So gut wie keine Religion kommt ohne „heilige“ Elemente aus, seien es Gegenstände, Wesen, Orte, Texte, Handlungen, Lieder oder was auch immer. Ratten und Affen können als heilig gelten, auch das Feuer, das etwa im Parsismus, der Religion des Zarathustra im alten Iran, nicht durch das Verbrennen von Leichen verunreinigt werden darf. Über die Vielfalt des Heiligen in aller Welt berichtet die Religionswissenschaftlerin und Autorin Adelheid Herrmann-Pfandt.
Eines meiner liebsten Bibelworte ist Psalm 43,3: „Sende aus dein Licht und deine Treue, dass sie mich führen, zu deinem heiligen Berg mich leiten, zu deinem Gezelt.“ Der Psalmist besingt eine lichtvolle Gottheit, der wir vertrauen können und die uns, so wie Eltern ein Kind nach Hause bringen, zu ihrem Heiligtum führt. Aber was ist eigentlich „heilig“, und woran erkennt man es?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich die Religionswissenschaft als eigenes Fach von der Theologie gelöst hatte, war den Forschern bald klar, dass eine alle Religionen umfassende Religionskunde nicht mehr davon ausgehen könne, dass der Gottesglaube unabdingbarer Bestandteil von Religion sei. Vielmehr gibt es Religionen, die, wie der Jinismus, der frühe Buddhismus, der Daoismus oder der Konfuzianismus, überhaupt keinen Gott kennen und für die auch der Begriff „göttlich“ unangemessen erscheint. Andererseits beziehen solche „atheistischen Religionen“ sich auf eine dem Göttlichen verwandte Realität, die sie eben nur nicht personal auffassen. Um diese Realität zu benennen, erschien der Begriff des „Heiligen“ als angemessen.
Mit seinem Werk Das Heilige (1917) verlieh der Marburger Systematische Theologe Rudolf Otto, der zugleich als einer der Gründerväter der Religionswissenschaft gilt, dem Heilbringenden in den Religionen über die Gottesidee hinaus Ausdruck. Der Bonner Religionsforscher Gustav Mensching definierte Religion, kurzgefasst, als „Begegnung mit dem Heiligen und darauf antwortendes Handeln des Menschen“. Auch wenn die spätere Forschung viel Streit um den Begriff des Heiligen erlebte, kommt so gut wie keine Beschreibung einer Religion ohne die Nennung „heiliger“ Elemente aus, seien es Gegenstände, Wesen, Orte, Texte, Handlungen, Lieder, Tiere oder was auch immer.
Rudolf Otto zufolge ist eine Eigenschaft des Heiligen seine Ambivalenz. Schon der antike lateinische Begriff sacer bedeutet beides: „heilig“ und „verflucht“. Otto unterschied zwischen dem mysterium fascinans, dem hellen, anziehenden, faszinierenden, und dem mysterium tremendum, dem dunklen, furchterregenden, „Zittern“ auslösenden Aspekt des Heiligen. Um zu verstehen, was er damit meinte, denken wir an den Gott des Alten Testaments, der einerseits als den Menschen zugewandt und freundlich, andererseits als zornig und rachsüchtig erlebt wurde. Nicht umsonst gebietet die Bibel, Gott zugleich „zu fürchten und zu lieben“.
Zentraler Weltberg
Aber was kann alles in Religionen heilig sein? Zum Beispiel die Erde und ihre Vielgestaltigkeit. Ein eindrucksvolles Felsgebilde wie die Externsteine im Teutoburger Wald ist nicht zufällig schon immer für ein uraltes heidnisches Heiligtum gehalten worden, auch wenn Ausgrabungen keinerlei Hinweise darauf zu Tage förderten. Heilige Berge wie der biblische Berg Sinai, der Berg Fuji in Japan oder der gleich drei Religionen (Buddhismus, Hinduismus, tibetische Bon-Religion) heilige Berg Kailash im Himalaya machen deutlich, dass emporragende, Ehrfurcht gebietende Bodenformationen geradezu dazu auffordern, sie als heilig und möglicherweise auch, je nach der zugrundeliegenden religiösen Kosmologie, als Erscheinungsform der Weltachse oder des zentralen Weltberges zu sehen.
Das Feuer ist ein weiteres heiliges Element. Im Parsismus, der Religion des Zarathustra im alten Iran, sind Feuerbestattungen verpönt, weil das reine Element Feuer durch die Leichen verunreinigt werden würde. Die im Feueraltar lodernden Flammen werden im parsischen Tempel täglich rituell verehrt. Auch im Hinduismus werden Opfersubstanzen in das Altarfeuer gegeben, etwa im Verlauf jeder hinduistischen Hochzeit. In der Geschichte vom brennenden Dornbusch gibt sich Gott im Feuer dem Moses zu erkennen. Kerzen und Öllampen dienen zur Innenbeleuchtung heiliger Bauten wie Tempel und Kirchen, und Franziskus von Assisi erinnert im Sonnengesang an den alten Feuerkult, wenn er dichtet: „Gepriesen seist du, mein Herr, durch unseren Bruder, das Feuer!“ Apokalyptische Texte mancher Religionen reden vom Weltende durch Feuer oder auch von der Sündenreinigung im „Fegefeuer“.
Heilige Orte der Germanen und Kelten haben oft ein Wasserheiligtum, zum Beispiel eine Quelle, in die man unbrauchbar gemachte Waffen sowie geopferte Tiere und Menschen als Gaben an die Gottheit versenkte. Die in nordeuropäischen Mooren zahlreich gefundenen „Moorleichen“, die von Archäologen meist als Überreste von Menschenopfern gedeutet werden, ermöglichen aufgrund ihres oft guten Erhaltungszustandes Erkenntnisse über Lebensweise und Religion ihrer Zeit. Aus dem heiligen Strom Ganges in Indien wird Wasser als Heilmittel geschöpft, und fromme Hindus baden und beten jeden Morgen in diesem oder einem anderen heiligen Fluss. Die Tatsache, dass der Ganges heute voller Umweltgifte ist, tut der Heiligkeit seines Wassers für Hindus keinen Abbruch.
Selbst das vierte Element die Luft, die aufgrund ihrer Natur schwerer „greifbar“ ist, kann als heilig verstanden werden, zum Beispiel als Sturm und Donner in der germanischen Mythologie. Der Wind ist auch Vorbild für einen der wichtigsten christlichen Glaubensinhalte: für den Heiligen Geist, der zu Pfingsten durch die Luft über die Jünger kam.
In vielen Religionen sind Bäume heilig und dienen als Kultstätten. Bäume, die in hinduistischen Dörfern und Tempeln wachsen, sind fast stets mit roter Farbe, Stoffgirlanden und Opfergaben geschmückt. Noch in dem „Bäumchen rüttle dich und schüttle dich“ des Grimm’schen Märchens wird die numinose Kraft des Baumes deutlich, an die man in früheren Zeiten auch bei uns geglaubt hat. Dem Fällen heiliger Bäume durch Bonifatius und andere christliche Missionare Beifall zu spenden, fällt uns nicht nur angesichts der Umweltkatastrophe heute entschieden schwerer als in früheren Zeiten.
Schutz vor Abholzung
Ein ökologisch engagierter Teeplantagenbesitzer im indischen Darjeeling erzählte mir, dass er die auf seinem Land wachsenden Bäume vor der Abholzung durch die Teepflücker geschützt habe, indem er ihnen mitteilte, dass diese Bäume den Göttern heilig seien und auf gar keinen Fall gefällt werden dürften. Man glaubte ihm das unbesehen, und die Bäume stehen bis heute. Natürlich gehörte es zu seiner Fürsorge für die Arbeiterfamilien, ihnen Ersatz für das fehlende Brennholz anzubieten, indem er ihnen eine Biogasanlage baute.
Heilige Tiere gibt es in fast jeder Religion. Im Hinduismus ist nicht nur die Kuh im Allgemeinen und der Stier des Gottes Shiva im Besonderen heilig, sondern auch Tiere, die bei uns eher Ekel erzeugen. So gibt es im Wüstenstaat Rajasthan im Nordwesten Indiens einen Tempel, der Ratten gewidmet ist – sie werden dort religiös verehrt und dürfen auf gar keinen Fall getötet werden. Gläubige pilgern zum „Rattentempel“ und empfinden es als Ehre, die heiligen Tiere zu füttern. Heilig ist auch der Affe. Da ein Affe namens Hanuman im Epos der wichtigste Verbündete des Helden Rama bei seinem Kampf gegen den Dämon Ravana war, dürfen die in vielen indischen Tempeln überhandnehmenden Affen nicht vertrieben werden und haben sich insbesondere für Touristen zu einer wahren Plage entwickelt. Wie ich es selbst erlebt habe, stehlen sie den Leuten buchstäblich das Butterbrot aus der Hand. Aber wer heilig ist, der darf das.
Verbreiteter Stierkult
Die Geschichte vom Goldenen Kalb ist aus israelitischer Sicht die Geschichte einer religiösen Verirrung. Jedoch spiegelt sich darin der Stierkult, der in zahlreichen Kulturen des Orients verbreitet war und von dem sich die biblische Erzählung bewusst absetzen wollte: Nicht das Tier sollte Gott für die Menschen sein, sondern der, der die Tiere erschaffen hat.
Auch im Christentum, das keine heiligen Tiere im engeren Sinne kennt, ist aus früheren Zeiten noch vieles an Tiersymbolik geblieben. Drei der vier Evangelisten etwa werden durch Tiere symbolisiert, die, wohl zur Betonung ihres überweltlichen Charakters, mehrfach geflügelt sind. Das mythische Einhorn, das die Schönheit eines edlen Pferdes verkörpert, ist ein Symbol Jesu Christi, als „Schafe“ werden die Glieder seiner Gemeinde identifiziert, und der Heilige Geist erscheint als weiße Taube, die sich auf den getauften Jesus herabsenkt. Unangenehme und gefürchtete Tierarten wie etwa die Schlange wurden dagegen zu Symbolen des Teufels, also des Widergöttlichen.
Heilig sind in allen Religionen zudem Dinge, die bei der Ausübung einer Religion zum Einsatz kommen, vom heiligen Wort über heilige Orte und Bauwerke (Tempel, Kirchen) bis zu Gegenständen wie Altäre, Kelche, Götterbilder, Ritualspeisen (Oblaten, Wein) und Gesänge. Wohl keine Religion verzichtet auf Rituale als Form des „antwortenden Handelns“ im Sinne Menschings. Eines der ältesten Rituale, das Opferritual, heißt auf Latein sacrificium, also „Heiligmachung“. Denn das Geopferte, ob Tier-, Menschen-, Speise- oder symbolisches Opfer, tritt durch die Darbringung an die Gottheit in die Sphäre des Heiligen ein. Die Opferer hoffen, dass die Gottheit umgekehrt auch ihnen die erbetenen Gaben zuteilwerden lässt.
Manche Rituale dienen der Reinigung, also der Entfernung materiellen Schmutzes oder im übertragenen Sinne der Sündenreinigung, wodurch der ursprünglich reine, heilige Zustand wiederhergestellt werden soll. Ein Täufling wird durch die Taufe geheiligt und in die Gemeinschaft derer aufgenommen, denen durch Christi Kreuzestod Sündenvergebung zugesprochen wurde. Viele Religionen kennen rituelle Waschungen, etwa der Islam vor dem Pflichtgebet, das Judentum als Reinigung von Frauen nach Menstruation und Kindsgeburt, der Hinduismus als tägliches Bad im Ganges. Auch Blut reinigt symbolisch, besonders das Blut des Gekreuzigten, das von Sünden befreit. Manche Menschen, die durch Fasten, Keuschheit oder Kasteiung Askese üben und religiöse Tugenden entwickeln, werden von der Mit- und Nachwelt als Heilige verehrt. Der Heiligenkult ist im Buddhismus, Hinduismus und Katholizismus besonders beliebt.
Akt der Fürsorge
Das wohl älteste Ritual der Menschheit ist schließlich die Bestattung. Als Akt der Fürsorge für Mitmenschen über den Tod hinaus ist sie zugleich ein frühes Zeugnis beginnender Religion. Dabei werden Heilige an besonderen, oft ebenfalls heiligen Orten bestattet. Beispielsweise finden Päpste ihre letzte Ruhestätte nahe dem Petrusgrab unter dem Petersdom im Vatikan.
Die Trauerfeier 2005 für Papst Johannes Paul II. mit Hunderten festlich gekleideter Priester, die in perfekter Choreographie über den Petersplatz zogen, hat viele Menschen bewegt, darunter auch mich. Begeistert schilderte ich immer wieder Anderen die beeindruckende Zeremonie. Nur ein Detail hatte mich als langjährige Ritualliebhaberin gestört: dass während der Totenmesse das aufgeschlagen auf einem Extratisch liegende Evangeliar von dem Wind, der am Trauertag in Rom wehte, ständig raschelnd hin- und hergeblättert wurde. Hätte man die Seiten nicht besser befestigen können? Die entstandene Unruhe schien mir die Perfektion des einmaligen Rituals zu stören. „Du hast Unrecht“, sagte einer meiner Zuhörer, „hast du es denn nicht gemerkt? Das war doch der Heilige Geist, und der weht, wo er will!“
Adelheid Herrmann-Pfandt
Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.