Kompendium

Über das Altern

"ALTERN wird wahrscheinlich bald HEILBAR“ – erstaunlich zahlreich fanden sich vor der Europawahl in diesem Sommer Plakate mit diesem Slogan. Wenn auch nicht ernst zu nehmen, zeugten sie doch davon, dass das Altern heute ein ebenso großes wie ungeliebtes Thema ist. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter in einer Gesellschaft, die dem Ideal der Jugendlichkeit anhängt. Vielfach wird von Anti-Aging-Methoden berichtet: Alle möchten alt werden, ohne dabei zu altern.

Der emeritierte Theologieprofessor Christian Grethlein will dem Verdrängungszwang wehren und klarstellen, dass das Alter ernst genommen werden muss als eine wichtige Lebensphase der Entschleunigung, des Aufhörens und der möglichen spirituellen Öffnung. Gerade so, meint er, könnten die Alternden bedeutsam wirken in einer Zeit, die von zunehmender Beschleunigung und dem Prinzip „Immer mehr“ geprägt ist und die angesichts der ökologischen Krisen das Umdenken dringend lernen muss. Er möchte, dass die Kirche über die betreuende Seniorenarbeit hinaus sich dem Umgang mit dem Alt-Sein und Alt-Werden eingehender zuwendet, das heißt, sich einerseits um die Inklusion auch hochaltriger Menschen kümmert, andererseits Bewusstsein schafft für die Bedeutung der Endlichkeit des Lebens.

Ausgiebig widmet er sich in seiner knapp gehaltenen Abhandlung zunächst der Information über die gegenwärtige Altersforschung, die er systematisch unter acht Perspektiven zusammenfasst – von historisch über pflegerisch und psychologisch bis sozial. Das liest sich nicht so übersichtlich, wie es wohl gemeint ist, denn immer wieder irritieren die Gewichtungen, die Grethlein vornimmt. Manche Stichworte wie etwa die Gerotranszendenz, also die spirituelle Öffnung, oder das Konzept der Caring Community werden nur gestreift. Dagegen bekommen die Altersstatistiken, die Phasen der Demenzerkrankung und vor allem das veränderte Zeitempfinden im Alter viel Raum.

In einem zweiten Teil fragt Grethlein nach dem Alt-Werden in biblischer Per­spektive. Er stellt fest, dass das Altern in der Bibel kein großes Thema ist – damals wurden die meisten Menschen eben noch nicht so alt. Das Gebot, die Eltern zu ehren, immerhin kann ausgelegt werden im Blick auf die gesellschaftliche Pflicht zur Versorgung der Alten, was angesichts zunehmender Altersarmut von Bedeutung sein wird. Und die wiederholte Ermahnung in der Weisheitsliteratur, gerade angesichts der Eitelkeit alles Bestehenden das Leben zu genießen, sollte aufs Neue bewusst machen, dass Lebensgenuss mit dem Wissen von Endlichkeit verbunden ist.

In seinen abschließenden handlungsorientierenden Überlegungen legt Grethlein wiederum Gewicht auf das veränderte Zeitempfinden älterer Menschen, die – so heißt es hier – nicht mehr „nach der Uhr“ leben. Er wertet das als lebensfreundliche Alternative zur heute dominanten Beschleunigung und empfiehlt darum, die noch aktiven Älteren nicht zu einem fixen Zeitpunkt in den Ruhestand zu entlassen, sondern ihnen vielmehr eine „Ruhetätigkeit“ zu ermöglichen, zumal ihre Arbeitsfähigkeit künftig gebraucht werden wird. Für die Hoch­altrigen wiederum sollten Wohnformen und (kirchliche) Betätigungsfelder gefunden werden, die ihnen weitgehende Selbstständigkeit ermöglichen. Schließlich müsse das Sterben als ein wichtiger natürlicher Prozess ernst genommen werden, der möglichst weder durch lebensverlängernde Maßnahmen noch durch beschleunigte Beendigung beeinflusst werden sollte. Darum brauche es sehr viel mehr Hospize.

Insgesamt bietet Grethlein ein dichtes Kompendium zum Thema Altern, reich an Informationen und Denkanstößen, gewiss hilfreich für alle, die mit alten Menschen arbeiten und/oder sich einen Überblick über das Thema verschaffen wollen. Keine gute Idee wäre es aber, dieses Buch etwa alten Eltern zu Weihnachten zu schenken. Es fehlt ihm, was es doch empfiehlt: Bedachtsamkeit.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Angelika Obert

Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"

Weitere Rezensionen