Das aufmerksame Fernsehpublikum traute seinen Ohren nicht, als am Abend nach der Wahl von Kirsten Fehrs zur Vorsitzenden des Rates der EKD TV-Sprecher Constantin Schreiber in der 20-Uhr-Tagesschau der ARD mit wohlgesetzter Stimme verlas, Fehrs sei „mit 97 zu 130 Stimmen“ in den Vorsitz gewählt worden. Wie bitte, mit nur 42 Prozent der Stimmen von Synode und Kirchenkonferenz? Geht Minderheitenschutz im Raum der EKD so weit, dass es hier keine absolute Mehrheit braucht? Natürlich nicht. In der Grundordnung der EKD steht, dass für die Wahl des Ratsvorsitzes eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Und natürlich war Fehrs mit 97 von 130 Stimmen gewählt worden und hatte damit sogar knapp 75 Prozent der Stimmen erreicht, also eine Dreiviertelmehrheit.
Man könnte diese kleine Panne als Petitesse abtun – wahrscheinlich hat sich in der tagesaktuellen Hektik jemand beim Sprechzettel für Schreiber verschrieben (einer KI wäre das bestimmt nicht passiert). Man kann es aber auch als Sinnbild dafür sehen, dass die EKD und ihre Synode in der Aufmerksamkeitsökonomie der Medien ziemlich zurückgefallen sind. Während es in früheren Jahren öfter noch kurze Interviews mit neugeählten Ratsvorsitzenden gab, begnügte sich die Tagesschau an jenem 12. November mit gut 30 Sekunden und verzichtete auf einen O-Ton von der gewählten Bischöfin.
Inhaltlich wurde lediglich gesagt, sie wolle sich „weiter für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche“ einsetzen. Das stimmt, und das ist auch gut so. Aber es ist bezeichnend, dass dies das einzige Thema zu sein scheint, was säkulare Medien in Sachen evangelischer Kirche zu interessieren scheint. Das Schwerpunktthema „Flucht und Migration“ hingegen, das ansprechend (wenn auch einseitig!) aufbereitet wurde, war der Tagesschau keine Meldung wert. Andererseits traf die Tagesschau jenseits der vermurksten Zahlen den Kern, denn die EKD hat dadurch, dass sie den Maßnahmenplan auf den Weg gebracht hat, den das EKD-Beteiligungsforum ausgearbeitet hatte – unter anderem eine Novelle der Gewaltschutzrichtlinie, die Schaffung einer zentralen Ombudsstelle, eine Aufarbeitungsrichtlinie und die Vereinheitlichung der Personal- und Disziplinaraktenführung in den Landeskirchen –, viel erreicht.
Es ist ein großer Erfolg, ja ein Meilenstein im Aufarbeitungsprozess sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche, auch wenn es noch viel zu tun gibt. Langsam allerdings fragt man sich, wie lange es nur die beiden großen Kirchen sein sollen, die sich in Deutschland mit solcher Intensität um Aufarbeitung bemühen. Andere gesellschaftliche Institutionen und Verbände könnten langsam einmal nachziehen und sich an den Kirchen ein Beispiel nehmen, oder? Natürlich darf man nicht mit dem Finger auf andere zeigen, doch es stellt sich für viele mehr und mehr die Frage, warum dieses Thema weiterhin in erster Linie von den christlichen Kirchen stellvertretend für die Gesellschaft angegangen wird.
Fazit: Im Vergleich mit den Chaostagen von Ulm vor einem Jahr kann die EKD-Synode zufrieden sein, beim Thema Nummer 1, der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, einiges erreicht zu haben. Dass natürlich bei der Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt immer gilt „Genug ist nie genug“, sollte die Verantwortlichen nicht entmutigen.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.