Wenn die Kirche den Mund voll nimmt
Singen wie die Engel: Warum ragt das „Sanctus“, das „Heilig“, in der Liturgie oft so heraus? Wie etwa das „Sanctus“ in der h-Moll-Messe von Bach, das vielen als das „Sanctus“ schlechthin gilt. Ein melodisch-rasanter Flug durch mehrere Jahrhunderte Musik- und Liturgiegeschichte vom Theologen, Pfarrer, Organisten und Erlanger Professor für Kirchenmusik, Konrad Klek.
Dich loben die Kräfte des Himmels mit einhelligem Jubel, mit ihnen lass auch unsere Stimmen uns vereinen und ohn Ende lobsingen: …“ – mit dem Abendmahl vertraute Christenmenschen haben im Ohr, wie es nach diesen vollmundigen Worten von Liturg oder Liturgin weitergeht: „Heilig, heilig, heilig …“ Aber so wirklich einhellig ist dieser sich anschließende Jubel der Kirche auf Erden gewiss nicht, denn schon bei den evangelischen Landeskirchen in Deutschland gibt es verschiedene Singvarianten. Seit ich im lutherischen Bayern lebe (und da Orgel spiele), ist das bayerische „Sanctus“ der absolute Höhepunkt der gottesdienstlichen Gefühle. Die Bayern singen nämlich die Version von 1726 aus Steinau an der Oder (EG 185.3), ein schöner D-Dur-Hymnus aus der Zeit des Hochbarock mit zweimaligem Aufschwung zum hohen D, was den mitsingenden Gottesdienstbesuchern gar keine Probleme zu machen scheint – im Gegenteil: Selten erlebt man als Organist sonst, dass eine Gemeinde so gern mit voller Brust in die Höhe steigt.
Gregorianisch angehaucht
Aus meiner württembergischen Heimat kenne ich die Version EG 185.1, einen Ton tiefer in C und deutlich gregorianisch angehaucht, wenngleich mit sogar dreifachem Aufschwung zum hohen C. Dies ist in der Gottesdienstordnung im bayerisch-thüringischen Gesangbuch auch als Version für Thüringen abgedruckt. Meinen Wechsel von Württemberg nach Bayern habe ich jedenfalls bezüglich des „Sanctus“ als Aufstieg erlebt, und auch nach 25 Jahren freue ich mich noch immer auf den Doppelpunkt bei „ohn Ende lobsingen“, denn da nehme ich als Organist das Heft in die Hand und steure den Gemeindegesang, der nicht weniger als das Ineinander von himmlischem und irdischem Singen symbolisieren soll. Natürlich ist es „nur ein Symbol“. Die Engel singen sicher nicht Deutsch, und die Version „Steinau 1726“ erst recht nicht, und wir singen nicht „ohn Ende“. Das „Lied“ ist schnell vorbei und mit unendlich lang erscheinender „Liturgie“ geht es weiter, bis endlich das gemeinsame Mahl gefeiert werden darf. Und ein Stimmungsbremsklotz wie „Christe, du Lamm Gottes“ versperrt auch noch den Weg zum „eucharistischen Freudenmahl“, oder gar wie bei den Katholiken: „Herr, ich bin nicht würdig …“
Emphathischer Gemeindegesang
Als emphatische Gemeindegesangstrophe, in der Regel auswendig angestimmt, hat das „Heilig“ liturgisch ein Pendant im „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Auch da knallt sozusagen der Korken. In der Eingangssequenz des Gottesdienstes, die je nach wiederum diverser liturgischer Tradition mehr oder weniger mit „Besinnung“ und „Confiteor“ (Bekenntnis der Schuld) belastet ist, geht es plötzlich wie enthemmt im Dreier-Takt-F-Dur los, und alle freuen sich, da „einstimmen“ zu können. Gemeinsam ist beiden Gemeindegesängen, dass sie sich auf biblisch überlieferten Engelsgesang beziehen, das „Gloria in excelsis Deo“ findet sich in der Weihnachtsgeschichte bei den Hirten auf dem Felde (Lukas 2,14) und das Sanctus bei der Thronvision des Jesaja im Kontext seiner Berufung (Jesaja 6,3), gespiegelt auch in Offenbarung 4,8. Einstimmen in den Gesang der „Kräfte des Himmels“ scheint also im irdischen Gottesdienst irgendwie der Clou zu sein, die symbolische Entgrenzung, vollzogen im selbsttranszendierenden Medium des gemeinsamen Singens. Und die rituelle Wiederholung derselben (zeitlich begrenzten) Gesänge in jedem Gottesdienst symbolisiert ebenjenes „ohn Ende lobsingen“. Wir müssen uns nicht in die engelmäßige Endlosschleife begeben, um uns des himmlischen Horizonts zu versichern, wir praktizieren das punktuell in den verdichteten Erfahrungen der Liturgie mitten im irdischen Leben.
Akzent gesetzt
Vor exakt 300 Jahren stellte sich Johann Sebastian Bach in Leipzig die Aufgabe, den Christfestgottesdienst (25.12.) besonders festlich zu gestalten. Es war sein zweites Weihnachten als Thomaskantor. Im Vorjahr hatte er mit dem vokal fünfstimmig angelegten Magnificat einen Akzent gesetzt (im Vespergottesdienst am Nachmittag). Tatsächlich gaben die Leipziger liturgischen Statuten damals vor, dass an Festtagen solche Gesänge auf Latein zu musizieren seien, während sie im sonntäglichen Alltag sonst deutsch gesungen wurden. Jetzt, 1724, nahm sich Bach das Sanctus als Sujet und wählte sogar die vokale Sechsstimmigkeit, was singulär ist in seinem Schaffen. Heutige Kulturbürger kennen und lieben dieses Sanctus als Teil der h-Moll-Messe, wissen aber kaum um dessen ursprüngliche Bestimmung als Weihnachtsmusik. Ob Weihnachten oder nicht, es bleibt das Sanctus schlechthin. Bach hat es offensichtlich auch an anderen liturgischen Orten integriert, wenn es besonders festlich sein sollte, zum Beispiel Ostern 1727 – zwei Tage nach der Erstaufführung der Matthäus-Passion!
Bachs Sechsstimmigkeit ist offensichtlich von den sechs Flügeln der Seraphim in Jesaja 6,2 beziehungsweise der vier Gestalten aus Offenbarung 4,8 motiviert. In der nur leichten Überarbeitung des Opus für die Messe hat Bach diesbezüglich auch noch präzisiert und die ursprünglich drei Sopranstimmen gegenüber einer Altstimme in zwei plus zwei modifiziert analog zur Zweier-Gliederung der Engelsflügel. Die Dreizahl ist essenziell in drei Trompeten, drei Oboen – weshalb man für die Messe nur wegen diesem Stück eine weitere Oboe braucht –, mit in Dreiklängen parallel geführten Singstimmen und in der triolischen Unterteilung der Viertel beim Sanctus-Wogen der Singstimmen im 4/4-Takt. „Pleni sunt coeli et terra“ steht dann im 3/8-Takt. Damit spiegelt Bach die schon altkirchliche Tradition, welche das „Dreimal-Heilig“ eben trinitarisch auffasst. Vollkommenes Gotteslob ist der Vollkommenheit des trinitarischen Gottes gemäß triadisch strukturiert vorzustellen. Für Chorbässe sind die geradezu penetranten Oktav-Sequenzen in ihrer Stimmführung eine Urerfahrung. Nirgendwo sonst spürt man so förmlich, dass die Oktave das Symbol für Totalität als Kennzeichen göttlicher Macht und Würde ist: „Himmel und Erde sind voll deiner Herrlichkeit.“
Bach hat dieses Sanctus wie ein Präludium (Sanctus) und Fuge (Pleni sunt coeli) in organo pleno (mit voller Orgel) konzipiert – übrigens mit 12 x 14 BACH-Takten. Er konnte da ungeniert volltönend zulangen, da das Stück im Gottesdienst ja singulär stand als Festtagsakzent. Hauptmusik vor der Predigt am 25. Dezember 1724 war die klanglich weniger auftrumpfende Choralkantate „Gelobet seist du, Jesu Christ“ mit nur zwei Hörnern und zwei Oboen. Im späteren Kontext der großen Messe – Bach hat das selber ja nie als Aufführung realisiert – ist in den anderthalb Stunden Musik vor dem Start des Sanctus schon viel Trompetteria-Geschmetter vorgekommen, auch am Schluss des vorausgehenden Glaubensbekenntnisses. Gleichwohl schafft es das Sanctus mit seiner spezifischen Satzstruktur stets, dem allem die Krone aufzusetzen.
„Weh mir, ich vergehe“
Eigentlich ist verwunderlich, dass in der kirchlichen Liturgie die Thronvision des Jesaja solchermaßen affirmativ vereinnahmt wird – ungeniert sind wir mit den Seraphim am Jubilieren. Denn bekanntermaßen ist Jesaja zu Tode erschrocken, als er das erlebt: „Weh mir, ich vergehe“ (Jesaja 6,5). „Heilig“ ist eben gerade auch ein Distanzbegriff, der das Reine des Göttlichen vom Unreinen der Welt scheidet. Demzufolge muss Jesaja von einem der Engel förmlich entsühnt werden.
Wann und wo die (Alte) Kirche das Sanctus so ungeniert in die Liturgie integriert hat, wird bis ans Ende der Tage nicht definitiv geklärt werden können. Jedenfalls war es schon sehr früh da. Jesaja 6 ist offensichtlich in den Sog von Offenbarung 4 geraten: Wenn wir Gottesdienst feiern, stehen wir unbeschadet vor Gottes Thron und machen eifrig mit – das ist kirchliches Selbstbewusstsein! Interessanterweise gab es beim Gloria länger Vorbehalte, diesen zunächst nur vom Papst, dann von Bischöfen anzustimmenden Engelsgesang in den Gottesdienstalltag aller Gemeinden zu transferieren.
Das Heilige als Tremendum war liturgisch nicht gefragt. Ein hochsensibler Komponist der Romantik hat es gleichwohl auskomponiert: Franz Schubert (1797–1828) in der letzten Messe Es-Dur aus seinem Sterbejahr. Da zittern die Streicher förmlich zum Sanctus des Chores, das erst in Es-Dur, dann harmonisch völlig unvermittelt in h-Moll und schließlich in g-Moll erklingt – „really strange“ würde man heute sagen. In Verbindung mit der notierten extremen Dynamik zwischen Piano und Forte fortissimo bleibt einem nur auszurufen: „Weh mir, ich vergehe!“
Katholische Sakramentsfrömmigkeit
Der kirchlich verbindliche Text des Sanctus verbindet den Engelsgesang aus Jesaja 6 mit dem „Hosianna. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“ aus Psalm 118,25 f., dem Huldigungsruf zum Einzug Jesu in Jerusalem (Matthäus 21,9). Im Vollzug der „Eucharistie“ wird das dann zur Huldigung des in Brot und Wein präsenten Christus, weshalb der Textteil „Benedictus, qui venit in nomine domini“ wohl seit dem 16. Jahrhundert erst nach der Wandlung angestimmt werden darf. So kommt es bei den Messvertonungen zur Abspaltung des Benedictus als eigenem Teilsatz, und dieser wird zum musikalischen Hotspot spezifisch katholischer Sakramentsverehrung. Salopp gesprochen: Jetzt wird’s tendenziell schmalzig. Vokale Solostimmen dürfen ihr Innerstes nach außen kehren.
Meister Beethoven gönnt zudem in seiner gigantischen Missa solemnis da der Solovioline eine Partie, die als Transzendenzsymbol nicht zu toppen ist. Dem (reformierten) Leipziger Gewandhaus-Konzertmeister Engelbert Röntgen widerfuhr anno 1897 das seligste Sterben, das für einen Violinisten denkbar ist: das Benedictus der Missa solemnis spielen – und dann abtreten.
In der lutherischen Liturgie Leipzigs zur Bachzeit gab es natürlich keine Wandlung – und auch gar kein Benedictus. Daher konnte Bach beim Sanctus so zulangen. Bei der Konzeption seiner „catholischen Messe“ dann am Lebensende musste er eine Lösung für die weiteren Teiltexte des Sanctus im Messformular finden. Zunächst steigerte er die 6-Stimmigkeit des Sanctus mit dem 8-stimmigen Osanna und setzte – gut katholisch – als Gegenpol das Benedictus nur mit Tenor, intimer Traversflöte und Basso continuo, das zarteste im ganzen Opus.
Damit ist nun aber gerade dieses Sanctus – als Ganzes betrachtet – musikalisch ziemlich divers und erscheint nicht als musikalische Einheit. Dass Bach im Osanna Vivat-Rufe auf den sächsischen König August den Starken zum (letzten von diesem erlebten) Geburtstag 1732 recycelt, macht die stilistische Stringenz der Satzfolge auch nicht besser.
Tiefsinnige Umsetzung
Eine sehr tiefsinnige Umsetzung des Sanctus hat der reformierte Pfarrerssohn Frank Martin (1890–1974) zuwege gebracht, als er sein Friedensoratorium „In terra pax“, ein Auftragswerk von Radio Genf im Jahr 1944 für den Fall des Waffenstillstandes, münden lässt in ein Sanctus nach Jesaja 6,3 und Offenbarung 4, 8 und 11. Alle Beteiligten, die fünf Solisten und beide Chöre finden sich zusammen in diesem „Schlussreigen“ der „Saint“-Akklamation, die nach einigen Steigerungswellen über langem D-Orgelpunkt im Pianissimo ausklingt.
Die „Thron-Vision“ in Offenbarung 4 rezipiert ja sichtlich Jesaja 6, um die Szenerie – unter anderen mit den 24 Ältesten – noch deutlich zu steigern. Martin aber verweigert jegliche Affirmativität und Massivität. Ehe bei ihm das Saint anhebt mit sukzessive sich einreihenden Sängern und Chorgruppen, singt der Bass-Solist ohne jegliche Begleitung das Gotteswort: „Siehe, ich mache alles neu“ (Offenbarung 21,5).
Die Welt des Friedens ist die neue Welt Gottes, wo tatsächlich alle beim Sanctus-Singen mitmachen können, weil sie nicht mehr Kriege führen müssen. Solange diese neue Welt aber noch nicht Wirklichkeit ist, ist es gut, beim Sanctus immer mal wieder den gern voll genommenen Mund schamvoll zu verschließen.
Konrad Klek
Konrad Klek ist Universitätsmusikdirektor und Theologieprofessor an der Universität Nürnberg-Erlangen.