Eine schwierige Koexistenz
Der ursprüngliche Lebensraum des europäischen Urvolkes der Sámi ist Norwegen, Schweden und Finnland bis zur Halbinsel Kola in Russland. Im Zentrum sámischer Kultur steht immer noch das Rentier. Rentierzucht benötigt viel Gelände, und das wird knapp. Seit einiger Zeit auch durch Windenergieprojekte, wie die Journalisten Jane Tversted und Martin Zähringer feststellten.
Die Großstadt passt nicht unbedingt zur nomadischen Kultur der Sámi, aber es hat schon viele Familien aus dem europäischen Urvolk in die norwegische Metropole Oslo verschlagen. Die meisten sind seit Generationen assimiliert, aber ihre Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft war problematisch, für viele sogar traumatisch. Es ist ein kollektives Trauma, das erst seit wenigen Jahren aufgearbeitet wird, wie in vielen anderen Ländern mit indigener Bevölkerung durch eine Wahrheits- und Versöhnungskommission. Das Stichwort heißt „Norwegisierung“, und im offiziellen Kommissionsbericht von 2023 gestehen Kirche und Staat ihre Verantwortung für die systematische Diskriminierung der Sámi ein.
Lars Johannes spielt Fußball mit den Rentieren.
Der ursprüngliche Lebensraum des europäischen Urvolkes der Sámi ist Norwegen, Schweden und Finnland bis zur Halbinsel Kola in Russland. Die Sámi dieser Länder haben verschiedene Sprachen und unterschiedliche historische Erfahrungen als Minorität, die von der jeweiligen Dominanzkultur geprägt sind.
Die Sámi beklagen den erzwungenen Verlust ihrer kulturellen Identität. Sie sprechen nicht mehr Sámisch, leben nicht mehr autonom auf sámischem Gebiet und haben keine direkte Beziehung zur Rentierzucht mehr. Dabei ist diese Tradition, wie der sámische Historiker Mikkel Berg-Nordlie meint, der Kern der sámischen Kultur. Er vergleicht sie mit dem geschützten innersten Bereich einer Burg, der auch langen Belagerungen standhalten kann: „Da, wo es noch Rentierzucht gibt, da hat die sámische Kultur überlebt.“
Vitale Kultur
Und das könnte in Norwegen durchaus eine vitale Kultur sein, denn 40 Prozent des gesamten norwegischen Territoriums sind als Rentiergebiet ausgewiesen. Es ist in verschiedene Weidedistrikte aufgeteilt, und nur Sámi dürfen im Rentiergewerbe tätig sein. Sie erleben allerdings seit vielen Jahren eine stärker werdende Konkurrenz um das Land, neuerdings auch durch Windenergieprojekte. Die sámische Forscherin Eva Maria Fjellheim erklärt den Konflikt: „Die Windkraftwerke werden auf großen Höhen aufgestellt, weil es dort starke Winde gibt. Aber diese starken Winde blasen auch den ganzen Schnee und das Eis weg und machen es für die Rentiere leichter, Nahrung zu finden.“ Wo aber Windkraftwerke stehen, können die Rentierhirten nicht mehr ohne Weiteres arbeiten, das ist dann Privatbesitz. Und ohne Winterweiden gibt es Probleme.
So auch im Fall Fosen auf der norwegischen Halbinsel Fosen. Dort klagten die Betreiber von Europas größter Onshore-Windkraftanlage (278 Windturbinen) gegen zwei Sámigruppen, auf deren Winterweiden sie ihre Windkraftwerke gebaut haben. Die Kraftwerkbetreiber hatten das Land per Vorabgenehmigung enteignet, aber die Höhe der Entschädigung musste gerichtlich festgestellt werden. Die Rentierzüchter allerdings wollten gar kein Geld, sondern das Land zurück. Sie stellten die staatliche Konzession in Frage, und 2021, nach acht Jahren zeitraubenden Prozessierens, gab es schließlich ein Urteil des Obersten Gerichtshofes von Norwegen – die Konzession sei ungültig, weil sie das Recht der Sámi auf Ausübung ihrer traditionellen Kultur verletzte.
Jetzt erwarteten die Rentierzüchter den Rückbau der Anlagen, aber es geschah nichts, bis zwei Jahre später junge Sámi und Naturschützer in Oslo rebellierten. Sie besetzten Ministerien und lagerten vor dem Storeting. Sámi aus ganz Norwegen kamen nach Oslo, und selbst Greta Thunberg solidarisierte sich mit ihnen. Das ist der Fall Fosen, der zum sámisch-norwegischen Politikum wurde.
Die Künstlerin Ella Marie Haetta Isaksen im Sámischen Haus in Oslo.
„Die Sámi haben eigentlich nie groß rebelliert“, erzählt eine, die das durchaus im großen Stil tut, die Künstlerin Ella Marie Haetta Isaksen. „Sie haben sich an das System angepasst.“ Bei einem Gespräch im Oslo tingrett erklären sie und weitere jugendliche Aktivist:innen, warum sie die Geldbußen für die Räumung ein Jahr zuvor nicht bezahlen wollen. Ihr Motiv sei politisch, sie hätten kein Vergehen zu büßen, sondern nur ihre Bürgerpflicht erfüllt. Denn die Regierung habe nichts unternommen, um die gerichtlich festgestellte Menschenrechtsverletzung abzustellen. Und am Ende hätten ja auch erst die Proteste dazu geführt, dass Bewegung in die Sache kam und die Regierung sich entschuldigte.
Das Elsa Laula Renberg Institut ist ein autonomes Sámi-Forschungsinstitut. Mikkel Berg-Nordlie im Girjegumpi, einem vom bekannten sámischen Architekten und Künstler Joar Nango aufgebauten mobilen Amphitheater.
Ein sámisches Multitalent
Ella Marie Haetta Isaksen ist ein sámisches Multitalent in Aktion: Sie hat ein Buch über Sámisein in Norwegen geschrieben und ist in den Leitmedien zu sehen. Mit ihrer eigenen Band hat sie über 100 Konzerte gespielt, eine moderne Form des Joik, des traditionellen sámischen Gesangs, erschaffen.
Im Jahr 2021 hat sie gemeinsam mit anderen Sámi und der norwegischen Naturschutzjugend eine Kupfermine am ökologisch sensiblen Reppar-Fjord gestoppt. Sie gehört zu den aktivsten Umweltschützern in Norwegen und ist in Oslo mit ihren 25 Jahren das Gesicht der Fosenproteste.
Es war nicht das erste Mal, dass Sámi protestieren. Schon in den 1980er-Jahren gab es einen bedeutenden Energiekampf, als einer der wichtigsten Lachsflüsse der Sámi für ein Wasserkraftwerk gestaut werden sollte. Das Dorf Maze sollte im Wasser verschwinden, aber dagegen erhoben sie sich und gerieten teilweise in erbitterte Gefechte mit der Staatsgewalt. Am Ende versank Maze doch im Stausee, aber der Energiekampf am Alta-Fluss wurde zum Symbol für ein neues sámisches Selbstbewusstsein. Ella Marie Haetta Isaksen beschreibt in ihrem auf Norwegisch erhältlichen Buch Deshalb sollst du wissen, dass ich eine Sámi bin, wie sehr diese Bewegung sie geprägt und wie sie zu den Aktivisten emporgesehen hat.
Die Künstlerin, Dramaturgin und Theaterdirektorin Cecilia Persson.
Sie ist stolz, dass sie im ersten Spielfilm über den Alta-Konflikt die Hauptrolle spielen durfte, eine junge Lehrerin, die in die Aktionen verwickelt wird und ihre sámische Identität wiederentdeckt. (Ole Gjaever/Let the River Flow, 2023) Über 30 Jahre nach dem Ereignis bewirkte der Film bei vielen Norwegern ein Déjà-vu: „Ich denke, die Fosen-Aktion wäre vielleicht nicht so groß geworden, wenn der Film nicht zur gleichen Zeit ins Kino gekommen wäre. Die Leute hatten das Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt.“
Die Hamburger Aquila Capital Investment betreibt in Mosjöen ein Windkraftwerk mit 72 Großturbinen, um den Strom an die Aluminiumfabrik von Alcoa zu liefern.
Ella Marie Isaksen ist nicht die einzige, die als Künstlerin die sámische Sache vertritt. Bei einem Solidaritätskonzert für die Rentierzüchter von Fosen traten die bedeutendsten Joik-Interpreten Norwegens auf, die Kulturkirche St. Jakob in Oslo war voll, auf der Bühne ein Banner mit der Parole „Land Back“. Obwohl die Forderung radikal klingen mag, sind die Proteste in Oslo friedlich, wobei das lange Zeit verbotene Joiken jetzt eine offensivere Rolle spielt: „Wir benutzen es praktisch ganz offen bei den Protesten und als Waffe in unserem Kampf.“
Rentierzüchter in Mosjöen: Vater und Sohn Appfjell.
Provozierende Bilder
Engagierte Kunst zwischen Tradition und Moderne ist von großer Bedeutung für die Bewahrung sámischer Kultur. Auch Maler sind aktiv. Im Sámischen Haus in Oslo hängt ein großes Wandbild mit sámischen Sujets, Rentiere, Wälder, eine mystische Motivfigur im Schatten, im Vordergrund weiße Friedenstauben, die Handgranaten in einem Brustgurt transportieren. Es stammt von Anders Sunna, einem bekannten sámischen Maler aus Schweden.
Anders Sunna malt oft verstörend provozierende Bilder, und gerade darum hat die Stadt Oslo einen Beitrag für die öffentliche Debatte bei ihm bestellt. Nicht weit vom Sámischen Haus hängt ein großes Wandbild an der Fassade des historischen Elektrizitätswerkes: Links das auf dem Kopf stehende Schloss, daneben ein totes Rentier, in der Mitte im Vordergrund die Unterkörper von offenbar Erhängten mit sámischer Kleidung. Im Hintergrund Windturbinen, darunter eine Gruppe Sámi, mit Sturmhauben verhüllt, am Lagerfeuer. Titel: Blutrot ist das neue Grün.
Ersatz versprochen
Die Rentierzüchter von Fosen mussten sich am Ende mit den Windkraftbetreibern einigen, und der Staat verspricht Ersatzweideflächen. Indessen beginnt in Nordnorwegen ein neuer Prozess. Die Hamburger Aquila Capital Investment GmbH betreibt in Mosjöen ein Windkraftwerk mit 72 Großturbinen, um den Strom an die dort ansässige Aluminiumfabrik von Alcoa zu liefern, exklusiv und zum Festpreis für 15 Jahre. Die Rentierzüchter des Bezirkes Jillen Njaarke sind dagegen, es wird erwartet, dass der Prozess durch alle Instanzen geht. Jetzt ist die Rede vom Fall Öyfjellet.
Bei einem Solidaritätskonzert für die Rentierzüchter von Fosen traten die bedeutendsten Joik-Interpreten Norwegens
auf, die Kulturkirche St. Jakob in Oslo war voll, auf der Bühne ein Banner mit der Parole „Land Back“.
2024 war das nicht weit von Mosjöen in Nordnorwegen liegende Bodoe Kulturhauptstadt Europas, die Kultur der Sámi stand im Vordergrund. Dies war die perfekte Gelegenheit für einen solidarischen Einsatz des Elsa Laula Renberg Instituts, eines autonomen Sámi-Forschungsinstituts, das während der Oslo-Proteste von Mikkel Berg-Nordlie, Eva Fjellheim sowie Henrikke Ellingsen gegründet wurde. In Bodoe organisierten sie parallel zur dort stattfinden Jahreskonferenz der NAISA (North American Indigenous Studies Association) ein dreitägiges Programm zu Ehren der Rentierzüchter von Jillen Njaarke. In einem vom bekannten sámischen Architekten und Künstler Joar Nango aufgebauten mobilen Amphitheater (Girjegumpi) trafen sich sámische Künstler, Forscher, Rentierzüchter und Aktivisten am Lagerfeuer und tauschten sich über den Energiekonflikt in Norwegen aus. Da auch zahlreiche Gäste der NAISA-Konferenz erschienen, wurde im Lauf der Tage deutlich, wie das Stichwort „Grüner Kolonialismus in Norwegen“ in einer globalen Sicht auf indigene Energiekämpfe weltweit eine sehr tiefe Dimension bekommt.
Die Helgelandtreppe und die Elsa-Laula-Renberg-Statue in Mosjöen.
Im Girjegumpi trat auch die Künstlerin, Dramaturgin und Theaterdirektorin Cecilia Persson auf. Bei der Eröffnung der Kulturhauptstadt Bodoe 2024 wurde ihr Stück „Wem gehört der Wind?“ gespielt, eine Paraphrase auf Brechts Kreidekreis. Sie lud nach Mosjöen ein, wo wir den Prozess beobachten konnten. „Wir wollen ihr Geld nicht,“ sagt Cecilia Persson, die mit drei anderen Züchterfamilien des Jillen Njaarke Distrikts beklagt wird. „Nein, wir wollen, dass sie die Anlage schließen, damit wir uns traditionell mit den Herden in der Gegend bewegen können.“
Auch eine Ortsgruppe der norwegischen Windkraftgegner von Motvind (Gegenwind) war anwesend und bezeugte Solidarität. Sie führen weitgehend Naturschutzgründe gegen den Ausbau der Windenergie in Norwegen an. Es würden ja nicht nur Windturbinen aufgestellt, sondern felsige Landschaften dauerhaft für die Infrastruktur mit Straßen und Stromleitungen zerstört, durch Sprengungen und Einebnungen. Eine andere Motivation hat die ökotheologisch inspirierte Pastorin Gry Solbraa aus Mosjöen: „Wir haben vergangenes Jahr den Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission bekommen und erfahren, dass die Kirche der verlängerte Arm des Staates bei der Norwegisierung des sámischen Volkes war. Es ist also an der Zeit, dass wir auf die richtige Seite kommen und dass wir uns entschuldigen.“