Trotz alledem
3. ADVENT, 15. Dezember
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.(Römer 15,13)
Hoffnung setzt den Glauben, das Vertrauen darauf voraus, dass Veränderungen selbst dann möglich sind, wenn man sie für unmöglich hält. Das ist der Kern des christlichen Glaubens an Gott, wie er sich an Ostern manifestiert.
Aber den Glauben können Menschen so wenig machen wie die Hoffnung. Vielmehr werden beide erst möglich „durch die Kraft des Heiligen Geistes“ (Römer 15,13). Und dieser wirkt zum Beispiel durch die Heilige Schrift. So erinnert Paulus seine Mitchristen in Rom daran, dass sie durch „den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Römer 15,4). Und da es noch kein Neues Testament gibt, meint er natürlich das Alte Testament.
Dort verheißt das Micha-Buch, dass „in den letzten Tagen … mächtige Nationen … ihre Schwerter zu Pflugscharen machen“ und sie „hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Micha 4,1-3). Bis heute hat sich diese Vision nicht erfüllt. Aber in der DDR erfüllte sie Christen mit der Hoffnung, dass man etwas gegen die Militarisierung der Gesellschaft durch die SED tun konnte.
1957 hatte ausgerechnet die religionsfeindliche Sowjetunion der UNO eine Skulptur geschenkt, die einen Mann zeigt, der ein Schwert zu einem Pflug umschmiedet. Ein Abbild davon nähten sich Jugendliche in der DDR ab 1980 auf ihre Parkas (oder „Kutten“, wie sie sagten). Und dieser Ausdruck des Protestes war mit anderen Aktionen ein Beitrag zum Sturz des SED-Regimes 1989. Aber der Heilige Geist weckt Hoffnung nicht nur durch die Zukunftsvisionen der Bibel, sondern auch durch Menschen, die gegen die Mehrheit ihrer Zeitgenossen für Humanität eintreten. Das taten zum Beispiel der durch die Quäker beeinflusste Anglikaner Thomas Buxton und der durch den Methodismus geprägte Anglikaner William Wilberforce. In Großbritannien gründeten sie 1823 mit anderen Frauen und Männern die „Gesellschaft gegen die Sklaverei“. Sie wollten eine Institution abschaffen, obwohl diese in der Bibel nicht grundsätzlich abgelehnt wird.
Gottes Mühlen
4. ADVENT, 22. Dezember
Maria sprach …. Er (Gott) hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leerausgehen. (Lukas 1,49–53)
Viele Bilder und Skulpturen in Kirchen, die bis zur Reformation römisch-katholisch waren oder es heute sind, zeigen Maria als eine anmutige, mitunter naiv wirkende junge Frau. Und in der römisch-katholischen Volksfrömmigkeit wird sie als „Gottesmutter“ verehrt und als Fürsprecherin bei Gott angerufen. Ein anderes Bild entsteht, wenn man den Lobgesang Mariens liest, das „Magnifikat“, das am 4. Advent auf den Kanzeln vieler evangelischer Landeskirchen Deutschlands ausgelegt wird. Und noch eindrücklicher wirken die revolutionären Worte, wenn sie gesungen werden. Das geschieht beim Choral Evensong, den in England anglikanische Kathedralen und Colleges in Cambridge und Oxford fast jeden Tag pflegen.
Das Magnifikat, das nur das Lukasevangelium überliefert, zeigt, was den Gott Israels – und damit die Jüdin Maria und ihren Sohn Jesus – auszeichnet. Er ist barmherzig – und gerecht. Und das Magnifikat erinnert an den Lobgesang der Hanna in 1. Samuel 2,1–10: Danach hebt Gott „den Armen auf aus dem Kot, um ihn neben Edle zu setzen. Und einen erhabenen Thron teilt er ihnen als Erbbesitz zu.“
Seit einigen Jahren ist in vielen Ländern eine politische Verrohung zu beobachten. An die Macht kommen – auch durch demokratische Wahlen – notorische Lügner, Hassprediger und Rechtsbrecher. Und der Übergang von der Demokratie zu autoritärer Herrschaft oder Diktatur wird fließend. Aber auch diese Machthaber stößt Gott eines Tages „vom Thron“. Er inspiriert und ermutigt Menschen, sich den Narzissten und Autokraten zu widersetzen. Und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies immer wieder von Erfolg gekrönt wird. Aber Gottes Mühlen mahlen oft langsam. Daran erinnert der Choral Rudolf Alexander Schröders (EG 378): „Es mag sein, dass Frevel siegt, wo der Fromme niederliegt. Doch nach jedem Unterliegen wirst du den Gerechten sehn lebend aus dem Feuer gehn, neue Kräfte kriegen.“
Gute Werke
HEILIGABEND (Christvesper), 24. Dezember
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell … Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter. (Jesaja 9,1+5)
Das große Licht, das Jesaja erwartet, spiegelt sich für Christen im Licht von Weihnachten, genauer: in Jesus Christus, dessen Geburt gefeiert wird. In seiner Verkündigung, seinem Leben und Sterben leuchtet auf, was Gott für alle Menschen will: dass ihr Leben von einem tiefen Vertrauen getragen wird und sie die Mitmenschen lieben wie sich selbst.
Das große Licht, das an Weihnachten aufscheint, erleuchtet auch Menschen, die mit dem christlichen Glauben wenig und nichts anfangen können. So ist zu erklären, dass in der Advents- und Weihnachtszeit mehr für wohltätige Zwecke gespendet wird als sonst im Jahr. Und selbst in stark säkularisierten Ländern berührt das Christfest viele Leute. In Deutschland sind die Heiligabendgottesdienste gut besucht. In Großbritannien trifft das auf die Carol Services zu. Diese Gottesdienste, in denen gemeinsam gesungene Advents- und Weihnachtslieder (Englisch: carols) und Lesungen aus der Bibel einander abwechseln, sind sehr populär.
In deutschen Kirchen werden diejenigen, die nur an Heiligabend den Gottesdienst besuchen, mitunter als „Weihnachtschristen“ abgetan. Stattdessen sollten sich diejenigen, „die mit Ernst Christen sein wollen“ (Luther), an die Bergpredigt erinnern, die das Matthäusevangelium überliefert. Jesus spricht dort den Christen zu, dass sie „das Licht der Welt“ sind. Er erinnert daran, dass man ein Licht nicht anzündet, um es zu verbergen, sondern „auf einen Leuchter“ stellt, damit es allen leuchtet. So ermuntert Jesus uns: „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Blick zum Himmel
ALTJAHRSABEND, 31. Dezember
Mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen. (Jesaja 51,6)
An Ende dieses Jahres werden sich viele bange fragen, was das neue Jahr bringen wird für die deutsche Wirtschaft, die westlichen Demokratien, die Bevölkerung der Ukraine und den weltweiten Klimaschutz. Am 20. Januar wird in den USA ein notorischer Lügner, Hassprediger und Rechtsbrecher als 47. Präsident vereidigt. Und dass er den Eid mit der linken Hand auf der Bibel und den Worten „so wahr mir Gottes helfe“ (so help me God) bekräftigt, ist kein Grund zu Beruhigung. Denn das Zweite Gebot dürfte den Mann aus Florida genauso wenig scheren wie das 8. Gebot.
Nach der Bundestagswahl, die am 23. Februar stattfindet, wird wohl ein Demokrat Bundeskanzler werden. Immerhin. Aber wer weiß, wie stark die Geistesverwandten der US-Republikaner im neuen Bundestag vertreten sind?
Nun kann man darauf hinweisen: „Was der Mensch sät, das wird er ernten“ (Galater 6,7). Aber was die Menschen säen, die Hassprediger wählen, müssen leider auch diejenigen ernten oder ausbaden, die hellsichtig waren und ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger gewarnt hatten. Und es trifft auch Leute anderswo.
„Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut auf die Erde“, fordert Jesaja 51,6 auf. Wohlgemerkt, der Blick „gen Himmel“ und „auf die Erde“ ist miteinander verwoben. Das heißt: Diejenigen, die an den Gott glauben, der die Juden aus der Sklaverei in Ägypten befreit und Jesus auferweckt hat, wenden ihren Blick nicht von der Erde ab. Aber sie starren nicht wie das Kaninchen auf die Schlange, wenn sie in der Nähe und Ferne Unrecht und Elend sehen. Vielmehr blicken sie auch (!) darüber hinaus. So entdecken sie schon in der Gegenwart Zeichen und Kräfte, die ein besseres Morgen verheißen. Das ist ein gutes Vorzeichen für ein glückliches, gesegnetes neues Jahr. Und es ist Anlass für den Vorsatz, sich politisch zu engagieren, in einer demokratischen Partei, Bürgerinitiative oder Nichtregierungsorganisation.
Kein Besitzanspruch
2. SONNTAG NACH WEIHNACHTEN, 5. Januar
Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. (1. Johannes 5,12)
Der Gott Israels offenbart sich Mose als der, der die Israeliten „aus der Ägypter Hand“ retten und sie ins gelobte Land führen will. Aber nach seinem Namen gefragt, antwortet Gott nur: „Ich bin, der ich sein werde.“ Er offenbart sich also und entzieht sich zugleich. So schärft Gott den Israeliten ein, sich von ihm „kein Bildnis“ zu machen (2. Mose 20,4). Aber die Unsichtbarkeit halten sie nicht aus. Daher machen die Israeliten ein Goldenes Kalb (2. Mose 32). Es soll „die Götter“ darstellen, die sie angeblich „aus Ägyptenland geführt haben“.
Die Reformatoren fürchteten die Neigung des Menschen, sich Gottes und Jesu Christi zu bemächtigen. Deswegen kritisierte Martin Luther die römisch-katholische Auffassung, dass der Priester Brot und Wein in den Leib Christi verwandelt, indem er die Worte von der Einsetzung des Abendmahls spricht, und dass die Hostie auch nach der Messe Leib Christi bleibt und verehrt wird. Und die Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin befürchteten, dass sich Menschen Gottes bemächtigen, indem sie ihn bildlich darstellen.
Das Wort „haben“ in 1. Johannes 5,12 kann als „besitzen“ missverstanden werden. Und dann wird übersehen, dass die Getauften natürlich (zu) Jesus Christus gehören, er ihnen aber nicht gehört. Wer sich auf Jesus Christus ein- und von ihm berühren lässt, bekommt ein Leben, das mehr ist als das bloße Existieren, solange das Herz schlägt. Das Leben, das Jesus Christus verheißt, ist nicht statisch, sondern lebendig. Daher müssen sich Christen immer wieder fragen, was das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe in ihrer Zeit bedeutet. In den Dialog mit der Heiligen Schrift werden sie daher eigene Erfahrungen und Einsichten einbringen und die von Müttern und Vätern im Glauben. Und dann muss jede Generation von Christen ihr Leben gestalten, zum eigenen Wohl und dem der Nächsten nah und fern.
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".