Theologie prägt Lebenswelten
Ist die "Black Theology" nur relevant für Schwarze Christen in den USA und ihre Lebenswelt oder kann sie einen universellen Geltungsanspruch formulieren? Auf unseren Oktoberschwerpunkt reagierte der Zürcher Ethiker Johannes Fischer mit entsprechender Kritik und stellte in Frage, ob Rassismus ein empirisches Phänomen sei. Ihm widerspricht nun Angelika Nothwang und verweist unter anderem auf die Erfahrungen ihrer beiden Adoptivsöhne.
Hat das, was Schwarze Christinnen und Christen in den USA aufgrund ihrer Lebenserfahrung zur Botschaft der Bibel und zum Gottessymbol zu sagen haben, Bedeutung für Christinnen und Christen in Deutschland? Sollte es also in die theologische Ausbildung angehender Pfarrerinnen und Pfarrer einfließen und sie sensibilisieren für Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen, die es durchaus auch hierzulande gibt? Und sollten sie in der Konzentration Schwarzer Theologie auf Gott, den Befreier, ein Kriterium für die Bewertung von Gottesbildern überhaupt sehen lernen?
Johannes Fischer führt die Vorstellung von Gott als dem Befreier allein auf die Unterdrückungserfahrungen Schwarzer Menschen in den USA zurück. Das ist merkwürdig. Schließlich ist im Buch Exodus Befreiung das entscheidende Handeln Gottes. Und in der prophetischen Tradition wird danach gefragt, ob die sozialen Verhältnisse dieser ursprünglichen Gotteserfahrung entsprechen. Das Bild von Gott als dem Befreier bleibt also auch im verheißenen Land relevant, in einer veränderten Lebenswelt. Und es wird jedes Jahr neu aktualisiert in der Feier von Pessach.
Fischer versucht, die Lebenswelt Schwarzer Menschen in den USA und damit die Verankerung Schwarzer Theologie möglichst weit weg zu schieben von deutschsprachigen Fakultäten im Jahr 2024. Die USA sind weit, Sklaverei und Segregation hat es in dieser Form in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht gegeben – und überhaupt, die Schwarze Theologie ist in den 1970er Jahren entstanden, was soll man damit heute hier bei uns?
Kontextuelle Nische
Schwarze Theologie habe, so sieht es Fischer, mit der Lebenswelt vieler Christ*innen auf dieser Seite des Atlantiks nichts zu tun. Was Schwarze für sich in Anspruch nähmen, nämlich ihre Theologie auf Basis ihrer Lebenswelt zu entwickeln, müsse für jede christliche Gemeinschaft legitim sein.
Lebenswelt ist ein schöner Begriff. Auch „Kontext“ wird mittlerweile nicht mehr nur verwendet, um Befreiungstheologien, feministischen und anderen „parteilichen“ Theologien eine Nische zuzuweisen. Es wird inzwischen anerkannt, dass jede Theologie ihren Kontext habe und selbstverständlich kontextuell sei. Nur: Geraten damit alle Theologien in die kontextuelle Nische? Natürlich nicht.
Mit dem Begriff der „Lebenswelten“ kann man so tun, als spielte sich das Leben in diesen „Lebenswelten“ ganz unabhängig vom Leben in anderen Lebenswelten ab – und als habe das Leben in der einen Lebenswelt keinen Einfluss auf das in anderen Lebenswelten. Dem ist natürlich nicht so, denn das „Erleben“ von Schwarzen Menschen in den USA ist nicht unabhängig von Weißen, die von ihrer privilegierten Position profitieren. Die Sklaverei hat Nachwirkungen bis heute, allein schon bei den Vermögensverhältnissen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier das „Erleben“ von Schwarzen Menschen von den harten Fakten gelöst werden soll, es erscheint als eine Frage der persönlichen Sensibilität der Betroffenen, so dass die Anfrage der Schwarzen Theologie, ob der Glaube an den biblischen Gott nicht ganz grundsätzlich auch mit dem Engagement für Befreiung und Gerechtigkeit einhergehen müsste, ignoriert werden kann.
Wahrheitsfrage gestellt
Frömmigkeit, die bestehende Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen aufrechterhalten soll, gibt es nach wie vor, ja, sie breitet sich in manchen Teilen der Welt aus. Erinnert sei hier nur an das sog. „Wohlstandsevangelium“, das eigenen Wohlstand ziemlich umstandslos auf Gottes Willen zurückführt, Armut als ebenso gottgegeben betrachtet und die Bildung von Gewerkschaften ablehnt, weil diese die gottgewollte Verteilung von Armut und Reichtum untergraben, wenn sie für existenzsichernde oder womöglich sogar gerechte Löhne eintreten. Das „Wohlstandsevangelium“ passt genau in die neoliberale Lebenswelt, es dient dazu, Reichtum zu mehren – auf Kosten von anderen.
Wer hier einen Missbrauch des Gottesglaubens sieht, stellt die Wahrheitsfrage – und zwar ganz grundsätzlich. Das ist in der Theologiegeschichte kein neues Phänomen. Schon innerbiblisch wird die Wahrheitsfrage gestellt – und die Theologiegeschichte hat diesen Streit um die Wahrheit fortgesetzt – natürlich selbstverständlich mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. So kam Luther aufgrund seiner Sicht auf die „Mitte der Schrift“ zur Bewertung des Jakobusbriefes als „stroherner Epistel“. Und seine Aussagen zu menschlicher Freiheit wollte Luther nicht als irgendwie kontextuell bedingt ansehen – so anders war der Kontext von Erasmus von Rotterdam ja auch nicht. Luther beanspruchte (ganz selbstverständlich) für seine Sicht der Dinge allgemeine Gültigkeit.
„Ich habe in diesem Buch nicht Ansichten ausgetauscht, sondern ich habe feste Behauptungen aufgestellt und stelle feste Behauptungen auf. Ich will auch keinem das Urteil überlassen, sondern rate allen, dass sie Gehorsam leisten.“
Legitimer Maßstab
Die Exodustradition spricht von Gott als dem Befreier – aus realer Unterdrückung. Warum sollte das kein legitimer Maßstab zur Bewertung religiöser Theorie und Praxis sein? Und vor allem: warum sollte das keine Orientierung für die Gestaltung des eigenen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens sein? Theologische Positionen entwickeln sich nicht nur aufgrund bestimmter Lebenswelten, sie prägen auch Lebenswelten, davon können z.B. Frauen weltweit ein Lied singen.
Was machen wir mit dem Befund, dass Paulus kein Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei war? Ziehen wir daraus die Konsequenz, dass reale Freiheit aller Menschen offensichtlich nicht dem Willen Gottes entspricht? Sind wir also bereit, eine Gesellschaft hinzunehmen, in der manche Menschen ein sehr hohes Maß an Freiheit genießen, während andere in Verhältnissen schuften müssen, die der Sklaverei zumindest nahe kommen, als „Wegwerfmenschen“, wie es Peter Kossen umschreibt, der sich seit langem mit den Arbeitsbedingungen in der südoldenburgischen Fleischindustrie auseinandersetzt? Und würden wir wirklich so weit gehen, Gott dafür zu nutzen, die Privilegierung der einen und die Unterdrückung der anderen zu legitimieren? Ich hoffe, das sind rhetorische Fragen, auf die nur die Antwort „Natürlich nicht!“ möglich ist.
Allerdings fürchte ich, dass die Haltung mindestens konservativer Christen, „die kirchlich-theologische Reflexionen zu sozialer Gerechtigkeit als nicht evangeliumsgemäße Ideologie disqualifizieren“ (Nathalie Eleyth), in der evangelischen Kirche noch recht verbreitet ist. Luthers Konzentration auf das Verhältnis zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen (Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?), seine Haltung in den Bauernkriegen mag da stilbildend gewirkt haben. Allerdings: Befreiung aus kirchlichen Machtstrukturen hat Luther sehr wohl angestrebt und öffentlichkeitswirksam demonstriert, als er einen Druck der Bannandrohungsbulle verbrannte. Für diese Auflehnung gegen kirchliche Machtstrukturen brauchte Luther freilich den Rückhalt seines Landesherrn, mit dem er auch durch die Lehrtätigkeit an der von diesem gegründeten Universität verbunden war.
Luthers Lebenswelt
Das ist Luthers Lebenswelt – zu der es gehörte, dass leibeigene Bauern die finanziellen Ressourcen des Landesherrn erwirtschafteten. Für die Perspektive dieser Menschen hatte Luthers Theologie wenig Platz – und schließlich rief Luther im Namen der Aufrechterhaltung der Ordnung die Landesherren auf, die aufständischen Bauern niederzumetzeln.
Das muss man nicht moralisch bewerten. Fraglich ist aber, ob man diese Reduktion der Freiheit auf die Freiheit von Höllenangst theologisch fortschreiben sollte. Gott sei Dank war Luther mit seiner Botschaft vom gnädigen Gott so erfolgreich, dass heute viele Menschen seine ursprüngliche Angst vor dem strafenden Gott nicht mehr kennen. Luther hat damit die Lebenswelt also verändert.
Theologie prägt Lebenswelten, schon deshalb ist die Frage notwendig, ob jede theologische Position tatsächlich Respekt verdient. Theologie entwirft Bilder von Gott und sie bewertet Gottesbilder. Damit Theolog*innen hier urteilsfähig werden, sollten sie eine Vielzahl theologischer Entwürfe kennen lernen und sich auch den Anfragen aussetzen, die Theologien aus anderen Lebenswelten formulieren. Deshalb wäre es durchaus sinnvoll, in einem Seminar, dass sich einem weißen Theologen „exklusiv“ widmet, die Anfragen geschlechterbewusster oder Schwarzer Theologie zu integrieren.
Theologie ohne Moral?
Interessant ist Fischers Gegenüberstellung von Theologie und Moral in seiner Auseinandersetzung mit Nathalie Eleyths Beitrag „Rassismus im Semesterplan. Warum Schwarze Theologie an hiesigen Fakultäten wichtiger werden sollte. Zunächst sollte nicht überraschen, dass eine Mitarbeiterin am Institut für christliche Gesellschaftslehre sich zu gesellschaftlichen Fragen äußert. Wenn es um das Zusammenleben in der Gesellschaft aus christlicher Perspektive geht, sind individual- und sozialethische Fragen nicht weit. Und grundsätzlich kann man ja die Frage stellen, ob Theologie ohne Moral zu haben ist.
Abenteuerlich ist aber die Tatsache, dass Fischer Eleyths Beobachtung, Rassismuserfahrungen Schwarzer Menschen würden in der weißen Dominanzkultur verleugnet, bagatellisiert und externalisiert, zitieren kann – und dann im nächsten Absatz genau dieses tut.
„Die Verfasserin schreibt in den zitierten Sätzen über Rassismus so, als würde es sich dabei um ein empirisches Phänomen halten (sic!). Das jedoch ist mitnichten der Fall. Empirisch lassen sich bestimmte Überzeugungen und Verhaltensweisen von Menschen erheben. Doch die moralische Wertung, die in dem Wort ‚Rassismus‘ steckt, lässt sich nirgendwo in der Empirie auffinden. (…) Sie wird vielmehr von denen getroffen, die Überzeugungen und Verhaltensweisen anderer als „rassistisch“ qualifizieren und Menschen als Rassisten bezeichnen.“
Merkwürdige Alternative
Ja, es geht um Macht – um Definitionsmacht: Dürfen Menschen, die mit den Vorurteilen ihrer Mitmenschen konfrontiert sind, selbst sagen, dass sie diese Vorurteile als rassistisch empfinden? Wer gibt Menschen, die von diesem Rassismus nicht betroffen sind, das Recht, hier eine Grenzüberschreitung festzustellen – und die Feststellung von Rassismus als „hochmoralisch“ zu brandmarken (eine Argumentationsweise, die selbst moralisch ist, da sie anderen moralische Überheblichkeit vorwirft).
Mein Mann und ich haben zwei Jungen adoptiert, von denen einer - in Deutschland geboren, wie auch schon seine leibliche Mutter - einen sichtbaren „Migrationshintergrund“ hat, während der andere ganz selbstverständlich als Deutscher „gelesen“ wird. Die Erfahrungen dieser beiden waren sehr unterschiedlich. Fragen nach der Herkunft, anlasslose Kontrollen im Zug, die nur Menschen betreffen, die nicht dem Klischee des Deutschen entsprechen, die zuverlässige Aufmerksamkeit der Polizei, und Mitmenschen, die selbstverständlich annehmen, dass sie bestohlen werden sollen, wenn man eigentlich nur Geld wechseln möchte – all das kennt einer meiner Söhne aus persönlicher Erfahrung, der andere nur aus Erzählungen. Nun lese ich bei Fischer, der Rassismus, den mein Sohn erfahren hat, sei kein „empirisches Phänomen“. Die Vorurteile gebe es zwar schon, aber Rassismus könne gar kein „empirisches Phänomen“ sein, weil der Vorwurf des Rassismus ein moralisches Urteil sei. Das ist schon eine merkwürdige Alternative, die hier aufgemacht wird.
Betrachten wir Fischers Gedanken zu David Hume, so fällt auf: Positive Bewertungen sind durchaus erlaubt: er ist ein Aufklärer und Humanist – natürlich aufgrund dessen, was er gesagt und geschrieben hat! Aufklärer und Humanist – damit wird Hume als Person charakterisiert, die Wertschätzung verdient hat. Wird jedoch darauf hingewiesen, dass Hume, wenn er vom Menschen schrieb, lediglich an körperlich und geistig gesunde weiße Männer dachte und nichtweiße bzw. mindestens Menschen afrikanischer Herkunft als ‚von Natur aus minderwertig‘ bezeichnete, mahnt Fischer die Unterscheidung der Person Humes von seinen Äußerungen an. Seine rassistischen Äußerungen sollen nicht dazu führen, dass man ihm Rassismus vorwirft. Das Denkmal soll nicht erschüttert werden.
Räume und Respekt
Wer sich als von Rassismus betroffener Mensch gegen die rassistischen Äußerungen unserer europäischen Geistesgrößen äußert, erfährt also: Die Geistesgrößen dürfen ihre Urteile über andere Menschen fällen – allein aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe (wofür bekanntlich niemand etwas kann – und was auch niemand ändern kann). Wer sie allerdings aufgrund ihrer Äußerungen beurteilt (für die sie als Philosophen der Aufklärung doch eine gewisse Verantwortung tragen und die sie, wie Hume beweist, auch ändern konnten), der macht sich einer Grenzüberschreitung schuldig und sagt angeblich mehr über sich als über die kritisierten Geistesgrößen.
Wie gesagt, es geht um Definitionsmacht. Ich habe mich gefragt, ob Fischer auch so zurückhaltend wäre, wenn es darum ginge, bestimmte Äußerungen als antisemitisch zu bewerten. Die Frage, was als Antisemitismus zu gelten hat, ist umstritten, das ist klar. Dennoch würde kaum jemand behaupten, Antisemitismus sei kein „empirisches Phänomen“, die Feststellung von Antisemitismus sei „hochmoralisch“. Es geht hier nicht um die Frage, in welchem Verhältnis Antisemitismus und Rassismus stehen, was sie eint und was sie unterscheidet. Es geht darum, dass die Wahrnehmung der Betroffenen respektiert wird. Und es geht, damit sind wir wieder am Anfang, darum, dass die Wahrnehmung der Betroffenen überhaupt gehört wird. Dafür braucht es Räume, in denen sie zu Wort kommen, als Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe respektiert und nicht von oben herab abgekanzelt werden.
Angelika Nothwang
Angelika Nothwang ist Theologin und Religionslehrerin in Wilhelmshaven.