind.

Politische Botschaft

Insofern ist das Buch kein im engen Sinne politisches Buch. Dennoch hat es eine politische Botschaft: Es schildert nicht nur die Unterdrückungsmechanismen eines Gewaltregimes, sondern auch die Lage der Menschen, die davor nach Europa fliehen. Und es benennt die Grenzen des individuellen und staatlichen Einsatzes für Geflüchtete ebenso wie die Verlogenheit Europas, dessen Länder die Waffen liefern, mit denen Unschuldige getötet werden. Viele Europäer, so lässt Versteeg Ahmad sagen, schienen davon auszugehen, „dass wir als Asylbewerber geboren worden sind“, sie hätten keine Ahnung davon, „was wir zurückgelassen haben“. Wie wahr!

Wytske Versteeg ist eine Autorin, deren Namen man sich merken muss. Für zuvor erschienene Romane und Essays wurde die studierte Politikwissenschaftlerin bereits mehrfach ausgezeichnet. Die goldene Stunde, das nach Boy zweite auf Deutsch erschienene Buch aus ihrer Feder, darf man mit Fug und Recht als ein großes Stück Gegenwartsliteratur bezeichnen. Es steckt voller Wissen, Weisheit, Einfühlungsvermögen und nicht zuletzt voller poetischer Sprachkunst. Es ist sicher kein Buch für den Massenmarkt, aber eines, das die Mühe lohnt weiterzulesen – trotz eines etwas schwierigen Einstiegs. Dank an den Wagenbach Verlag und an die Übersetzerin Christiane Burkhardt, dass sie diese Schriftstellerin dem deutschen Publikum bekannt gemacht haben.

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