Die Chance nicht verpassen
Immer mehr Kliniken und Einrichtungen schreiben sich Spiritual Care auf die Fahnen. Doch worin liegt der Unterschied zur kirchlichen Seelsorge? Nika Höfler ist Praktische Theologin und neue Beauftragte der bayerischen Landeskirche für Spiritual Care. Sie erläutert das Arbeitsfeld.
Spiritual Care – dieser Begriff taucht aktuell vermehrt in der inner- und außerkirchlichen Diskussion um Seelsorge im Gesundheitswesen auf. Spiritual Care präsentiert sich „modern“ und offen. Seelsorge, besonders kirchlich organisierte Seelsorge, scheint „out“ und längst überholt zu sein in einer Gesellschaft, in der nur noch die wenigsten Menschen (aktive) Mitglieder einer der großen christlichen Kirchen sind. So zumindest ein vordergründiger Blick.
Dabei ist nicht unbedingt klar, was genau mit der schillernden Bezeichnung Spiritual Care gemeint ist. Frei als „spirituelle Sorge“ übersetzt, kann der Begriff als solcher erst einmal nicht eindeutig definiert werden. Was also ist das eigentlich, was da scheinbar in jedem Krankenhaus, jeder Klinik, jedem Seniorenheim eingeführt, aber oftmals in seiner Tiefe gar nicht so recht reflektiert wird? Traugott Roser, Theologieprofessor an der Universität Münster, hat die Diskussion um Spiritual Care im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitbestimmt: Grundlage ist ein ganzheitlicher Ansatz. Spiritual Care wird verstanden als die Organisation gemeinsamer Sorge aller Gesundheitsberufe um die spirituellen Bedürfnisse von Menschen. Spiritual Care ist nicht allein Aufgabe von Seelsorge, sondern multiprofessionelle Aufgabe aller im Gesundheitssystem tätigen Menschen. Sie richtet sich in spiritueller und kultureller Offenheit an alle Patient*innen, sowie an deren An- und Zugehörige, und zudem an die Mitarbeitenden einer Einrichtung selbst.
Ihren Ursprung hat Spiritual Care im US-amerikanischen Raum im Umfeld der Hospiz- und Palliativversorgung. Für die Pflege Sterbenskranker sollten neben körperlichen, psychischen und sozialen Bedürfnissen der Menschen auch deren spirituelle Belange im Versorgungsprozess Beachtung finden. Die WHO folgte in den frühen 2000er-Jahren dieser Ansicht und nahm Spiritualität als Dimension des Menschseins auf, die berücksichtigt werden muss. Man kommt deshalb kaum umhin, sich bei der Thematik auch mit der Bestimmung des – ebenfalls sehr weiten – Begriffes der Spiritualität auseinanderzusetzen: Hier werden existentielle Fragen berührt, persönliche Werte und wie auch immer geartete religiöse Vorstellungen und Praktiken. Natürlich sind spirituelle Einstellungen höchst subjektiv. Sie müssen respektiert, können aber auf verschiedene Weise in Offenheit seelsorglich aufgenommen werden. Der Praktische Theologe Traugott Roser formulierte ganz treffend: „Spiritualität ist das, was der Patient dafür hält.“
Mittlerweile hat sich das Konzept der Spiritual Care in der Umsetzung im Gesundheitswesen, wenn auch leider fast ausschließlich im Palliativ- und Hospizbereich, als multiprofessionelle Aufgabe weitgehend etabliert. Oft, ohne dabei explizit (zum Beispiel in den Leitlinien der Einrichtung) benannt zu werden, schreiben sich glücklicherweise immer mehr Versorgungseinrichtungen ein ganzheitliches Menschenbild auf die Fahnen.
Hierzulande wird die Seelsorge im Gesundheitssystem jedoch fast weitgehend von hauptamtlichen Pfarrpersonen beider Konfessionen getragen; sie ist also grundsätzlich kirchlich organisiert. Die Kirchen bewegen sich innerhalb eines ihr eigentlich fremden Systems. Das birgt Chance und Risiken zugleich. Spiritual Care hat hierfür weitreichende Folgen.
Will man dieses Konzept breitenwirksam im Gesundheitssystem implementieren, kommen notgedrungen Fragen auf: Was bedeuten diese Entwicklungen für dezidiert kirchliche Seelsorge? Soll sie zugunsten einer vermeintlich weltanschaulich „neutralen“ spirituellen Begleitung abgeschafft werden? Welche Rolle haben die Seelsorgenden im Miteinander der kirchlichen und medizinischen Berufsgruppen, im interprofessionellen Versorgungsprozess? Und welche Aufgabe fallen dabei den Landeskirchen als Organisationen und nach wie vor Hauptverantwortlichen für die Seelsorge im Gesundheitssystem zu?
Die Kirchen allgemein und die Seelsorge im Besonderen sind auf vielfältige Weise herausgefordert: Es bedarf einer begrifflichen Klärung seitens der Kirchenleitung auf theoretischer Ebene, was Spiritual Care bedeutet. Zudem geht es praktisch um die Klärung des Verhältnisses von Spiritual Care und (Krankenhaus-)Seelsorge. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob Spiritual Care (kirchlich verantwortete) Seelsorge hinfällig macht oder abschaffen will.
Nein, auf keinen Fall. Vielmehr ist Spiritual Care eine große Chance, das Ansehen von Seelsorge (und damit auch von Kirche) im Gesundheitssystem nachhaltig zu stärken.
Seelsorge ist eine aus dem christlichen Glauben heraus motivierte Begleitung und damit ein Grundpfeiler des christlichen Glaubens. Sie kann Gott zu den Menschen bringen. Seelsorge ist Beziehung im Horizont des Glaubens. In der Begegnung mit Menschen ringen die Seelsorgenden um Lebensfragen. Natürlich ist Seelsorge dabei idealerweise ein offenes Angebot für alle Menschen mit ihren spirituellen Belangen und sollte sich unabhängig von Religion, Glaube oder Weltanschauung an jeden und jede richten, der oder die Begleitung braucht. Das tut sie in den meisten Fällen auch.
Offenes Angebot
Was aber das Besondere von Seelsorge im Gesundheitssystem ist: Sie ist einerseits fest eingebunden in ein multiprofessionelles Team und klar in der jeweiligen Einrichtung in Prozesse integriert und eingebunden. Hier sind Beziehungs- und Kommunikationskompetenz, aber auch unter anderen ethische und rituelle Fähigkeiten unabdingbar, damit ihr eigenes Profil in Abgrenzung zu den anderen Berufsgruppen sichtbar wird. Andererseits aber kann (kirchliche) Seelsorge einen unabhängigen, oft kritischen Blick von außen ermöglichen – und der darf nicht verloren gehen. Denn nur so kann Seelsorge die Spannung zwischen Macht und Ohnmacht mit den Menschen gemeinsam aushalten und in der Person der Seelsorgenden ansprechbar sein für das, was nicht gesagt werden kann. Seelsorgende sind Expert*innen für das Transzendente und Spirituelle. Seelsorge tut das ohne konkretes Behandlungsziel, sie kann frei und offen agieren. Damit wird sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil der ganzheitlichen Versorgung, bei der alle Belange der Menschen – körperlich, geistig, sozial und spirituell – berührt werden sollen. Seelsorge leistet einen zentralen Beitrag zu einem gelebten ganzheitlichen Menschenbild.
Es darf dabei trotzdem nicht vergessen (oder ausgeklammert) werden, vor welchen Herausforderungen die Kirchen dabei stehen. Spiritual Care bedeutet als seelsorgliche Kirche vor allem: viel Arbeit. Der Stand in der Gesellschaft und damit auch im Gefüge der gesundheitlichen Versorgung ist definitiv gefährdeter denn je. Kirche droht langfristig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Die evangelische Kirche tut deshalb gut daran, sich klar zu positionieren und sich mit Spiritualität und Spiritual Care in einer sich wandelnden und immer kirchenferneren Gesellschaft fundiert auseinanderzusetzen. Sie ist aufgefordert, sich ganz klar zu profilieren, präsent zu sein, abzugrenzen und deutlich zu machen, was Seelsorgende in der Versorgung als Berufsgruppe unverzichtbar macht. Zudem muss ihre Rolle in Bezug auf Spiritual Care geklärt werden, wenn sie Teil davon sein will. Nur dann hat Krankenhausseelsorge eine Zukunft.
Nicht zu leugnen ist: Die Gesellschaft wird immer älter, der Kontakt zur jüngeren Generation nimmt immer mehr ab. Die meisten Menschen sind bereits jetzt kaum noch christlich sozialisiert. Vielen sind die „kirchliche Sprache“ oder vermeintlich selbstverständliche und im Bewältigungsprozess oft zentrale Rituale wie Segen und Gebet nicht mehr vertraut oder stoßen sie vielleicht sogar ab.
Aber auch innerhalb des Systems der Krankenhäuser und Einrichtungen muss Seelsorge professionell agieren können: Die Arbeit in multiprofessionellen Teams setzt eine Auseinandersetzung mit neuen medizinischen, ethischen und theologischen Fragen voraus, zu denen sich Seelsorge klar verhalten muss. Konkret bedeutet das eine klare Profilierung von Seelsorge und entsprechende Qualifikation in diesem Bereich. Angebote zu medizinischen und kultursensiblen Themen werden unabdingbar sein. Da Spiritual Care aber Aufgabe aller Berufsgruppen ist, sind alle auf die fundierte und standardisierte Aus- und Fortbildung auch für nichtseelsorgliche Berufe angewiesen.
Flächendeckendes Netzwerk
Zusätzlich wird der Bereich der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) immer wichtiger: Die palliative Versorgung verlagert sich zunehmend von den Kliniken und Einrichtungen in die häusliche ambulante Pflege. Auch hier sollten Seelsorge und Spiritual Care in den Blick genommen werden. Für die Zukunft bräuchte es dafür ein stärkeres flächendeckendes Netzwerk, hier wurde bisher nur wenig unternommen. Diese gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungen setzen verstärktes Engagement an Forschung und am wissenschaftlichen, theologischen und inner- und außerkirchlichen Diskurs zwingend voraus.
Mit Blick auf all diese Entwicklungen und Herausforderungen geht es letztlich in Zukunft um kirchenleitende Entscheidungen, besonders darum, wo und mit welchen Schwerpunkten Kirche im Feld Spiritual Care wirksam und sichtbar sein möchte. Wenn die Fragen rund um diesen Bereich in Wissenschaft und Praxis nicht allein dem Gesundheitswesen überlassen werden sollen, muss die evangelische Kirche reagieren: Die Herausforderungen bezüglich Spiritual Care müssen wissenschaftlich und praktisch eingehend reflektiert, diskutiert und mit dem jeweiligen Berufsbild von Seelsorgenden und Pfarrpersonen in Relation gesetzt werden.
Deshalb ist es unabdingbar, dass die Seelsorge in ihrer Rolle durch Spiritual Care neu gestärkt werden muss. Sie ist eine große Chance: Spiritual Care will und wird Seelsorge nicht abschaffen oder verzichtbar machen. Sie ist fester Bestandteil ganzheitlicher Care im Gefüge der am Versorgungsprozess beteiligten Berufsgruppen. Seelsorge ist anders als die Arbeit der anderen Professionen, sie vereint religiöse, spirituelle und kirchliche Komponenten. Durch ihre besonderen Kompetenzen zeigt sie ein eigenes Profil und hat die Chance, sich fest als Teil des Versorgungsprozesses zu etablieren und im Gesundheitssystem zu behaupten. Seelsorgende müssen in der Lage sein, dieses Selbstverständnis von Seelsorge im berufsgruppenübergreifenden Behandlungsteam klar zu vertreten. Das setzt genaue Abgrenzung der Aufgaben, fortwährende Beziehungsarbeit, Transparenz und Kommunikation voraus.
Die kirchliche Seelsorge darf die Chance als Teil von Spiritual Care als zukunftsweisenden christlichen Beitrag im Miteinander der Professionen und Weltanschauungen nicht verpassen. Denn: Seelsorge weitet den Blick nach außen, kann Spiritualität Raum geben und transzendenten Horizont sichtbar machen, Ankerpunkt und Halt sein, wo Menschen vermeintlich an ihre Grenzen kommen, wo sich Verletzlichkeit auf allen Ebenen Bahn bricht und sich menschlicher Kontrolle entzieht. Sie kann so zu einer Genesung von Menschen auf ganzheitlicher Ebene beitragen. So kann (Krankenhaus-)Seelsorge im multiprofessionellen Zusammenspiel eine „spirituelle Lücke“ füllen, ohne dabei anderen Professionen und Gruppen deren Kompetenz abzusprechen, sie zu ersetzen oder singulär zu wirken. Dann nämlich ist Seelsorge als Teil von Spiritual Care in ihrer Besonderheit für eine ganzheitliche Versorgung unverzichtbar.
Nika Höfler
Dr. Nika Höfler ist Beauftragte der bayerischen Landeskirche für Spiritual Care in München.