Seine zweite Chance
Seit Ende Oktober ist Indonesiens neuer Präsident Prabowo Subianto im Amt. Trotz seiner fragwürdigen Rolle während der Suharto-Diktatur hoffen viele auf eine Forsetzung des ausgleichenden Kurses seines Vorgängers Joko Widodo – auch mit Blick auf die christliche Minderheit. Der Journalist Jörg Schmilewski blickt aus Australien auf den politischen Neuanfang in Indonesien.
Mit seiner Ende Oktober erfolgten Amtsübernahme hat der neue indonesische Präsident Prabowo Subianto eine zweite Chance bekommen. Denn er stand schon einmal weit oben in der politischen Hierarchie, aber auch im Zwielicht: Der frühere Armeegeneral und Schwiegersohn des 1998 gestürzten Diktators Suharto wird für Massaker und Menschenrechtsverletzungen in den damals von Indonesien besetzten Regionen Osttimor und Westpapua verantwortlich gemacht. Subianto soll Entführung und Folter von 22 Studenten veranlasst haben, von denen 13 für immer verschwanden. Die Entführung von neun Aktivisten gab er später zu, bestritt aber, Mordbefehle erteilt zu haben.
Gräueltaten des Militärs während der Suharto-Diktatur wurden nie aufgeklärt oder gerichtlich aufgearbeitet. Nach einem Machtkampf mit dem Armeechef und einem misslungenem Putschversuch wurde Subianto 1998 aus dem Militär entlassen. Bis heute steht der Sohn einer protestantischen Christin, der sich selbst als Muslim und Nationalist bezeichnet, gewaltbereiten islamistischen Fundamentalisten nahe. In den USA und in Australien hatte er jahrelang Einreiseverbot. Vor dem Hintergrund dieser düsteren Vergangenheit und einer unklaren Gegenwart verlangt Amnesty International von Subiantos Regierung, auf alle Formen von Unterdrückung zu verzichten, die Menschenrechte in Indonesien zu garantieren und gegenüber früheren Opfern von Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit walten zu lassen.
Dass Subianto nun, mit 73 Jahren, sein über viele Jahre verfolgtes Ziel erreicht hat, Präsident zu werden, verdankt er nicht zuletzt seinem Amtsvorgänger Joko Widodo, der nach zehn Jahren im höchsten politischen Amt Indonesiens turnusgemäß abtreten musste. Widodo war seit 2014 der erste demokratisch gewählte Präsident Indonesiens, dessen Macht nicht aus der Nähe zu früheren Diktatoren oder Militärs hervorging. 2019 gab Widodo seinem langjährigen politischen Konkurrenten und Widersacher Subianto die Möglichkeit, als Verteidigungsminister ins Kabinett einzutreten. Eine solche Besetzung von Regierungsämtern mit Politikern verschiedener Lager und früherer Militärs, die sich gegenseitig balancieren, gilt in Indonesien als klassische und clevere Strategie, die sich schon javanische Könige zu Nutzen machten.
Von Nepotismus geprägt
Ganz im Sinne dieser Strategie gelang es Widodo, der mit 75 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung auch nach Ende seiner Amtszeit als beliebtester Politiker seines Landes gilt, seinen 37-jährigen Sohn Gibran Rakabuming Raka als Vizepräsident an der Seite von Prabowo Subianto zu platzieren. In dem von Nepotismus geprägten Indonesien mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung von derzeit 280 Millionen Menschen verspricht diese Aufstellung Kontinuität. Mit Widodos wirtschaftsfreundlichem und gesellschaftspolitisch moderatem Kurs dürfte es also zunächst weitergehen – zumindest solange auch das neue Führungsduo Bestand hat.
Religiöse Konflikte
Traditionell gilt Indonesien als Beispiel für einen moderaten Islam. Besonderheit des südostasiatischen Staats sind fünf Prinzipien in der Präambel der Verfassung, die „Pancasila“ genannt werden. Es sind dies: soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Humanismus, nationale Einheit sowie der Grundsatz, dass alle Indonesier einer der fünf großen Weltreligionen angehören sollen. 87 Prozent der Bevölkerung, die fast so groß ist wie die der USA, sind Muslime. Christen bilden mit einem Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent die größte religiöse Minderheit. 1998 endete die Diktatur Suhartos, seit den Parlamentswahlen 2004 wird Indonesien weltweit als Demokratie anerkannt.
Joko Widodo hat es seit 2014 geschafft, religiöse Konflikte zu deeskalieren und den Terror zurückzudrängen, da sich seine Regierung mit den beiden größten muslimischen Organisationen erfolgreich bei Maßnahmen gegen Islamisten abstimmen konnte. Dennoch bleiben Verfolgung und Unterdrückung der christlichen Minderheit ein evidentes Problem im Land. 2016 und 2017 marschierte die „Front der Verteidiger des Islam“ (Front Pembela Islam/FPI) auf Großkundgebungen in den Straßen und erreichte ihr Ziel, Widodos politischen Weggefährten und Nachfolger im Amt des Gouverneurs der Region Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama (Kurzname: Ahok), aus dem Amt zu drängen. Ahok zählt im doppelten Sinne zur Minderheit in Indonesien, er ist Christ und zugleich chinesischer Herkunft. Islamisten beriefen sich auf den Koran, als sie Muslimen untersagten, Ahok wiederzuwählen. 2017 wurde er wegen behaupteter Gotteslästerung verurteilt und saß bis Anfang 2019 im Gefängnis. Auch Joko Widodo selbst wurde in dieser Zeit zum Ziel wütender Proteste von Islamisten und sah sich genötigt, mit einer Pilgerreise nach Mekka seine muslimische Frömmigkeit zu beweisen. Bei den Wahlen 2019 nominierte er den konservativen Geistlichen Ma’ruf Amin zu seinem Vize-Präsidenten. Damit stellte sich Widodo Kritikern entgegen, die seine religiöse Glaubwürdigkeit in Frage gestellt hatten.
Scharia-Recht eingeführt
Insbesondere christliche Konvertiten muslimischer Herkunft in der Provinz Aceh, an der Nordspitze der Insel Sumatra, fühlen sich verfolgt. Dort wurde vor wenigen Jahren das Scharia-Recht wieder eingeführt – mit teils drakonischen und entwürdigenden Strafen, etwa bei Ehebrüchen. Kirchen mit missionarischem Eifer bleiben ein Angriffsziel extremistischer Muslime, auch in anderen Regionen Indonesiens. Die Mitgliederstärke christlicher Gemeinden werde von Muslimen genau beobachtet, mahnt die Nichtregierungsorganisation Open Doors, festgestellte Zuwächse hätten oft gewaltsame Aktionen von Muslimen zur Folge. Genehmigungen für Kirchenneubauten würden – wenn überhaupt – nur sehr zögerlich erteilt.
Gewalt gegen Christen geht oft sogar von Beamten der Lokalregierungen aus. Beobachter befürchten, dass sich verschiedene Formen des Autoritarismus unter Prabowo Subianto erneut ausbreiten könnten. Eine neue Strafgesetzgebung, die 2026 wirksam wird, droht die Religionsfreiheit einzuschränken. Viele Christen in Indonesien scheuten davor zurück, ihre Meinung frei zu äußern, da diese schnell als islamfeindlich ausgelegt werde. Sie verzichteten auch darauf, ihren Glauben mit anderen zu teilen, betont Open Doors.
Markus Vogel vom Christlichen Missionsdienst (CMD) ist kürzlich aus Indonesien nach Europa zurückgekehrt. In den Provinzen Ost-Java und Kalimantan betreut das CMD-Kinderhilfswerk 300 Kinder muslimischen und christlichen Glaubens nach dem Schulbesuch. Zwar hätten viele Regionen Indonesiens eine liberal ausgerichtete Bevölkerung, meint Vogel, es gebe aber auch konservativ-islamistische Strömungen. Christliche Kirchenvertreter müssten in ihrem Auftreten und bei ihrer Arbeit deshalb „sehr vorsichtig“ sein und zwischen verschiedensten Kulturen jonglieren. Prabowo Subianto, der die Armut bekämpfen wolle, habe kostenlose Mittagessen für alle indonesischen Schulkinder versprochen, berichtet Markus Vogel und meint: „Damit punktet er bei der jüngeren Gesellschaft.“ An der erfolgreichen Umsetzung dieses Vorhabens werde Subianto gemessen werden; 6,5 Milliarden Euro soll es allein in seinem ersten Amtsjahr kosten.
Wie Markus Vogel hofft auch Agus Gunawan, Pastor der baptistischen Kirche Bethany Sydney in der Millionenstadt an der australischen Ostküste, auf ein verbessertes Zusammenleben von Muslimen und Christen unter dem neuen Präsidenten. Schließlich habe Subianto im Exil in Jordanien gelebt, das für einen moderaten Islam stehe, meint Gunawan.
In Sydney kümmert sich Gunawan um eine rund 400 Menschen zählende christliche Gemeinde ausgewanderter Indonesier. Er lebt seit 29 Jahren in Australien, kehrt aber einmal im Monat in sein Heimatland zurück, „um dort zu beten“. „Ich habe Prabowo Subianto selbst gewählt“, erzählt Gunawan, Vorbehalte gegen den neuen Präsidenten will er nicht gelten lassen. Subianto sei zwar „ein Nationalist und Rechtspopulist“, aber schließlich „kein radikaler Extremist oder Wahhabit“.
Hoffnung auf Wandel
In deutschen Medien war das Bild des Islam in Indonesien über viele Jahre von Fundamentalisten und islamistischen Terroristen geprägt. Doch nun, am Ende der Ära Widodo, besteht Hoffnung auf Wandel und Umkehr. „Jemaah Islamiyah“, vor wenigen Jahren noch als gefährlichste Terrororganisation Südostasiens eingestuft, hat mit einer Erklärung am 30. Juni die Waffen niedergelegt, der Gewalt abgeschworen und die Organisation aufgelöst. In den letzten Jahren haben indonesische Sicherheitsbehörden rund 900 Mitglieder von Jemaah Islamiyah verhaftet und zu teils langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Eine eigens eingerichtete Anti-Terror-Truppe der Regierung konnte Waffen, Munition und Sprengstoffe der Islamisten sicherstellen.
Fast 1 400 Menschen sind seit den 1980er-Jahren bei Terroranschlägen in Indonesien ums Leben gekommen. Beim verheerendsten Terrorakt im Oktober 2002 starben 202 Menschen auf der Insel Bali, darunter 88 Australier. Para Wijayanto, bis 2018 Anführer von Jemaah Islamiyah, verbüßt derzeit in Jakarta eine siebenjährige Gefängnisstrafe. In einem Interview mit der Tageszeitung The Australian entschuldigte sich Wijayanto für begangene Verbrechen und sagte, Jemaah Islamiyah hätte den Islam „mit friedlichem Verhalten und nicht mit Terrorgewalt“ voranbringen sollen. „Hass“, räumt er heute ein, habe die Terrororganisation geleitet. Aber: „Wir haben uns geändert“, sagt Wijayanto und will Opfer der Anschläge persönlich treffen, „um einen Weg zur Wiedergutmachung für das Böse, das geschehen ist, zu finden.“
Vertrauen zurückgewinnen
In vielen Fällen ist ein solches, versöhnendes Gespräch aber nicht mehr möglich – so wie im Fall von Garth McEvoy (dem früheren Nachbarn des Autors dieses Beitrags im australischen Brisbane). Er war 2009 für ein deutsches Bauunternehmen in Indonesien unterwegs, als in seinem Hotel eine Bombe von Jemaah Islamiyah hochging. Garth McEvoy hat den Anschlag nicht überlebt. Wijayanto sagt – und man möchte das gerne glauben –, 80 Prozent der Mitglieder von Jemaah Islamiyah hätten der Auflösung des Terrornetzwerks zugestimmt. Mit dieser Transparenz wolle man Vertrauen in der indonesischen Gesellschaft zurückgewinnen.
Ziel des Terrors der Dschihadisten war über viele Jahre die Errichtung eines Kalifats in Südostasien, das sich von Indonesien über Singapur, Malaysia bis in den Süden der Philippinen erstrecken sollte. Obwohl Jemaah Islamiyah nun der Gewalt abschwört, sind in Indonesien und auf den Philippinen weiterhin Zellen und Einzelkämpfer des so genannten Islamischen Staat (IS) aktiv. Zuletzt kam es 2020 in der Provinz Sulawesi zu einem besonders grausamen Terrorakt, als Dschihadisten des IS auf der Kraken-förmigen Insel östlich von Borneo vier Menschen christlichen Glaubens enthaupteten. Laut Sidney Jones, Direktorin des Institute for Policy Analysis of Conflict in Jakarta, sei die Terrorgefahr inzwischen aber „deutlich geringer als noch vor zehn Jahren“. Ideologische Differenzen indonesischer Islamisten mit dem IS hätten diese positive Entwicklung begünstigt.
Jörg Schmilewski
Jörg Schmilewski ist Journalist. Er lebt in Australien.