Auf der Suche nach einem Spruch für meine Weihnachts- und Neujahrskarte bin ich im Denktagebuch der Hannah Arendt fündig geworden: „Alles, was beschlossen wird, wird zwischen Menschen beschlossen und gilt, solange dies Zwischen gilt.“ Als Juristin und glühende Verfechterin des Rechtsstaats bin ich stets auf der Suche nach dem, was hinter, vor oder eben auch zwischen den Normen gilt. Das Phänomen, dass der Buchstabe des Gesetzes zu ungerechten Ergebnissen führen kann, die Tatsache, dass Regelungen kontextabhängig sind und bei gleichem Wortlaut verschiedene Bedeutungen haben können, der Umstand, dass eine Intention des Gesetzgebers ein Gesetz im einen Land als akzeptabel, im anderen als eine Zumutung erscheinen lässt: All das ist schwer zu erklären. Es hängt in der Sprache von Arendt am Zwischen. Dieses Zwischen ist eine Verbindung zwischen den Menschen, die eine Leerstelle füllt. Es ist eine Gemeinsamkeit im Mensch-Sein, eine, die aufgeladen ist mit dem Nicht-Greifbaren. Das Zwischen ist etwas Unausgesprochenes, Nicht-Fassbares, aber doch Existentes. Ich würde nicht so weit gehen, es als heiligen Moment des Rechtsstaates zu bezeichnen (und das Zwischen damit in diesen Heftschwerpunkt einzupassen). Aber es kommt dem Unausgesprochenen, dem Unaussprechlichen im Heiligen doch nahe.
Hannah Arendt diskutiert das Zwischen im Zusammenhang mit dem Gewissen, das ja vielleicht die kleine Schwester des Heiligen ist. Auch das Gewissen ist schwer zu fassen und doch setzen wir es voraus; es ist ein universelles Moment des Menschseins.
Das Zwischen, das Gewissen, und in einem übertragenen Sinne das „Heilige“: Das sind die ungeschriebenen Regeln, ohne die geschriebene Regeln obsolet werden. Es ist das, was der Rechtsstaat voraussetzen muss, will er bestehen, es ist das, was er, um mit Böckenförde zu sprechen, zugleich nicht einfordern kann.
Wir sehen, was passiert, wenn das Zwischen aufgekündigt wird: Parlamentarische Regeln werden dann zur Farce, das Sagbare wird zum Unsäglichen verschoben und die Welt in scharfe Segmente geteilt, die nicht mehr jedermann zugänglich sind. Wenn das Zwischen aufgekündigt wird, wird das Menschliche beliebig und manipulativ formbar. Das Entmenschlichen von Menschen ist die Technik, die Kriegsherren anwenden, um das Gewissen der Kämpfer auszuschalten. Ohne das Entfernen des Zwischen wäre auch der Gegner noch ein Mensch und fiele es schwerer, ihm entmenschlicht das Lebensrecht abzusprechen.
Schwere Kost also, dieses Zwischen. Und doch: Es ist in uns angelegt, es ist als überlebenswichtiges Prinzip menschlicher Gemeinschaft und menschlicher Existenz unentbehrlich und als Prinzip unzerstörbar. Ich habe Vertrauen in dieses Zwischen, ich arbeite daran und möchte es mit Tun füllen. Ich bin, kurzum, sehr froh, dass Hannah Arendt mir dieses Wort geschenkt und meine Weihnachtskarte und die guten Wünsche für 2025 trotz aller Sorgen gerettet hat. Deshalb, liebe Leserin, lieber Leser, statt Karten an Sie alle: „Alles, was beschlossen wird, wird zwischen Menschen beschlossen und gilt, solange dies Zwischen gilt“. Ihnen wünsche ich eine erfüllte Zeit des Advents!
Bettina Limperg
Bettina Limperg (*1961) ist seit 2014 Präsidentin des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. 2021 war evangelische Präsidentin des 3. Ökumenischen Kirchentages in Frankfurt/Main und seit 2023 ist sie Herausgeberin von zeitzeichen.