Späte kirchliche Aufarbeitung
In der Novemberausgabe der zeitzeichen legte der Berliner Historiker Manfred Gailus dar, wie sich christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert zeigte und wie er den Boden für die Shoah bereitete. Hier widmet er sich der Nachkriegszeit.
Nach Hitler und Holocaust war der hybride christliche Antisemitismus nicht plötzlich fort. Gewiss, der explizit rassistische Antisemitismus der Deutschen Christen (DC), der erhebliche Verbreitung im „Dritten Reich“ gefunden hatte, war künftig in der kirchlichen Öffentlichkeit nicht mehr präsent. Ob er individuell tatsächlich überwunden war, ist eine andere Frage. Wo waren sie alle geblieben, die vielen Nazi-Pfarrer wie Joachim Hossenfelder, Karl Themel, Siegfried Nobiling, Johannes Schleuning? Und wie stand es um den Stoecker-Geist, jener tief verwurzelten religiösen Mentalität, die sich als kirchliche Grundprägung von langer Dauer erwiesen hatte? Der antisemitische Theologe Adolf Stoecker (1835–1909) war im deutschen Protestantismus Jahrzehnte lang sehr einflussreich gewesen. Schließlich der gewöhnliche theologische Antijudaismus, der seit jeher zum Kernbestand protestantischer Identität gehörte – war er nun, nach der Schreckenserfahrung der Hitlerzeit, plötzlich überwunden?
„Plötzlich“ ist ein Wort, das zu Kirchen wenig passt. Das zeigt schon die „Stuttgarter Schulderklärung“ vom Oktober 1945. Sie war wichtig und richtig, hatte aber zwei gravierende Defizite. Zum einen war sie in ihrer Diktion so abgefasst, als hätte es im Protestantismus des „Dritten Reiches“ allein die Bekennende Kirche (BK) gegeben: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Solche Worte mögen wohl auf jenes Viertel der Evangelischen zutreffen, die sich zur BK hielten, nicht jedoch auf die DC und die angepasste Majorität des mit dem Regime kollaborierenden Normalprotestantismus. Zum andern: Die „Stuttgarter Erklärung“ fand kein Wort zur Judenverfolgung, an der die Kirche in Teilen selbst beteiligt war. Die Schreckensbilanz lag jetzt für alle sichtbar zu Tage. In dieser Situation davon zu schweigen, war auch ein Statement.
Tübinger Theologenkreise
Während der Jahre 1946 bis 1948 unterstützte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, zugleich erster Ratsvorsitzender der EKD, den durch antisemitische Judenforschungen diskreditierten Tübinger Theologen Gerhard Kittel bei der Vorbereitung seines Entnazifizierungsverfahrens. In diesem Kontext verfasste er im April 1947 ein „Gutachten“ zugunsten Kittels. Es habe zum kirchlich-theologischen Lehrauftrag Professor Kittels gehört, die „göttlichen Ursachen der Verwerfung des Volkes Israel“ aufzuzeigen. Dieser Lehrauftrag sei begründet in den Stellungnahmen Jesu, seiner Apostel, der Kirchenväter und Synoden. Daher könne man Kittel und seinem Werk nicht eine „Verirrung“ vorwerfen oder ihn gar eines vulgären Antisemitismus bezichtigen. Und sei nicht die internationale Wertschätzung Kittels weit erhaben über Beschuldigungen, die diesen „Mann von Weltruf“ jetzt zum Handlanger eines Julius Streicher stempeln wollen? Tübinger Theologenkreise versandten im Oktober 1947 ein umfangreiches Entlastungsschreiben, worin sie Kittel „Widerstand im ausgeprägtesten Sinn“ bescheinigten, und zwar „auf dem gefährlichsten Frontabschnitt des weltanschaulichen Ringens im Dritten Reich, nämlich dem Gebiet der Judenfrage“.
Kirchlich tat man sich schwer mit dem Eingeständnis einer tiefen schuldhaften Verstrickung in den Antisemitismus der Hitlerzeit. Das zeigte sich besonders im Umgang mit schwer belasteten Theologen. Der „Fall Hoff“ spricht Bände. Der Berliner Nazi-Pfarrer und Propst Walter Hoff hatte sich in einem amtlichen Schreiben von 1943 gerühmt, im Kriegseinsatz eigenhändig bei der Liquidierung von Juden mitgewirkt zu haben. Im Spruchkammerverfahren wurde er 1949 unter Verlust der Rechte des geistlichen Standes zunächst aus dem Dienst entlassen. Die oberste Disziplinarinstanz der EKD in Bielefeld bestätigte in einer Berufungsverhandlung von 1952 diese Entscheidung. Seit 1953 mehrten sich jedoch in der Berliner Kirchenleitung die Stimmen, einem „reumütigen“ Sünder zu vergeben. Oberkonsistorialrat Friedrich Wendlandt und Bischof Otto Dibelius erklärten ihre Bereitschaft zur Rehabilitierung des mutmaßlichen Holocaust-Pfarrers. Durch Beschluss des Konsistoriums vom Februar 1957 erkannte die Kirchenleitung dem ehemaligen Propst wieder die Rechte des geistlichen Standes zu.
Nur wenige Stimmen sprachen in den frühen Nachkriegsjahren Klartext. Zu diesen Stimmen gehörte die Studienrätin Elisabeth Schmitz, die 1935 eine scharfsichtige Denkschrift gegen die Judenverfolgung verfasste und der BK zum öffentlichen Gebrauch übergab. Sie war gegen Kriegsende von Berlin nach Hanau zurückgekehrt und unterrichtete dort Deutsch, Geschichte und Religion am Mädchengymnasium. Anlässlich einer Gedenkfeier für die „Opfer des Faschismus“ hielt sie im September 1950 vor der Schuljugend einen bemerkenswerten Vortrag. Sie ging dabei vor allem auf die Judenverfolgung ein und nannte harte Fakten beim Namen: „Wir wissen von den 6 Mill. Juden, die von Deutschen ermordet wurden, das ist der 3. Teil aller in der ganzen Welt lebenden Juden gewesen.“ Es sei vielleicht das Verhängnisvollste der letzten fünf Jahre, meinte Schmitz, dass wir stets damit beschäftigt seien, uns selbst zu rechtfertigen und alle möglichen Entschuldigungen für uns zu finden. Wir, die Deutschen, hätten nicht mehr den Menschen gesehen, am allerwenigsten im Juden. Sie schilderte den jungen Schülerinnen die einzelnen Schritte der Ausgrenzung seit 1933: „Und schließlich kamen die Deportationen nach Polen, und das hieß: in den Tod. Es ist nicht zu sagen, welche Quälereien man sich ausdachte. Viele trieb es in den Tod, und das war ja erwünscht.“
Ein kirchliches Umdenken nach Hitler und Holocaust zum Themenkomplex „Juden und Antisemitismus“ brauchte Jahrzehnte. Initiativen zu einer Revision des christlich-jüdischen Verhältnisses kamen lange Zeit lediglich von Außenseitern, zumeist von jenen, die sich schon während des „Dritten Reichs“ für Verfolgte eingesetzt hatten. Lokale „Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“, die seit 1948 in München, Frankfurt, Berlin und anderswo entstanden, gingen hier voran. Es verstrichen fünf Jahre, bis die EKD-Synode in Berlin-Weißensee im April 1950 ein „Wort zur Judenfrage“ verabschiedete. Durch Unterlassen und Schweigen sei die Kirche mitschuldig „an dem Frevel [geworden], der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist“. Alle Christen seien aufgefordert, sich von jedem Antisemitismus loszusagen und ihm mit Ernst zu widerstehen.
Eine Generationenfrage
Ein rassistischer Antisemitismus im Stil der DC war seit 1945 kirchlich nicht mehr tolerabel. Aber wie stand es um den subtileren antijüdischen Stoecker-Geist, der als religiöse Mentalität tief eingewurzelt war? Er überdauerte offenbar die Zäsur von 1945 und wirkte in Spurenelementen noch bis in die 1960er-Jahre nach. Führende Kirchenmänner wie die Bischöfe Theophil Wurm, Hans Meiser und Otto Dibelius waren und blieben davon lebensgeschichtlich mitgeprägt. Die Ablösung des Nationalprotestantismus einschließlich der verinnerlichten Stoecker-Tradition war letztlich eine Generationenfrage und erfolgte erst seit Mitte der 1960er-Jahre, wobei nicht zuletzt der kritische Zeitgeist der allgemeinen Jugend- und Studentenrebellion eine Rolle spielte. „Unter den Talaren – Muff von 1 000 Jahren“, diese Studentenparole galt nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die Kirchen. Der Protest drang, wenngleich in Abschwächung, auch in die theologischen Fakultäten, die Pfarrhäuser und evangelischen Akademien vor. Noch im Briefwechsel von 1965 mit dem jungen Kirchenhistoriker Wolfgang Gerlach räumte Bischof Dibelius seine starken antijüdischen familiengeschichtlichen Prägungen ein.
Rheinische Zäsur
Im Januar 1980 verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland die Erklärung „Für eine Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden“. Das war eine Zäsur. Zum ersten Mal seit Kriegsende erklärte eine Landeskirche als Ganze, ihre Beziehungen zum Judentum umfassend zu revidieren. Die rheinländische Kirche bekannte sich zur christlichen Mitverantwortung am Holocaust, erklärte ihre Bereitschaft zum interreligiösen Dialog, verurteilte jedweden Antisemitismus und verzichtete auf Judenmission. Seither sind zahlreiche weitere Gliedkirchen der EKD mit Beschlüssen ähnlichen Tenors dieser Deklaration gefolgt.
Die kirchliche Selbstaufklärung über eigene Partizipationen an Ausgrenzung und Verfolgung von Juden im „Dritten Reich“ war und ist eine langwierige und häufig schmerzhafte Angelegenheit. Klaus Scholders großes Buch über Die Kirchen und das Dritte Reich (1977), die kritischen Studien von Leonore Siegele-Wenschkewitz über Antisemitismus in Kirche und Theologie sowie Wolfgang Gerlachs Dissertation Als die Zeugen schwiegen über Bekennende Kirche und Juden (1987) waren Pionierleistungen. Auch die von 1990 bis 2007 durch die Kirchenhistoriker Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder in sieben Teilbänden verfasste enzyklopädische Darstellung des christlich-jüdischen Verhältnisses 1933–1945 hat die Kenntnis dieser heillosen Vergangenheit enorm verbreitert und vertieft. Nicht zufällig kamen wichtige Anstöße zur historischen Aufklärung von außen, so die Studien des US-Historikers Robert P. Ericksen über „Hitlers Theologen“ (Paul Althaus, Emanuel Hirsch und Gerhard Kittel), der kanadischen Historikerin Doris L. Bergen über die Deutschen Christen (1996) und die Pionierstudie der Judaistin Susannah Heschel vom Dartmouth College (USA) über das Eisenacher „Entjudungsinstitut“ (2008). Historische Aufarbeitung war eine wichtige Voraussetzung, um die Nachkriegskirchen zur grundlegenden Revision des christlich-jüdischen Verhältnisses zu bewegen.
Zum Buß- und Bettag 2002 hielt der damalige Berliner Bischof Wolfgang Huber in der Berlin-Zehlendorfer Pauluskirche eine Predigt, die dem Gedenken an die Schicksale von Christen jüdischer Herkunft gewidmet war. Er knüpfte dabei an die Bußtagspredigt von Helmut Gollwitzer an, die der junge Pfarrer wenige Tage nach den Novemberpogromen in Dahlem gehalten hatte. Huber beklagte die 1938 erwiesene unchristliche Gleichgültigkeit der Kirche gegenüber der Taufe und die fehlende Solidarität mit den verfolgten „Nichtariern“. Auch die Bekennende Kirche als Institution habe damals versagt. Nur wenige wie Dietrich Bonhoeffer, Elisabeth Schmitz, Martin Albertz oder Heinrich Grüber seien mutig hervorgetreten. Der Bischof schilderte auch das Treiben der Deutschen Christen, so namentlich die Aktivitäten des sippenforschenden Pfarrers Karl Themel, der Kirchenbücher bis ins 18. Jahrhundert zurück durchforschen ließ, um evangelische Christen mit jüdischen Vorfahren zu identifizieren und bei Staats- und Parteistellen zu melden. Bischof Huber rief dazu auf, durch aktive Erinnerungsarbeit die Namen und Biografien der verfolgten Christen jüdischer Herkunft zu erforschen und zu würdigen.
Aktive Erinnerungsarbeit
Das war angemessene kirchliche Aufarbeitung. Sie kam spät, 57 Jahre nach Kriegsende, aber sie kam. Keiner von Hubers Amtsvorgängern hatte so deutliche Worte zur kirchlichen Kollaboration gefunden. Aber abgeschlossen war und ist das schmerzliche Thema damit nicht. Die rückhaltlose kirchliche Selbstaufklärung über die eigene antisemitische Vergangenheit im 20. Jahrhundert ist eine wichtige Voraussetzung, um heute jedweder Ausbreitung von völkischem Denken und Antisemitismus im Kirchenbereich und in Politik und Gesellschaft überzeugend entgegenzutreten. Viele beschämende Ereignisse hierzulande seit dem 7. Oktober 2023 zeigen: Es tut bitter Not.
Manfred Gailus
Manfred Gailus ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin.