Eine anthropologische Konstante

Das Heilige als Problem der Religionsphänomenologie
„Heilige Orte“ wie Kirchen, Klöster und Tempel, die Stille, Sammlung und Einkehr ermöglichen. „The Vale of Rest“ (Das Tal der Stille) von John Everett Millais (1829–1896), gemalt 1858.
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„Heilige Orte“ wie Kirchen, Klöster und Tempel, die Stille, Sammlung und Einkehr ermöglichen. „The Vale of Rest“ (Das Tal der Stille) von John Everett Millais (1829–1896), gemalt 1858.

Es wurden und werden immer wieder Erfahrungen des Heiligen bezeugt, die uns ergreifen, bevor wir sie begreifen können. Genau darin liegt die bleibende Macht des Heiligen. Über die authentische Erfahrung des Heiligen kann der Mensch nicht beliebig verfügen. Insofern bleibt das nicht erst vom Menschen „gemachte“, unergründliche Heilige ein Stachel der Moderne. Das erklärt Wolfgang Gantke, Professor für Religionswissenschaft an der Universität in Frankfurt.

Das Heilige ist ein für alle mit dem Thema Religion befassten Disziplinen zentraler Grundbegriff. Schon 1917 hat Rudolf Otto ein religionswissenschaftliches Grundlagenwerk über das Heilige verfasst, und in seiner Nachfolge haben viele Religionsphänomenologen das Heilige trotz der erheblichen theologischen und anthropologischen Differenzen als die gemeinsame Basis aller Religionen anerkannt. Diese gemeinsame Grundlage fördere, so wurde gerne argumentiert, einen interkulturell verallgemeinerbaren religiösen Humanismus, der ein tieferes gegenseitiges Verstehen und Tolerieren und damit ein friedlicheres gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht. Es ist unbestreitbar, dass es in allen Religionen verbindende Elemente gibt, die einen gelingenden Dia­log der Religionen ermöglichen und die ohne einen Bezug zum kulturübergreifenden Heiligen nicht verstehbar sind. Hier sind insbesondere die in allen Religionen bezeugten Heiligkeitserfahrungen, die Verehrung heiliger Zeiten und Orte, die vom Heiligen bestimmten ethischen Übereinstimmungen (Hans Küng) und die mit der „numinosen Scheu“ verbundenen rituellen Handlungen und Verbotsvorschriften (Tabus) zu nennen.

Im heute so notwendigen Dialog der Religionen sollten gewiss zunächst diese Gemeinsamkeiten und nicht sofort das Trennende in den Vordergrund gestellt werden. Und doch ist es notwendig, die Probleme, die mit den teilweise erheblichen bleibenden Differenzen zwischen den Religionen verbunden sind, deutlich zu benennen. Die Berufung auf das idealisierte, gemeinsame Heilige verdeckt die mit der Pluralität der Gottes- und Menschenbilder zusammenhängenden Schwierigkeiten und birgt die Gefahr einer einseitigen Veredelung der Religion in sich, deren dunkle, gewalttätige Schattenseite (Menschenopfer, Heilige Kriege und so weiter) vernachlässigt oder verdrängt wird.

Hartnäckiges Problem

Es muss also beachtet werden, dass es innerhalb der vielgestaltigen heutigen Rede vom Heiligen erhebliche Differenzen gibt, die eine wissenschaftlich neutrale, ausgewogene Diskussion um das Heilige so komplizieren, dass heute die meisten Religionswissenschaftler dafür plädieren, auf den mehrdeutigen, unwissenschaftlichen Begriff des Heiligen ganz zu verzichten.

Das Heilige wird als ein nach wie vor hartnäckiges, ungelöstes Problem der Religionswissenschaft aber nicht dadurch beseitigt, dass man auf diesen schwierigen Begriff verzichtet. Es muss daher in der hochkomplexen heutigen Debatte zunächst um die Klärung der zentralen Grundfragen gehen und hier insbesondere um die Frage, ob es bei aller Pluralität einen unzerstörbaren, säkularisierungsresistenten „harten Kern“ des Heiligen gibt. Dieser scheint in der Tat zu existieren, denn ein Blick in die Religionsgeschichte und das gegenwärtige religiöse Feld zeigt, dass die ungebrochene Dynamik religiöser Neuaufbrüche trotz fortschreitender Entzauberungstendenzen keineswegs an ihr Ende gelangt ist. Das widerständige Problem des Heiligen hat sich jedenfalls auch nach der Aufklärung nicht erledigt, was zumindest nahelegt, dass es in dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung um nicht weniger als die Anerkennung einer anthropologischen Konstante und damit um ein wichtiges Zukunftsthema geht.

Vor dem Hintergrund der viele Menschen verunsichernden religiösen Unübersichtlichkeit in der heutigen multireligiösen Weltgesellschaft kann durchaus von einem Ende der Eindeutigkeit (des Begriffs „heilig“) gesprochen werden, weshalb die Differenz zwischen dem stets auf Eindeutigkeit zielenden Begriff und dem nur schwer zu fassenden, mehrdeutigen Phänomen zu beachten ist. Das vor allem im interkulturellen Kontext nach wie vor sehr lebendige Phänomen des Heiligen scheint jedenfalls mehr zu sein als all die Interpretationskonstrukte, die es begrifflich eindeutig festzulegen oder gar weltanschaulich zu entlarven versuchen. Sollte das die Kulturen der Menschheit seit Anbeginn in beeindruckender Weise prägende Heilige wirklich nichts anderes sein als bloßes Menschenwerk?

Der von vielen Religionsforschern vorausgesagte Untergang des Heiligen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften hat trotz der sich leerenden Kirchen erkennbar nicht stattgefunden. Auch die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn des Lebens ist keineswegs erloschen, wie die wachsende Faszinationskraft der spirituellen Angebote und Antwortversuche der Mystiker in allen Weltreligionen beweist. Ist es nicht erstaunlich, dass sich viele Fragende und Suchende gegenwärtig den östlichen Einheitsreligionen zuwenden, wo sie die Erleuchtung zu finden glauben?

Versöhnende Tendenz

In diesem Kontext liegt eine der Stärken des Begriffs des Heiligen sicherlich darin, dass er im Unterschied zum Gottesbegriff auch die Religionen ohne ein personales Gottesverständnis wie den Buddhismus, den Taoismus und die apersonalen Richtungen des Hinduismus (Advaita-Tradition) zu umgreifen vermag.

Als derart Umgreifendes wohnt ihm einerseits eine inklusivistisch-versöhnende Tendenz inne, während er andererseits gerne exklusivistisch als Abgrenzungskategorie gegenüber dem Profanen verwendet wird. So ist für den Religionswissenschaftler Mircea Eliade die Differenzierung zwischen heilig und profan die zentrale religiöse Grundunterscheidung. Profan ist alles, was vor der Sphäre des Heiligen (pro=vor, fanum=heiliger Bezirk) liegt. Die gegenwärtige ersatzreligiöse Profanisierung und Banalisierung der Rede vom Heiligen scheint deshalb stetig „fortzuschreiten“, weil die Offenheit für das authentische, nicht erst vom Menschen „gemachte“ Geheimnis des Heiligen immer stärker eingeschränkt wird. Hier ist vor allem die sich in der Moderne nahezu ungebremst durchsetzende Programmatik der anthropozentrischen Verfügbarmachung von Wirklichkeit zu nennen, die zu einer Verabsolutierung von Endlichem und damit zu einem Verlust der Transzendenzoffenheit geführt hat.

Es sind die endlichen Besetzungen des Unendlichen, etwa bei geradezu sakral aufgeladenen „sensationellen“ Sport-, Unterhaltungs- und Popereignissen, die kaum mehr Raum lassen für authentische Erfahrungen eines unverfügbaren Heiligen, das sich der menschlichen Machtsphäre grundsätzlich zu entziehen vermag und das an besondere, nicht beliebig reproduzierbare wirklichkeitserschließende Atmosphären und Stimmungen gebunden ist.

Dieses Seltenerwerden von lebendigen Heiligkeitserfahrungen in der modernen Gesellschaft hängt sicherlich zusammen mit dem zunehmenden Verlust der Stille, Sammlung und innere Einkehr ermöglichenden „heiligen Orte“ (Kirchen, Klöster, Tempel und so weiter), aber auch dem Verlust von numinosen Kraftplätzen und Sehnsuchtsräumen in den wenigen Restbeständen heiler Natur.

Noch einmal: Dass diese die profane Welt transzendierende Dimension des Heiligen mehr ist als eine bloße Erfindung des Menschen, beweist ihre zeit- und kulturunabhängige Widerständigkeit. Es wurden und werden immer wieder Erfahrungen des Heiligen bezeugt, die uns ergreifen, bevor wir sie begreifen können, und genau darin liegt die bleibende Macht des Heiligen. Über die authentische Erfahrung des Heiligen kann der Mensch nicht beliebig verfügen. Insofern bleibt das nicht erst vom Menschen „gemachte“, unergründliche Heilige ein Stachel der Moderne.

Das Heilige konfrontiert den Menschen von sich selbst her mit einerseits erschreckenden Grenz- und andererseits beglückenden Seligkeitserfahrungen. Nach Rudolf Otto besitzt das Heilige ein Doppelgesicht, eine abstoßend-erschreckende und eine anziehend-faszinierende Seite (mysterium tremendum et fascinans).

Diese „dunkle“ Seite des unergründlichen Heiligen ist in der fortschrittsgläubigen Moderne tendenziell verdrängt worden, weshalb viele weitgehend säkularisierte Menschen, die mit dem Untergang der Religionen rechneten, offenbar davon überrascht wurden, dass auch nach der Aufklärung fundamentalistische und gewaltförmige religiöse Strömungen in den gegenwärtigen politischen Diskussionen wieder eine maßgebliche Rolle spielen. Es gibt eben nicht nur, um eine knappe Formulierung Robert Spaemanns aufzugreifen, nette Religionen.

Religionskritiker, die glauben, dass unsere Welt ohne die Religionen friedlicher wäre, zielen zumeist auf diese stark politisierten, fundamentalistischen Formen von Religion, die sie dann verabsolutieren. Gerade in diesem problematischen politischen Kontext der Rede vom Heiligen stellt sich die Frage, wie eine Instrumentalisierung des Heiligen für profane, innerweltliche Interessen und Zielsetzungen als mitunter gewollte Verabsolutierung von Endlichem verhindert werden kann. Wo beginnt der offensichtliche Missbrauch der Rede vom Heiligen in einer profanisierten Welt ohne echten Transzendenzbezug? Wieso kann der politisierte Kampf um heilige Länder und Orte (Jerusalem) trotz aller gutgemeinten Dialogversuche nicht überwunden werden? Könnte es nicht doch das letztlich unfassbare Heilige als bleibende Erinnerung an das Ewige in allen Menschen und in der Welt sein, das das engstirnige Feindbilddenken sub specie aeternitatis entgrenzt?

Ersatzreligiöse Barrikaden

Weist nicht Schleiermachers „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ in eine Richtung, in der all die ersatzreligiösen, vergänglichen Barrikaden des Endlichen als bloße Idole „entzaubert“ werden, die den Durchbruch zum Heiligen als dem Wesentlichen blockieren? Müssen zunächst die Idole zerstört werden, um danach das echte Heilige wahrnehmen zu können? Dass der stetige Rückbezug auf die unvergängliche spirituelle Wirklichkeitsdimension keineswegs in einen unpolitischen, schicksalsergebenen Eskapismus einmünden muss, haben viele politisch engagierte religiöse Menschen, die mit den gegebenen Verhältnissen nicht einverstanden waren, von Gandhi über Martin Luther King bis hin zu den Befreiungstheologen, bewiesen.

Ist es nicht die Unendlichkeits- und Heiligkeitsvergessenheit, die viele moderne Menschen so stark in endliche, transzendenzverschlossene Konstruktionen hineinverstrickt, dass alle Auswege ins Freie und Offene versperrt zu sein scheinen und für viele nur der Nihilismus eine überzeugende Antwort auf die Sinnfrage zu geben vermag? In ihrer Auseinandersetzung mit dem sich ausbreitenden Nihilismus, aber auch mit dem eindimensionalen Naturalismus ohne Transzendenzoffenheit sollten sich alle Religionen der Menschheit gemeinsam um eine Überwindung der Heiligkeitsvergessenheit bemühen. Nach einem bekannten Wort Heideggers liegt im „Verlust der Dimension des Heiligen das eigentliche Unheil unseres Zeitalters“.

Als eine die „Heiligkeit des Lebens“ betonende Lebensschutzkategorie könnte dem Heiligen in der „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck) ein neuer, tiefer Sinn zuwachsen, und auch in dieser Perspektive handelt es sich bei der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Heiligen keineswegs um eine vergangene Angelegenheit, sondern um ein bedeutendes Zukunftsthema. Im christlich-theologischen Kontext verbirgt sich hinter der Frage nach dem Heiligen die Gottesfrage, die nach dem voraussehbaren Scheitern der menschlichen Selbsterlösungsversuche in ihrer bleibenden humanen Bedeutung wiederentdeckt werden könnte.

Gott ist der Heilige, der die Welt erschaffen hat und durch den „heiligen Geist“ in der Welt wirkt. Im Christentum ist das Heilige stets auf Gott zu beziehen, der sich den Menschen in Jesus von Nazareth geoffenbart hat. Im Unterschied zu sittlich indifferenten Heiligkeitsauffassungen gehört zum christozentrischen Heiligkeitsverständnis unaufgebbar die enge Verbindung zur Liebe und zum Guten.

Gegen die Selbstvergötterungstendenzen

Für die nicht-rationalen und nicht-sittlichen Aspekte des Heiligen, die sich auch im biblischen Kontext nachweisen lassen, hat Rudolf Otto den Begriff des Numinosen (numen = Macht des Göttlichen) geprägt, der das religiöse Urerlebnis bezeichnet, das für ihn in der Begegnung des Menschen mit einer stärkeren Macht besteht, die in ihm ein religiöses Ergriffensein hervorruft und der gegenüber er sich demütig zurücknimmt.

Die Erfahrung dieses grundsätzlichen Abhängigbleibens von einer umgreifenden und ihn tragenden numinosen Wirklichkeit könnte den Selbstvergötterungstendenzen des modernen Menschen Grenzen setzen. Die ständige Vergegenwärtigung des unbegreiflichen heiligen Geheimnisses könnte die Versteifung des Menschen in der Profanität verhindern.

So bleibt am Ende keine eindeutige Antwort, sondern nur eine Frage: Ob nicht die Anerkennung der Rückgebundenheit des Menschen an eine unverfügbare numinose Wirklichkeitsdimension zu den kulturübergreifenden Voraussetzungen einer sinnvollen und humanen Existenz des Menschen auf Erden gehört. Der bleibende Anspruch des Heiligen, das im Christentum als Chiffre für Gott interpretiert werden kann, setzt allerdings im Menschen die Bereitschaft voraus, die Botschaft des Heiligen zu hören und seine Symbole wahrzunehmen, also eine grundsätzliche Offenheit für Transzendenz. 

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Wolfgang Gantke

Dr. Wolfgang Gantke ist Professor für Religionswissenschaft und Religionstheologie an der Universität in Frankfurt Frankfurt/Main.


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