Vermächtnis

Bach und sein Schlüsselwerk

Ein Buch ist dies, das sich liest, wie Salvador Dalís Bild „Tête Raphaëlesque éclatée“ sich zeigt, 1951, sechs Jahre nach Hiroshima entstanden: eine Maria Raffaels, egal ob „Madonna im Grünen“ oder „Madonna mit dem Stieglitz“, im Moment ihrer Sprengung: Unzählige Fragmente streben auseinander, lassen das einst Ganze aber noch ahnen, während sie im nun geöffneten Schädel die Kuppel des Pantheons offenbaren, die römische Architektur der Götterversammlung. Welten, die vergehen und genau deshalb wirken.

Der Autor dieses Buchs, Eberhard Geisler, Romanist und Germanist, christlich und progressiv aufgewachsen, hermeneutisch und interdisziplinär unterwegs, schreibt nicht nur, wie Dalí malt: eine Unzahl kürzerer und längerer Gedanken, locker mit Stichwortanschluss verbunden und sinnig mit Sternchen voneinander getrennt, ein assoziativer Gedankenwirbel also, der im Lauf des Gelesenwerdens auch ein kongeniales Abbild seines Themas erschafft.

Kantor Bach muss sich von König Friedrich das Thema Regium anhören und soll darüber improvisieren. Was daraus entsteht, ist das „Musikalische Opfer“ (1747), mit der „Messe in h-moll“ (1749) und der „Kunst der Fuge“ (1746) Bachs musikalisches Vermächtnis. Ebenso rezeptive wie kreative Improvisationen hier wie dort. Bach improvisiert über Friedrich, Geisler über Bach, und ich?

Geisler nimmt mich mit auf eine schweißtreibende Bergtour, und immer wieder mal tritt er, ein Bergwanderer, als sein eigener Gedanke biografisch und poetisch in Erscheinung, als wäre er, Interpret der dargelegten Ideengeschichte, selbst ihr jüngster Protagonist.

Ein ästhetisches Zeitbild entsteht; wie in Dalís Bild eine Epoche zugleich ihre Vollendung findet: die Antike in der Renaissance, und ihre Sprengung erfährt: den Untergang einer Welt wie jener mit Hiroshima, so findet in Bachs Werk die Musik der Renaissance, des punctus contra punctum, zu ihrem Höhepunkt wie zu ihrer Sprengung. Nie würde jemand die Kontrapunktik eines Bachs erreichen oder überbieten, ein ewiger Gipfel, aber aus ihren frei flottierenden Bruchstücken würden viele nach Bach anverwandelnd neue Musik erschaffen, bis hin zu Schönberg, Webern und Dessau. Indem der Maestro in Leipzig tut, was der Mo­narch in Potsdam befiehlt, weist er aber nicht nur ästhetisch über sich und seine Epoche hinaus, sondern bringt dem Herrscher more aesthetico auch die Endlichkeit seiner Art des Herrschens zu Ohren.

Ein politisches Zeitbild entsteht: Geislers Verdienst ist die Modellierung von Epochen durch vielperspektivische Erhellung von Bezügen. Aus der Unzahl seiner reflektierenden Fragmente entstehen, während sich eigene Gedanken beim Lesen entwickeln, nicht nur ein Bild der Epoche, zu der das auslösende Ereignis vom 17. Mai 1747 in Potsdam gehört, sondern auch Bilder rezipierender Epochen nach Bach und Friedrich. Sie erweisen, wie sehr jener, der soli Deo gloria komponierte, mithin weder zur Glorifizierung des Königs noch des eigenen Genius, auf folgende Epochen wirkte, weil seine Haltung die wahrer Kunst war: semantisch und verweisend, horizontal in lebendige Zukunft statt vertikal in die eigene Versteinerung. Kontrapunktik und Polyphonie als verborgene Herrschaftskritik, das hat Sprengkraft, zumindest zeigen sie ästhetische Horizontalität statt politischer Vertikalität. Die vom König inszenierte Begegnung von Macht und Kultur wird von Bach quasi subversiv gemeistert. Er macht das Thema Regium zur inspirierenden Ahnung postfeudaler Zukunft.

Friedrich II. ist inzwischen versteinert, auf Potsdams Altem Markt und unter Berlins Linden, aber Bach lebt. Der eine hat seinen Gipfel der Macht erreicht und nicht mehr verlassen, der andere auf kommende Gipfel der Kultur verwiesen.

Beim Lesen befremdlich geblieben ist zweierlei, das sich zudem widerspricht. Einmal das vereinnehmende Wir professoraler Kanzelrede, das mich auf eine Entdeckungsreise mitzunehmen scheint, ohne dass ich je vorkomme: Kathederrhetorik alter Schule, immer wieder mit unterstellendem „bekanntlich“. Unnötig, denn ich lerne gerne. Ein andermal aber irritiert der Verzicht auf ausgerechnet das, womit sich Professoren alter Schule bis in orgiastische Redundanz steigern können: Fußnoten, Anmerkungen, Literaturverzeichnisse. Ich zweifle keine Sekunde an Geislers Sorgfalt des Zitierens, bedaure aber dies Verstecken seiner so akribischen Recherche. Wahrlich, ein homme de lettres.

Eberhard Geisler lichtet, erkennend und liebend, die Nebel. Nimm und lies. Bach lebt.

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