Pfeiler des Gemeinwohls

Ein Demokratieverdruss in unserer Gesellschaft kann auch der Kirche nicht egal sein
Foto: Jens Schulze

Im Laufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte die evangelische Kirche eine Eigenständigkeit, die dem demokratischen Aufbruch und gesellschaftlichen Fortschritt entsprach. Wie auf der staatlichen Ebene durch Parlamente sollte auch in der Kirche Mitsprache und Mitwirkung erzielt werden, etwa durch Kirchenvorstände und Synoden. Umso wichtiger wurde ein verlässlicher rechtlicher Rahmen, um autoritären und willkürlichen Entscheidungen von oben zu wehren.

Gewähr dafür bot die äußere Form der Körperschaft öffentlichen Rechts. In der Folge wurde diese Form Grundlage für die Trennung von Staat und Kirche, wie sie in Deutschland existiert. Eine Trennung, die gleichzeitig vom Gedanken der Kooperation, ja der Partnerschaft von Staat und Kirche, in wichtigen Fragen geprägt ist. Das mögen manche, im Vergleich zu anderen Ländern, als steckengebliebene Trennung kritisieren. Das deutsche System kommt indessen – mehr als der Kirche – der Gesellschaft insgesamt zugute.

Staat vertraut

Ist die Kirche doch unter anderem Arbeitgeber, der vielen Menschen ihr Auskommen sichert. Diese sind überdies häufig für andere Menschen tätig, ob im Rahmen von Kirchengemeinden oder diakonischen Aufgaben, in der Gemeinwesenarbeit, im Bereich von Kunst und Kultur, im Bildungssektor oder auch bei der Pflege und Instandhaltung von Gebäuden. Die Kirche ist als gesellschaftlicher Akteur ein Pfeiler des Gemeinwohls. Das ist dem Staat bewusst, wie immer wieder deutlich wird. So erst jüngst in der Debatte zur Ablösung der so genannten Staatsleistungen, also dem Geld aus staatlichen Steuereinnahmen, das zusätzlich zur Kirchensteuer fließt.

Obwohl es einen Verfassungsauftrag für die Ablösung gibt, wollen die Bundesländer zumindest derzeit darauf lieber verzichten. Nicht nur, weil sie einen milliardenschweren Einmalbetrag fürchten, den sie als Kompensation zahlen müssten, sondern auch, weil sie der Kirche zutrauen, das Geld im Sinne des Gemeinwohls zu verwenden. Der Staat vertraut anscheinend weiter auf eine funktionierende kirchliche Institution.

Ein Teufelskreis

Die Kirche allerdings befindet sich selber in einer Krise und erlebt tiefgreifende Transformationsprozesse. Sodass der Staat der Kirche derzeit möglicherweise mehr zutraut als diese sich selber. Die Institution setzt jedenfalls aufgrund sinkender Mitgliederzahlen und Kirchensteuern sowie wachsender Personalprobleme nahezu alle Kräfte in die Umgestaltung ihrer Strukturen. Was einerseits naheliegt, andererseits aber das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Institution in Frage stellen kann. Ein Teufelskreis.

Das dürfte vor allem diejenigen mit Sorge erfüllen, die von der Kirche (noch) einen Beitrag für das Gemeinwohl und die Stabilität unserer Gesellschaft erwarten. Denn Letztere ist ja ebenfalls durch multiple Krisen herausgefordert. Insbesondere durch eine Krise der Demokratie, wie sich etwa im Wahlverhalten zahlreicher Bürgerinnen und Bürger vor allem in den ostdeutschen Bundesländern zeigt.

Technokratische Entscheidungen

Dass die AfD hier stark an Einfluss gewonnen hat, dürfte nicht zuletzt ein Indiz dafür sein, dass viele Menschen den demokratischen Institutionen nicht mehr zutrauen, die Probleme des Landes – wie etwa die illegale Migration – effektiv zu lösen. Und sie argwöhnen, dass zunehmend technokratische Entscheidungen von Experten getroffen und von demokratischen In­stitutionen lediglich noch bewilligt werden.

Ein Demokratieverdruss aber kann auch der Kirche nicht egal sein. „Der Staat des Grundgesetzes ist mit seiner demokratischen Verfassung heute Angebot und Aufgabe für Christen, in Mitverantwortung die hier gegebenen politischen Möglichkeiten mit Leben zu erfüllen und zu entwickeln“, heißt es in der Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1985. Die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag wahrnehme, wiesen eine „Nähe zum christlichen Menschenbild“ auf.

Mitverantwortung

Vor diesem Hintergrund kann die Kirche in ihren Transformationsprozessen nicht nur an sich selber denken, sondern muss ihre Mitverantwortung für das Gemeinwohl reflektieren. Mag die Institution aus evangelischer Perspektive auch ohne heilsrelevante Bedeutung sein und notwendigerweise ständigen Reformen unterliegen, sie ist mit Blick auf den kirchlichen Auftrag in der Öffentlichkeit auch nicht unbedeutend. Auch die organisatorische Gestalt der Kirche ist ein wertvolles Erbe, das in allen Reformen einer pfleglichen und umsichtigen Behandlung bedarf.

Aufgrund der schwieriger werdenden Rahmenbedingungen wächst gleichwohl der Druck auf die Kirche, ihre institutionelle Präsenz zu reduzieren. Was das in Zukunft bedeutet, muss sich erweisen. Klar ist aber: Die Erosion der Kirche betrifft nicht nur diese selbst, sie hat Auswirkungen auf unsere ganze Gesellschaft. Denn nur durch leistungsfähige eigene Institutionen kann die Kirche auch weiter dem sozialen Zusammenhalt und einem humanen Miteinander dienen. Einen Gewinn für unser Land muss man in ihrer Erosion deshalb nicht erkennen. 

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Foto: Jens Schulze

Michael Strauß

Michael Strauß ist Leiter des Referates für Kommunikation und Medien der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig.


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