Das Heilige ist eine exquisite Erfahrungsqualität, die in dem berühmten Gezweit als „tremendum et fascinans“, also erschütternd und faszinierend, geschildert wird. Dabei soll das Erschütternde uns nicht zerstören, darf uns aber unsere Sterblichkeit und Vulnerabilität in Erinnerung rufen. Denn das Heilige hat viel mit Leiblichkeit zu tun, meint der Schriftsteller und Theologieprofessor Klaas Huizing.
Das Heilige ist ein Phänomen mit Flexibilitätsreserven. Im Mittelalter hat es sich übermäßig breitgemacht, wurde dadurch ausgeleiert wie Gummilitze, es war pausebedürftig und startete durch eine Ironie der Geschichte einen neuen Karriereanlauf, machte sich nicht länger nur für die Theologie interessant, sondern der Chor der Geisteswissenschaften fand am Heiligen Gefallen: Philosophie, Soziologie, Kunstwissenschaften, Psychologie, Politologie, Germanistik. Die Liste ist unvollständig. Durch diesen Karrieretwist steht die Theologie jetzt als Deutungsagentur des Heiligen im Wettstreit mit anderen Wissenschaften. Theologie übt sich prompt in Bescheidenheitstopik. Die Deutungshoheit ist dahin. Was aber macht das Heilige für die anderen Wissenschaften interessant?
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga inventarisiert in seinem prächtigen Werk Herbst des Mittelalters die Schwundstufe des Heiligen aufgrund von Übersättigung und Blähung. „Das Leben der mittelalterlichen Christenheit ist in all seinen Beziehungen durchdrungen, ja völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen. Es gibt kein Ding und keine Handlung, die nicht fortwährend in Beziehung zu Christus und dem Glauben gebracht werden. (…) Aber in dieser übersättigten Atmosphäre kann die religiöse Spannung, die wirkliche Transzendenz, das Heraustreten aus dem Jetzt und Hier nicht gegenwärtig sein. Bleibt die Spannung aus, dann erstarrt alles, was doch bestimmt war, Gottesbewusstsein zu wecken, zu einer erschreckenden Alltäglichkeit. (…) Gerade weil der Heilige so bestimmte Gestalt angenommen, weil er so viel Phantasiestoff angezogen hatte, fehlte ihm das Grauenerweckende, Unheimliche.“ Sehr fein sagt Huizinga: „Das Heilige wird ‚familiär‘.“
Eine hübsche Ironie der Geschichte: Es war just die philosophische und religiöse Aufklärung, die den Fäulnisprozess des dauerpräsenten Heiligen als Düngung nutzte und die „religiöse Spannung“ in einer neuen Zeitepoche zurückeroberte. Friedrich Schleiermacher erschloss der Religion eine gefühlsgesättigte Sphäre, sprach von „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Als Nachmieter ist Rudolf Otto in Schleiermachers Denkdomizil eingezogen und hat mit der Lust des Verstehens eine emotionale Zuspitzung des Phänomens vorgeschlagen. Und Generationen später hat der Kieler Leibphänomenologe Hermann Schmitz bei Rudolf Otto Wohnung genommen und kluge Um- und Erweiterungsbauten im Bestand vorangetrieben. Gelegentlich schauten andere Gelehrte wie Geradus van der Leeuw oder Mircea Eliade als Gäste in der Residenz vorbei. So weit die Mietverträge.
Die Pointe bei Otto lautet: Das Heilige ist eine exquisite Erfahrungsqualität, die Otto durch das berühmte Gezweit von tremendum et fascinans verjochte. Mit den Augen von Huizinga gelesen: Otto ruft das tremendum wieder auf den Plan: das Verstörende, Erschreckende, Überbordende, Ängstigende, Irrationale, Überwältigende. Es ist das tremendum, das im Gegenzug die Verletzlichkeit und Kreatürlichkeit des menschlichen Leibes mit neuem Nachdruck thematisiert. Als nicht kleine Aufgabe zählt künftig zur Arbeitsplatzbeschreibung der Theologinnen, das tremendum urban einzuhausen, durchaus im Verbund mit der Technik, die etwa als Frühwarnsystem für Tsunamis zum Einsatz kommt.
Das tremendum soll uns nicht zerstören, darf aber uns unsere Sterblichkeit und leibliche Vulnerabilität in Erinnerung rufen, die wir gerne vielwortig verdrängen. Nicht verschweigen will ich eine Engführung: Rudolf Ottos Bestseller Das Heilige leiht sich gutgelaunt viele Beschreibungspuzzle des Heiligen aus dem Alten Testament. Lebensweltliche Anschlüsse werden eher angedeutet. Eine erste Topographie des Heiligen versagt er sich. Etwa: die Begegnung mit einem Wal. Baden in haushoher Brandung. Auf halber Höhe einem Wasserfall begegnen. Oder der Besuch in einem gotischen Dom, der überwältigt. Die Topographie des Heiligen blieb ein Desiderat.
Enge und Weite
Der Leibphänomenologe Hermann Schmitz zieht in dieses Denken ein, eine verblüffende Neuerung im Umzugskarton. Als Urexistential des Leibes entdeckt Schmitz das von Otto ausgezeichnete Gezweit von Enge und Weite im: ja, genau: im Atem. Diese Pointe hat Schmitz Goethe abgelauscht. Leben heißt: Atmen in der leiblichen Ökonomie von Enge (angustia: Enge, Bedrängnis, Angst) und Weite (Freiheit, Freude, Zuversicht), intensiver Bedrückung und spürbarer Erfrischung.
„Im Atemholen sind zweyerley Gnaden:/Die Luft einziehn, sich ihrer entladen./Jenes bedrängt, dieses erfrischt;/So wunderbar ist das Leben gemischt./Du danke Gott, wenn er dich preßt,/Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt.“ So entdeckt in Goethes Gedicht Talismane. In jedem Atemzug wird diese Doppelung – hier aufgespalten auf die zwei Seiten des Atmens – durchlebt. Goethe hat diese Erfahrung, die wir im Alltag oft übersehen, poetologisch durch differente Reimschemata leiblich spürbar gemacht! Die Verknüpfung von Enge und Weite ist freilich eng, weil es zur „Grausamkeit“ des Leibeslebens, wie Schmitz sagt, gehört, diesem Gezweit nicht entfliehen zu können. Keiner kann nur heiligtrunken – eine treffsichere Worterfindung Hölderlins – leben. Als Urexistenzial des Leibes ist das Heilige nicht nur für die Theologie interessant.
Bei Schmitz gibt es eine ethische Pointe, die sich, mirabile dictu, im tremendum, nach Otto: im Irrationalen verbirgt! Im von außen, durch andrängende Gefühlsmächte ausgelösten Bedrängnis, in dieser primitiven Gegenwart, so Schmitz, bin ich ganz bei mir, hier geschieht Neues, hier ist die religiöse Spannung spürbar, hier wird mein Selbstbild hinterfragt, hier nisten Kreativität und Orientierung. Das Ausgreifen in die Weite beim Ausatmen schafft Raum, die gemachte Erfahrung auf ihre Lebensdienlichkeit hin zu befragen. Kann etwa eine überwältigende Erfahrung einer Begegnung nicht nur mit Menschen, sondern mit einem Wal, der fragende Blick eines Hundes oder die Begegnung mit einer majestätischen Welle meinen Statusehrgeiz hinterfragen und eine neue Orientierung bieten? Hier ist die Vernunft gefragt, die andrängenden Gefühle nicht zu dominieren, sondern zu bewerten, notfalls auch gegen sie Stellung zu beziehen.
Primitive Gegenwart
Ohne gegenseitigen Überbietungsfimmel haben sich nahezu alle Geisteswissenschaften – Technikphilosophie eingeschlossen – diesem Phänomen des Heiligen zugewandt. Vereinfachend gesagt: Es hat einen Move hin zur Praxis gegeben. Theorien gelingenden Lebens haben, durch den späten Foucault freigeschaltet, in allen Geisteswissenschaften Konjunktur. In Klammern gesagt: In der Philosophie waren die Lehrstühle für Praktische Philosophie oft schlecht ausgepolstert. Hier hat es eine radikale Umsteuerung gegeben. Der Lehrstuhl wurde zum Trainerstuhl. Klammer zu.
Selbstredend: Es gibt unterschiedliche Modelle, wie religionsaffine Theorien gelingenden Lebens – das öffentliche Fremdeln mit Religion ist völlig aus der Mode – in anderen Instituten erarbeitet werden. Nur zwei will ich exemplarisch benennen. Die französische Philosophin Corine Pelluchon plädiert für eine „Transdeszendenz“, für eine Transzendenz im Endlichen und sucht eine horizontale Unendlichkeit, wirbt für einen im Rekurs auf das faszinierende und abgründige Meer fluidalen Existenzialismus in Verbundenheit mit allem Lebendigen. Der Soziologe Hartmut Rosa entdeckt dagegen in seinem Opus magnum Resonanz eine vertikale Resonanzachse, ohne eine religiöse Genickstarre davonzutragen. Diesen (und weiteren) Versuchen gemeinsam ist die Nachdrücklichkeit, mit der der Leib als Wahrnehmungsorgan und primordialer Resonanzboden in den Blick tritt, ist es doch der Leib, an den Atmosphären als Gefühlsmächte anstranden. Das Heilige entpuppte sich als das ideale Phänomen, um den anstehenden body turn flächendeckend voranzutreiben.
Von Gott und Glauben ist in der Regel in diesen und anderen Großentwürfen nicht die Rede. Ich mag zumindest auf die Vokabel göttlich nicht verzichten, weil sie eine Instanz bezeichnet, an die man Dankbarkeit für Erfahrungen des Heiligen adressieren kann. Dankbarkeit findet andernfalls keinen Haftpunkt und gerät ins Kreiseln. Groß Einigkeit besteht an anderer Stelle. Dieses Gedritt: eine Begegnung, die mich affektiv betroffen macht; selbstwirksame Prüfung auf Lebensdienlichkeit; (mögliche) Transformation ist der überlappende Konsens der Deutungsschulen.
Der angesprochene Move innerhalb der Geisteswissenschaften besitzt auch Potenziale zur Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik. Alle Geisteswissenschaften – nicht nur die Theologie – sind Orientierungswissenschaften, bieten Orientierung, die zu gemeinschaftsförderndem Verhalten animiert. Demokratie braucht Religion, so posaunt Rosa in einem Essay. Und die Forderung ist nicht Blech. Berühmt ist das Diktum des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Ein gemeinsames Ethos, einen Solidaritätssinn – künftig nicht länger nur bezogen auf den Menschen – kann der Staat, der zunächst und zumeist sein Sicherheitsversprechen im Außen und Innern organisieren muss, nicht erzwingen. Solidaritätssinn kann auch nicht nur durch eine resonanzarme Sprache kommunikativ erobert werden, es bedarf vielmehr gefühlssatter Erfahrungen und Narrative, die Menschen bewegen. Religion als Agentur des Heiligen ist ein Füllhorn an Narrativen, die diese emotive Kraft gespeichert haben.
Gemeinsinnige Emotionen
Martha Nussbaum hat in einem verzaubernden Buch Politische Emotionen die Idee einer Zivilreligion ins Spiel gebracht. Bei Nussbaum ist die Zivilreligion ein Hybrid, das zwar stark von biblischen Erzählungen gesteuert wird, zugleich auf Gemeinsinn zielt, dem alle zustimmen können. An Reden, genauer, überwältigenden Reden und Performances amerikanischer Präsidenten, und am Beispiel großer Reden Martin Luther Kings, die mir heute noch während der Lektüre heilige Schauer über den Rücken jagen, kann sie zeigen, wie diese rhetorischen Kunstwerke und Performances Heiligkeitserfahrungen inszenieren. Diese Inszenierung ruft im besten Sinne gemeinsinnige Emotionen auf, die alles Handeln unterfüttern. Bei Nussbaum sind diese gemeinsinnigen Emotionen Mitgefühl und Liebe, als toxisch qualifiziert werden Angst, Neid, Ekel, Scham. Eva Illouz, Soziologin in Israel und Frankreich, hat in einem schmalen Suhrkamp-Band Undemokratische Emotionen Angst und Ekel (Abscheu) und Ressentiment als unanständige Emotionen ausgemacht und statt für Liebe, die sich auch in eine überbordende Liebe zum Nationalstaat verirren kann, für Brüderlichkeit plädiert. Hier hat durchaus auch die Theologie etwas anzubieten. Biblische Schöpfungserzählungen bebildern mit großer poetischer Erfindungskunst diese Idee einer brüderlichen/schwesterlichen Welt. Von diesem poetologischen Grundeinkommen zehrt die Theologie.
Damit ist auch bereits eine letzte, aber schwergewichtige These anvisiert. Hartmut Rosa hat sich in einem Essay für die Idee der Unverfügbarkeit ausgesprochen, auch deshalb, weil er die Verfügbarmachung von Welt für einen Weltzugang verantwortlich hält, der zu einer Entfremdung führt und die Welt resonanzarm macht. Theolog:innen haben dann schnell ein flankierendes Pflichtzitat zur Hand: Der Geist weht, wo er will. Zumindest in der Theologie ist es oft ein Ruhekissenargument. Ich halte dagegen: Das Göttliche, das Heilige nimmt auch gerne Wohnung. Und die Orte kann man sich erlaufen oder erfahren. Kunst, so die starke These, kann Erfahrung inszenieren. Auch religiöse Erfahrung. Religiös, über die ästhetische Erfahrung hinausgehend, ist die Erfahrung, wenn sie die Kraft besitzt, das Selbstbild sehr grundsätzlich zu hinterfragen, und wenn sie eine sehr entschiedene Transformation einläutet.
Freedom statt Liberty
Wie gesagt: Dieser Prozess kann schmerzhaft sein, sogar ängstigen, lockt aber auch mit einer Weltsicht, die neue Begegnungen ermöglicht, Begegnungen, die nicht durch ausgrenzende Emotionen wie Neid, Ekel und Ressentiment gesteuert werden, sondern warmes Mitgefühl und Brüderlichkeit aufrufen und ein Gefühl von Freiheit (freedom statt liberty) einstiften. Erzählungen des Gelingens helfen, die Angst vor neuen Perspektiven abzubauen. Eskortiert werden muss diese Arbeit freilich durch eine Leibschule, die leibliches Spüren sprachfähig macht. Hier sind weitere kräftige Lehngeschäfte aus der Leibphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas, Hermann Schmitz bis hin zu Corine Pelluchon nötig.
Als Abbinder des Essays gesagt: Das Heilige hat Swing. Nach Karriereturbulenzen dient das Heilige heute als Centerpiece auf den Schreibtischen der Geisteswissenschaftler*innen. Emmanuel Levinas hatte Recht, als er behauptete: Ethik ist die erste Philosophie. Diese Formel wurde inzwischen breitenwirksam weitervermietet. Versteckt oder offen ist das Heilige eine zentrale Kategorie in Theorien gelingenden Lebens oder Lebenslehren. Zumeist werden diese Entwürfe begleitet von kunstsensiblen Lektüren, sind es doch die Künste, die Erfahrungen des Heiligen, des Überwältigenden, inszenieren können. Schließlich bietet sich das Heilige als Organisationszentrum einer spätmodernen Zivilreligion an.
Gibt es noch ein schmales Surplus im theologischen Modell? Mit der Metapher des Göttlichen/Heiligen können wir Dankbarkeit adressieren. Wir haben mit Schöpfungserzählungen imaginäre Bildwelten anfänglicher Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit im Angebot. Und mit der Idee des unendlichen Leibes-Lebens haben Tragik und das Absurde nicht das letzte Wort. So viel Unbescheidenheit darf sein.
Literatur:
Corine Pelluchon: L’être et la mer. Pour un existentialisme écologique, Paris 2024.
Klaas Huizing: Verzaubert leben. Eine Roadmap zum Heiligen, Gütersloh 2024.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.