Wenn was fehlt
Es gibt mindestens fünf Millionen Muslime in Deutschland, aber nur eine verschwindend geringe Zahl muslimischer Wohlfahrtseinrichtungen. Das sollte sich schleunigst ändern – auch und gerade im Interesse der Kirchen. Das meinen der Islam- und Politikwissenschaftler Ramzi Ghandour vom Diakonischen Werk Hamburg und der Beauftragte für Christlich-Islamischen Dialog der Nordkirche, Sönke Lorberg-Fehring.
In Deutschland werden pro Tag etwa 2 000 Kinder geboren. Der Lebensweg eines dieser Kinder – nennen wir es Emilia – beginnt möglicherweise in einem der knapp 400 Krankenhäuser in diakonischer Trägerschaft. Obwohl sich ihre Eltern nicht viel aus Religion machen, haben sie kirchlich geheiratet und lassen Emilia taufen. Die ersten zwei Jahre besucht Emilia aus Ermangelung an Alternativen mit ihrem Vater die Krabbelgruppe der Kirchengemeinde im Dorf. Als Emilia drei ist, kommt die Zusage vom evangelischen Kindergarten. Er ist in der Nähe und hat ein überzeugendes Konzept. Die Gemeindepastorin kommt jeden Freitag zur Andacht in die Kita, macht den Einschulungsgottesdienst und unterrichtet in der Grundschule Evangelische Religion. Diese persönliche Beziehung ist ein Grund, warum Emilia sich konfirmieren lässt. Als sie nach dem Abitur nicht weiß, was sie studieren soll, absolviert sie zunächst einen ökumenischen Auslandsdienst und studiert im Anschluss Soziale Arbeit an einer evangelischen Hochschule. Ihre Praktika macht sie in einer diakonischen Einrichtung. Dort wird ihr nach dem Studium angeboten, in einem Projekt zur Arbeitsmarktintegration migrantischer Frauen mitzuarbeiten.
Lebensgeschichten wie die von Emilia spielen sich so oder so ähnlich immer wieder in Deutschland ab. Sie zeichnen sich durch vielfache und selbstverständliche Bezüge zum Christentum aus. Anders gesagt: Christliche Rituale, Einrichtungen und Dienste prägen und tragen unsere Gesellschaft mit. Sie stiften Identität und Zusammengehörigkeit.
Doch wie hätte der Lebensweg ausgesehen, wenn das kleine Mädchen nicht in eine christliche, sondern muslimische Familie hineingeboren wäre? Wenn sie nicht Emilia, sondern Layla heißen würde? Wenn die Großeltern nicht im Kirchenchor singen, sondern in der Moscheegemeinde Koranrezitation unterrichten und mit ihrer Enkelin statt Weihnachtsplätzchen Ramadankekse backen würden? Während Emilia ihre christliche Prägung in Kita, Schule, Freizeit und Beruf suchen, formen und ausleben kann, würde Layla in vergleichbaren Situationen vor allem ihr Anderssein erleben: Sie wäre für die Eltern ihrer Freundinnen „die Muslimin“. In der Schule würde sie als „Islam-Expertin“ gefragt werden, warum Fatma aus der Parallelklasse mit 15 Jahren auf einmal Kopftuch trägt. Anders als Emilia würde sie nicht mit der Evangelischen Jugend die Erntekrone auf dem Dorfplatz schmücken, sondern vielleicht am „Tag der Offenen Moschee“ Besucher durch die umgebaute Fabrikhalle führen, die ihre Familie gemeinsam mit anderen Muslimen zum Beten nutzt. Die dortige Jugendarbeit würde nicht von einer fest angestellten Diakonin organisiert. Stattdessen würde die Sozialbehörde der Moscheegemeinde zeitlich begrenzte Jugendprojekte finanzieren, bei denen das Thema Islamismusprävention immer eine zentrale Rolle spielen müsste. Nach der Schulzeit stünden Layla dank verstärkter Bemühungen um interreligiöse und interkulturelle Öffnung prinzipiell zwar dieselben Möglichkeiten offen wie Emilia. Aufgrund engerer Netzwerke hätte sie aber vermutlich nichts von der Möglichkeit eines ökumenischen Auslandsdienstes gehört.
Am Ende bleibt ein ambivalentes Bild: Wo Emilia durch konfessionelle Strukturen aufgefangen, geleitet und ermuntert wird, ihren Interessen nachzugehen und sich auszuprobieren, fehlen Layla Räume, Personen und Angebote, die sie in gleicher Weise fördern und unterstützen könnten.
Große Heterogenität
Zwar sind die Beispiele von Emilia und Layla konstruiert. Doch sie zeigen, was fehlt, wenn Muslime als größte religiöse Minderheit in unserem Land nur eingeschränkten Zugang zu pädagogischen Einrichtungen, praktisch-theologischer Expertise oder sozialen Hilfesystemen haben, die ihren Bedürfnissen entsprechen und mögliche Defizite ausgleichen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie kann es gelingen und welche Unterstützung braucht es, damit muslimische Wohlfahrtsarbeit – analog und in Ergänzung zu den existierenden Angeboten und Strukturen – entstehen kann?
Seitdem die Deutsche Islamkonferenz das Thema 2015 auf ihre Agenda gesetzt hatte, gab es diverse Versuche zur Gründung muslimischer Wohlfahrtsverbände. Diese Bemühungen sind bislang nicht von Erfolg gekrönt. Dies liegt einerseits an der großen Heterogenität der muslimischen Landschaft in Deutschland. Anderseits sind alle bisherigen Initiativen in diese Richtung das Ergebnis von Top-down-Prozessen. Handelnde Personen sind überwiegend Verbandsfunktionäre und – im Fall der DITIB – sogar türkische Staatsbeamte. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur christlichen, jüdischen, sozialdemokratischen oder säkular geprägten Wohlfahrtspflege. Diese hat sich nämlich zunächst von unten her organisiert, und die Dachstruktur in Gestalt der heutigen sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege ist erst im Laufe der Zeit entstanden. Grundsätzlich ist diese Entwicklung auch im muslimischen Kontext möglich. Das zeigt die Entwicklung der Moscheelandschaft. Muslimische Gebetshäuser sind fast ausschließlich aus lokalen Initiativen entstanden. Erst später haben sie sich Dachverbänden angeschlossen oder verbandsunabhängige Zusammenschlüsse, wie die Schuren in Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein, gegründet.
Es gibt mehrere Gründe, warum sich dieser Prozess im Wohlfahrtsbereich bislang nicht wiederholt hat. Zum einen ist das Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zum Islam immer noch ungeklärt. Denn obwohl seit den Anwerbeabkommen mit muslimischen Ländern in den 1960er-Jahren inzwischen mehrere Millionen Muslime hier zu Hause sind, wird ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und die ihrer Religion von großen Teilen der Gesellschaft immer noch in Frage gestellt. Daraus folgt ein weiteres Problem: Viele Initiativen und Vereine, die mehrheitlich oder ausschließlich von Muslimen getragen werden und deren Angebote sich primär an eine muslimische Klientel richten, möchten nicht als muslimisch oder gar islamisch deklariert werden. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass ein solches Labeling von Nachteil ist, wenn es um Fördergelder oder Kooperation mit nicht-muslimischen Einrichtungen geht. Stattdessen werden vermeintlich unproblematische Bezeichnungen wie ‚Multikulti-Kindergarten‘ oder ‚Kultursensibler Pflegedienst‘ gewählt.
Diese Entwicklung ist aber in mehrfacher Hinsicht problematisch. Muslimen wird gespiegelt, dass ihre Religion etwas Negatives sei. Sie machen die Erfahrung, dass, wenn sie beruflichen Erfolg haben wollen, sie ihre Glaubensüberzeugung besser verbergen oder zumindest nicht „an die große Glocke hängen“ sollten. Dadurch erhalten die motivierenden Kräfte des eigenen Glaubens und der persönlichen Religiosität aber keinen Raum zur Entfaltung. Auch der nicht-muslimischen Mehrheit geht damit viel verloren.
Eine weitere Hürde besteht in der Hochschwelligkeit des Versorgungssystems. Unabhängig von Religion und Weltanschauung ist es für Wohlfahrtsangebote schwer, eine Anerkennung als Kinder- und Jugendhilfeträger zu erhalten. Dies ist aber die Voraussetzung, um staatlich gegenfinanzierte Jugendsozialarbeit, Kindertagesbetreuung, Hilfen zur Erziehung oder Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderung anbieten zu können – von den Voraussetzungen für den Aufbau von Pflegeheimen, Hospizen und Krankenhäusern ganz zu schweigen.
Gegenwärtig lautet die evangelisch-diakonische Antwort darauf meist – in zugegeben zugespitzter Form: Das mag ja alles so sein, und es würde auch nicht stören, wenn es neben evangelischen, katholischen, jüdischen und nicht-konfessionell ausgerichteten Wohlfahrtsstrukturen auch muslimische gäbe. Aber warum sollte uns das interessieren? Warum sollten gerade wir proaktiv tätig werden?
Dafür gibt es – mindestens – sechs Gründe, die in Ansätzen bereits im „Positionspapier der EKD zum christlich-islamischen Dialog“ skizziert werden:
Von Ängsten bestimmt
Erstens: Nur durch Begegnung und Kontakt kann das friedliche Miteinander unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen Gestalt gewinnen. Untersuchungen zeigen, dass christliche Wohlfahrtsangebote hohes Vertrauen genießen. Entsprechend könnte eine islamische Wohlfahrtsarbeit eine Seite des Islam sichtbar werden lassen, die in der oftmals von Ängsten bestimmten deutschen Islamdebatte zu wenig wahrgenommen wird.
Zweitens: Die Zahl von Menschen mit Migrationsgeschichte wächst, darunter viele Muslime. Das Grundgesetz garantiert freie Religionsausübung. Für dieses Recht haben die Kirchen in der Vergangenheit intensiv gerungen. Heute ist es evangelische Überzeugung, dass der christliche Glaube nur dann frei vertreten werden kann, wenn andere Religionsgemeinschaften das gleiche Recht haben.
Drittens: Das Integrationsparadigma wird zunehmend abgelöst vom Recht auf Teilhabe: Muslime müssen nicht so werden wie der Rest der Gesellschaft. Sie können durch ihr Anderssein Impulse in das allgemeine Zusammenleben einbringen und es dadurch bereichern. Diese Entwicklung löst bei vielen Menschen Ängste aus. Islamische Wohlfahrtsarbeit, die auch nichtmuslimischen Menschen offensteht, kann diese Ängste konstruktiv aufnehmen. Gleichzeitig kann sie bei der Einübung in Pluralitätsfähigkeit auf allen Seiten eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen. Gerade weil die Kirchengeschichte nicht frei davon ist, neue religiöse und gesellschaftliche Impulse abzuwehren, kommt der evangelischen Kirche hier eine besondere Verantwortung zu.
Viertens: Religiosität wird in Deutschland insgesamt immer kritischer beurteilt. Deswegen gilt es, die religiöse Neutralität des Staates gegen Versuche zu verteidigen, Religionen ganz oder teilweise aus ihrer Mitwirkung im öffentlichen Bereich auszuschließen. Dies gilt auch und gerade dort, wo es komplexe Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse braucht. Nur so kann eine Wohlfahrtspflege gedeihen, die die Potenziale möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppen ausschöpft. Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus ist die Garantie des profilierten Angebotspluralismus im sozialen Markt Grundsatz des bundesdeutschen Verfassungsrechts und des Sozialgesetzbuchs. Nur wer eine Wahl hat, ist frei, sich selbst für ein Angebot zu entscheiden.
Fünftens: Religionsübergreifende Zusammenarbeit in der Wohlfahrtspflege, wie sie im christlich-jüdischen Bereich selbstverständlich ist, könnte es Muslimen erleichtern, ihre Religion auf eine für alle gewinnbringende Art und Weise in das säkulare Gemeinwesen einzubringen. In den 1960er-Jahren hat der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit Blick auf die Kirchen gesagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es ist dringend geboten, dass diese Forderung in unserer zunehmend religionspluralen Gesellschaft auch für die über fünf Millionen Muslime in Deutschland Geltung bekommt.
Andere Prioritäten
Sechstens: Interreligiöse Zusammenarbeit im Wohlfahrtsbereich kann Verstehensprozesse unterstützen. Nach der Kontakthypothese nehmen Vorurteile ab, wenn sich Menschen persönlich begegnen. In einer Umfrage der EKD haben über 60 Prozent der Befragten erklärt, dass die Evangelische Kirche den Dialog mit Muslimen verstärken sollte. Diese Forderung entspricht der Haltung der EKD, dass interreligiöser Dialog zum ‚Wesen der Kirche‘ gehört. Zusammenarbeit im Bereich der Wohlfahrtspflege wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Wenn so viel für den Aufbau von professionellen, sozialrechtlich gesicherten muslimischen Wohlfahrtsstrukturen in Deutschland spricht, stellt sich die Frage: Warum wird in diesem Bereich nicht mehr getan? Ein Grund mag sein, dass man sich schlichtweg nicht genug kennt und zu wenig voneinander weiß. Es gibt aktuell keine offiziellen Austausch- oder Begegnungsformate zwischen muslimischen und diakonischen Verantwortungsträgern. Hier bietet sich eine Chance, um das Thema mittel- bis langfristig für die Diakonie zu besetzen. Ein weiterer Grund ist, dass es aktuell andere Prioritäten gibt: Steigende Energiepreise, Fachkräftemangel, demografischer Wandel – diese Herausforderungen fordern den etablierten Wohlfahrtsverbänden viel ab. Demgegenüber kann die Unterstützung beim Aufbau muslimischer Strukturen schnell wie eine Zusatzaufgabe wirken, die perspektivisch zwar wichtig ist, gegenwärtig aber zu viele Kapazitäten kosten würde. Und schließlich ist zu erwarten, dass eine proaktive Beschäftigung mit dem Thema gesellschaftlich polarisiert. Folglich gibt es erst einmal wenig zu gewinnen. Solche Gründe sollten aber nicht verhindern, dass Evangelische Kirche und Diakonie mehr Initiative und Engagement an den Tag legen, um wichtige Impulsgeberinnen beim Aufbau muslimischer Wohlfahrtsstrukturen zu werden, denn soziale Gerechtigkeit wird dadurch gestärkt, dass die lebensfördernden Aspekte religiöser Überzeugungen immer wieder aufs Neue zur Geltung gebracht werden. Indem Evangelische Kirche und Diakonie diese Herausforderung annehmen, können sie wichtige, friedensstiftende Impulse in das religiöse Zusammenleben und die gesellschaftliche Kultur geben.
Von der kreativen, an Kooperation und Gemeinwohl, Teilhabe und Barrierefreiheit orientierten zukunftsweisenden Beschäftigung mit dieser Aufgabe könnten alle profitieren – egal, ob sie Emilia oder Layla heißen.
Ramzi Ghandour
Ramzi Ghandour hat Islam- und Politikwissenschaft studiert. In den letzten Jahren war er für diverse migrantische und muslimische Organisationen tätig. Aktuell arbeitet er für das Diakonische Werk Hamburg sowie für das Haus der sozialen Vielfalt in Leipzig, wo er am Aufbau einer Fachberatung zu Fragen des muslimischen Lebens für kommunale Verantwortliche mitarbeitet.
Sönke Lorberg-Fehring
Pastor Dr. Sönke Lorberg-Fehring ist Referent am Ökumenewerk in Hamburg und Beauftragter für den Christlich-Islamischen Dialog der Ev.-Luth Kirche in Norddeutschland.