Inspirierend

Über das aktuelle Menschenbild

Giovanni Maio, einer der renommiertesten Medizinethiker in Deutschland, hat in der Vergangenheit wiederholt die Ökonomisierung des Gesundheitswesens einer scharfen Kritik unterzogen. In seinem neuen Buch Ethik der Verletzlichkeit entfaltet Maio nun die anthropologischen Grundlagen für sein Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie ihre Konsequenzen für Medizin und Politik. Denn aus seiner Sicht basieren die aktuell vorherrschenden Strategien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit auf einem Menschenbild, das sich nicht nur als zutiefst unrealistisch, sondern auch als gefährlich für das soziale Miteinander erweist. Es ist das Bild des Menschen als Urheber seiner selbst, der alles nur aus sich entwirft und der sich für alles, was in ihm vorgeht, als selbstursächlich ansieht. Dieses, den liberalen Individualismus leitende, Verständnis setzt Autonomie mit Autarkie gleich und blendet systematisch die sozialen Voraussetzungen von Selbstbestimmung, nämlich Angewiesenheit auf andere, aus.

Tatsächlich steht in der Entwicklung des Individuums vor jeder Selbstbestimmung die Abhängigkeit von anderen. Die sich sukzessiv entwickelnde Autonomie ist die Frucht der Beziehungen, die mit dem heranreifenden Menschen eingegangen werden. Die Verletzlichkeit des Menschen ist eng verwoben mit dieser Angewiesenheit, ohne jedoch in ihr aufzugehen. Verletzlich ist der Mensch nicht nur im Verwiesensein auf andere, sondern ebenso in seiner Gebundenheit an den Leib, durch die stets mögliche Konfrontation mit Unverfügbarem und nicht zuletzt angesichts der Endlichkeit des individuellen Lebens. Als Paradigma der Verletzlichkeit kennzeichnet Maio die Scham und zeigt plastisch auf, wie in der Scham Verunsicherung, Erschütterung der Selbstachtung, Einsamkeit und Schutzbedürfnis zusammenkommen.

Die angemessene Antwort auf die Verletzlichkeit beschreibt Maio als Sorge. Anders als Heidegger versteht Maio mit Paul Ricœur unter Sorge das Streben nach dem Guten für den anderen und mit dem anderen, eine Haltung und ein Tun, das Verantwortung übernimmt, um die Wachstumspotenziale des anderen zu fördern. Wichtig ist Maio dabei der Unterschied zu einer Dienstleistung, die in der Anwendung von Regeln aufgeht: Sorge lebt vielmehr vom Sich-ansprechen-Lassen und Eingehen auf den unverwechselbaren Einzelfall. Umgekehrt führt ausbleibende Sorge dazu, dass die inhärente Verletzlichkeit in gesteigertem Maße manifest wird. Deshalb muss der Appell an Eigenverantwortung ins Leere laufen, wo geeignete Strukturen der Sorge und Befähigung fehlen.

Auf dieser Linie entfaltet Maio ein Verständnis von Autonomie, das Verletzlichkeit gerade nicht als Hindernis, sondern vielmehr als Ermöglichung von Autonomie begreift. Die jedem Menschen inhärente Verletzlichkeit wahrnehmen und annehmen, sozial und situativ bedingter Verletzlichkeit mit (Für-)Sorge und unterstützenden Strukturen begegnen, so lässt sich der Kern der darauf aufbauenden Ethik beschreiben. Dass sie keine Kasuistik mit regelhaft ableitbaren Normen enthält, ergibt sich aus ihren Voraussetzungen.

Im Blick auf Medizin und Gesundheitspolitik erneuert Maio sein Plädoyer gegen eine von falschen monetären Anreizen getriebene Medizin, die Vulnerabilität nicht als Teil des Menschseins betrachtet, sondern mit dieser Kennzeichnung einzelne, ohnehin benachteiligte Gruppen als zur Selbstfürsorge unfähig aussondert. Daraus folgt auch eine kritische Sicht auf einzelne Maßnahmen während der Corona-Pandemie.

Beim Lesen des klar gegliederten, flüssig geschriebenen Buches ist unschwer zu entdecken, wo Maio den gedanklichen Spuren von Emanuel Lévinas und Paul Ricœur folgt und sie weiterführt. Dabei hat der Arzt und Philosoph Maio stets die Zusammenhänge von anthropologischen Leitbildern und gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick, mit ihren Folgen insbesondere für Menschen, die in Gefahr stehen, aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu geraten. Auch wenn Maio sie kaum explizit macht, sind die Gemeinsamkeiten mit einem christlichen Verständnis der conditio humana offenkundig. Eine inspirierende Lektüre, nicht nur für Menschen im Gesundheitswesen.

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