Zwischen Verklärung und Verdammung
Einer historischen Person gerecht zu werden, ohne sie zu verklären oder zu verdammen, ist so einfach nicht. Wie steht es um Otto Dibelius, der wie kaum ein anderer die evangelische Kirche im vergangenen Jahrhundert prägte? Der Koblenzer Professor für Kirchengeschichte, Thomas Martin Schneider, hat sich einen jüngst erschienenen Sammelband vorgenommen, der sich der „protestantischen Jahrhundertfigur“ widmet.
Wie wird man einer Person der Kirchengeschichte gerecht, ohne sie in hagiografischer Weise zu verklären oder in unhistorischer Weise aus der Warte der Nachgeborenen – die es immer besser wissen müssen – zu verdammen? Dieses Problem verschärft sich bei Personen der Zeitgeschichte, weil die eigentlich nötige Distanz fehlt, so dass das Problem der Deutung und Wertung besonders massiv begegnet. Nicht selten sagt die Rezeptionsgeschichte – mittlerweile selbst Gegenstand kirchlicher Zeitgeschichtsforschung – mehr über die Rezipierenden und deren aktuelle Interessen aus als über die Rezipierten.
Nach 1945 war es zunächst vor allem Wilhelm Niemöller, der sich der Aufarbeitung des so genannten Kirchenkampfes widmete, dabei „eine familiennahe Hagiografie“ (Christiane Kuller) pflegte und dafür sorgte, dass sein Bruder Martin bis heute „geradezu als Inkarnation der B[ekennenden] K[irche] gilt“ (Norbert Friedrich). Schon 1958 verfasste Friedrich Baumgärtel eine scharfe Kritik „Wider die Kirchenkampflegenden“. Mit Hilfe von zahlreichen Quellenzitaten wies er auf „die anfängliche Verstricktheit bedeutsamer Führer der BK in das nationalsozialistische Gedankengut“ hin. Hierbei war ihm wichtig herauszustellen, dass prinzipiell nicht zwischen den beiden Flügeln der BK unterschieden werden könne. Ja, mehr noch, die Repräsentanten des lutherischen Flügels bekannten sich, so Baumgärtel, „niemals [so] zu Hitler […], wie das […] die Brüder Niemöller und andere“ taten.
Ab 1955 wurde die Kirchengeschichte der NS-Zeit von der EKD-„Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes“ gründlich aufgearbeitet. Spiegelten die Forschungen zunächst die Deutungskämpfe der Erlebnisgeneration, wurden sie seit der 1970 erfolgten Umbenennung der Kommission in „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ deutlich professioneller, interdisziplinärer und kritischer. Ende der 1980er-Jahre entbrannte ein heftiger Methodenstreit, der letztlich wenig ergiebig war, aber von der wissenschaftlichen Unabhängigkeit und Pluralität der Perspektiven und Forschungsansätze zeugte. Seit den 1990er-Jahren sind bisherige „Kirchenkampf-Helden“ zunehmend kritisch hinterfragt worden. Dabei kam es zu notwendiger Entmythologisierung, aber auch zu historisch fragwürdigen Reaktionen auf Grund anachronistischer moralischer Maßstäbe. Besonders hart traf es den bayerischen Bischof Hans Meiser, dem vor allem antijüdische Äußerungen aus dem Jahre 1926 zur Last gelegt wurden und der unter anderem durch Umbenennungen von nach ihm benannten Straßen – zuletzt ausgerechnet in Bayreuth, der Stadt des radikalen Antisemiten Richard Wagner – geradezu einer damnatio memoriae anheimfiel. Der Kirchenhistoriker Harry Oelke konstatierte 2008, dass schon in den 1990er-Jahren unter anderen von Carsten Nicolaisen ein sachgemäßes differenziertes Bild Meisers auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitet worden sei, dass sich aber die damalige Prognose einer Versachlichung und Entspannung der Debatte nicht nur nicht erfüllt habe, sondern dass es vielmehr zu einer immer weiteren Steigerung der affektgesteuerten Moralisierung gekommen sei. Daran änderte selbst die ausgezeichnete Meiser-Biografie von Nora Andrea Schulze von 2021 nichts. Sehr kritisch beurteilt wurden außer Meiser mittlerweile etwa auch der im Konzentrationslager zu Tode gekommene Pfarrer Paul Schneider (vergleiche die Arbeiten von Folkert Rickers 2004–2007) oder Martin Niemöller (vergleiche die Biografie von Benjamin Ziemann von 2019), ohne dass es bisher zu vergleichbaren Reaktionen wie bei Meiser gekommen wäre.
Ein facettenreiches Bild
Der Systematische Theologe Friedrich Wilhelm Graf warf Karl Barth bereits 1986 vor, er habe vor 1933 mit seiner antiliberalen Kulturkritik „faktisch demokratierelativierend gewirkt“, und die promovierte Philosophin und Autorin Sabine Dramm plädierte 2005/06 dafür, selbst Dietrich Bonhoeffer, den wohl bekanntesten und strahlendsten „Kirchenkampf-Helden“, endlich von der „Patina der Ikonisierung“ zu befreien.
2022 widmete sich eine Tagung in Marburg unter Leitung des Neutestamentlers Lukas Bormann und des Allgemeinhistorikers Manfred Gailus der „protestantischen Jahrhundertfigur“ Otto Dibelius, der als Pfarrer, Generalsuperintendent, Bischof und EKD-Ratsvorsitzender von 1906 bis 1966 das evangelische Kirchentum in Deutschland prägte; die Tagungsbeiträge liegen nun als Buch vor. Die 1989 erschienene Biografie des Kirchenhistorikers Robert Stupperich gilt heute als unzulänglich und apologetisch, was wegen des hohen Lebensalters des Verfassers und seiner Nähe zu Dibelius als dessen ehemaliger Mitarbeiter nicht verwundern kann. Das gilt sicher nicht für die gelehrte Studie von Hartmut Fritz von 1998 zu Dibelius’ Wirken in der Zeit der Weimarer Republik sowie für verschiedene einschlägige Aufsätze. Das neue Buch erhebt den Anspruch, „ein Kompendium zu Leben und Wirken“ von Dibelius zu sein, dabei „die dunklen Seiten“ nicht auszusparen und „an vielen Stellen zu einer Neubewertung“ zu gelangen.
Tatsächlich zeichnen die – neben Einführung und Kommentar – 16 Beiträge ein facettenreiches Bild. Behandelt werden unter anderem verschiedene Lebensphasen, aber auch Dibelius’ Einstellung zum Judentum, sein publizistisches Wirken, sein Verhältnis zu Polen, seine Haltung zur „Frauenfrage“ und zur Wiederbewaffnung, seine Gegner beziehungsweise Antipoden. Das Urteil fällt ambivalent aus. Grob zusammengefasst lassen sich zwei sehr unterschiedliche Narrative rekonstruieren – ich beziehe mich im Folgenden explizit auf konkrete Aussagen in den Beiträgen.
Ambivalentes Urteil
Erstens: Otto Dibelius war tief im Nationalprotestantismus verwurzelt, konnte sich mit der ersten deutschen Demokratie nie anfreunden, agitierte im Gegenteil gegen diese, verfolgte revanchistisch-reaktionäre Ziele (Lukas Bormann), und seine nachhaltige judenfeindliche Einstellung überschritt bisweilen die Grenze zum Rassenantisemitismus (Andreas Pangritz). Er begrüßte die nationalsozialistische Machtübernahme, symbolträchtig in seiner Predigt am „Tag von Potsdam“, geriet mit den Nationalsozialisten, genauer mit den „Deutschen Christen“, nicht aus politisch-ideologischen, sondern lediglich aus kirchenpolitischen Gründen in Konflikt und engagierte sich allenfalls halbherzig in der BK (Manfred Gailus). Nach 1945 stilisierte er sich selbst fälschlich zum Widerständler und blieb seiner nationalprotestantisch-lutherischen Überzeugung im Wesentlichen treu. Als autoritärer Machtmensch (Benedikt Brunner) gelangte er in führende kirchliche Positionen, die er, unbeirrt bis ins hohe Alter, nicht abzugeben bereit war. Im beginnenden Kalten Krieg war er nicht zu Kompromissen fähig, goss vielmehr Öl ins Feuer, indem er einseitig Konrad Adenauers Kurs der Westbindung und Wiederbewaffnung unterstützte und der DDR-Regierung die Legitimation absprach (Manfred Gailus). Auch für die Anliegen der Frauenemanzipation hatte er lange kein Verständnis (Jolanda Gräßel-Farnbauer). Das lange Zeit dominierende positive Dibelius-Bild war eine interessengeleitete Konstruktion der „Dibelius-Macher“ (Lukas Bormann/Manfred Gailus).
Zweitens: Otto Dibelius war ein engagierter Seelsorger und talentierter Organisator, der seine Kirche liebte, kaum Spuren eines manifesten Antisemitismus hinterließ und sich durch den schottischen Calvinismus zu modernen Reformen insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit inspirieren ließ (Albrecht Beutel). Seine theologische Prägung erhielt er im Wesentlichen durch den liberalen Kulturprotestanten Adolf von Harnack. Sein Nationalismus war deutlich weniger ausgeprägt als der seiner Zeitgenossen und eigentlich nicht völkisch. Im Ersten Weltkrieg warnte er vor Hass, kritisierte die unwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen durch deutsche Soldaten und rief zur Buße auf. Nachdem er zunächst die Revolution von 1918 verurteilt hatte, begrüßte er bald die Zeitenwende, begriff das Ende des landesherrlichen Kirchenregimentes als Chance für die Unabhängigkeit der Kirche, verteidigte die internationale Rechtsordnung des Völkerbundes, engagierte sich in der ökumenischen Bewegung und setzte sich, obgleich selbst kein Pazifist, schon zur Zeit der Weimarer Republik für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein (Wolf-Friedrich Schäufele). Bereits im Juni 1933 wurde er seines Amtes enthoben – übrigens waren einzelne Formulierungen von Dibelius’ Predigt am „Tag von Potsdam“ den Nationalsozialisten durchaus übel aufgestoßen und führten zu einem „Kesseltreiben“ gegen ihn (Hartmut Fritz 1998). Anschließend arbeitete er aktiv in der BK mit, wie im brandenburgischen Bruderrat; auch an der Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen nahm er – übrigens nicht nur als Gast (so Manfred Gailus) – teil und stellte sich schützend vor als nicht-„arisch“ geltende Mitarbeiter (Andreas Pangritz). 1945 war er einer der Verfasser der Stuttgarter Schulderklärung. In den Wirren des kriegszerstörten und später geteilten Berlin übernahm er rasch und tatkräftig zupackend als dienstältester Generalsuperintendent Verantwortung; eine große Mehrheit der Synodalen, auch aus dem Osten, unterstützte ihn (Claudia Lepp). Als Gründungsmitglied der Berliner CDU bekannte er sich zur freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes und zu einer wehrhaften Demokratie. Auf Grund seiner Erfahrungen aus der NS-Zeit wandte er sich mit deutlichen Worten gegen die DDR-Diktatur und deren Menschenrechtsverletzungen, einschließlich der Diskriminierung von Christinnen und Christen; als EKD-Ratsvorsitzender verfolgte er oft einen vermittelnden Kurs und hielt sich etwa bei der Frage der Frauenordination zurück, weil er den Landeskirchen keine Vorschriften machen wollte (Siegfried Hermle); am Ende seiner Tätigkeit ordinierte er sogar selbst Frauen (Jolanda Gräßel-Farnbauer) – lange bevor das zum Beispiel in Schaumburg-Lippe möglich war.
Feine Farbschattierungen
Die Wahrheit, wenn es sie denn überhaupt in der Historiografie geben sollte, liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Das haben die allermeisten Beiträge im Blick. Unverständlich ist, dass die beiden Herausgeber bereits in der Einführung ziemlich einseitig für das erste Narrativ Partei ergreifen – deutlicher auch als der Tagungsbeobachter Hartmut Lehmann, der differenzierter urteilte – und somit gleich vorab die Deutungshoheit beanspruchen: Der „verhängnisvollen Entwicklung“, „auf die Verbindung mit völkischen Ideologien und dann zunehmend auch auf die NSDAP“ zu setzen, sei Dibelius „nicht nur bereitwillig gefolgt“, sondern er sei „ihr führend vorangeschritten“, was nicht einfach von der Hand zu weisen und gut begründet sei. Die Lektüre des Buches liefert gute Gründe, solche Verdikte als überzogen und unterkomplex zu bezeichnen. Ebenso unverständlich ist der mehrfach in dem Buch angestellte Vergleich etwa mit Martin Niemöller, dem im Unterschied zu Dibelius von den Herausgebern „ethischer und theologischer Weitblick“ attestiert wird. Wer die Niemöller-Biografie von Benjamin Ziemann gelesen hat, wird das kaum nachvollziehen können. Das echte Leben ist eben nicht schwarz-weiß. Darum gewinnen auch die Lebensbilder historischer Gestalten durch möglichst feine Farbschattierungen – über die man diskutieren und die man immer weiter verfeinern kann. Das bewahrt auch vor hagiografischer Verklärung wie vor selbstgerechtem Verdammen.
Literatur
Lukas Bormann/Manfred Gailus (Hg.): Otto Dibelius. Verlag Mohr Siebeck Tübingen 2024, 421 Seiten, Euro 99,–.
Thomas Martin Schneider
Dr. Thomas Martin Schneider ist apl. Professor am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Koblenz