Ängste auf dem Marktplatz

Wissen wir noch, was Menschen bewegt?

Eine ganze Anzahl von Samstagen in diesem langsam zu Ende gehenden Jahr habe ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen auf Marktplätzen im Osten und Westen des Landes verbracht. Davon war im Juni schon einmal in einer Kolumne unter dem Titel „Wissenschaft auf dem Kornmarkt“ die Rede. Wir luden Passantinnen und Passanten zu Kaffee und Kuchen ein, die aufgrund großzügiger Spenden gratis angeboten werden konnten, und sind mit ihnen auf Augenhöhe ins Gespräch gekommen. Eigentlich sollte es um Gespräche über Wissenschaft gehen, eigentlich sollten Fragen der Menschen Thema sein und wir erwarteten Fragen zu den Themen Gesundheit, Energieversorgung, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Klima und Nachhaltigkeit, Frieden und Krieg und entsprechende Unterhaltungen. Mit Blick auf diese Themen waren die Gruppen zusammengesetzt, mit denen wir auf den Plätzen beispielsweise in Zwickau, Brandenburg, Wetzlar oder Recklinghausen und zuletzt in Halle standen, und natürlich gab es viele Gespräche, die sich mit diesen Themen beschäftigten.

Aber im Nachhinein (die Akademien setzen die Reihe „Die Wissenschaft – und ich?!“ gemeinsam mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Hochschulrektorenkonferenz erst im neuen Jahr wieder fort) wird mir doch sehr deutlich, dass es viele sehr grundsätzliche Gespräche darüber waren, wie es Menschen gerade geht in diesen Zeiten multipler Krisen. Und sehr viele Passantinnen und Passanten haben mit uns über ihre Ängste geredet, die sie gerade beschäftigen: Wird wieder eine Pandemie kommen und das öffentliche Leben quasi lahmlegen? Kann ich mir eine gute Gesundheitsversorgung überhaupt noch leisten? Werde ich meine Heizung und den Strom in Zukunft noch bezahlen können? Schlagen demnächst russische Raketen in der Nachbarschaft ein? Kann ich mich in meiner Heimatstadt noch auf die Straße trauen?

Lage vor Ort

Natürlich wirkt das Format simpler, als es tatsächlich angelegt war und im nächsten Jahr gemeinsam mit „Wissenschaft im Dialog“ fortgesetzt wird. Wir waren jeweils immer schon an den Freitagabenden angereist, sprachen mit Bürgermeistern, städtischen Initiativen und Sicherheitskräften und versuchten, uns ein Bild der Lage vor Ort zu machen. Die Lage war sehr unterschiedlich: Zwickau prosperiert, Gera hat mancherlei wirtschaftliche Probleme. In Halle standen wir vor einem leeren und ziemlich trüb aussehenden Gebäude, in dem einstmals ein Kaufhaus untergebracht war, das hatte schließen müssen, in Recklinghausen standen wir auch vor einem Gebäude, in dem einstmals ein Kaufhaus Kundschaft anlockte, nun aber nach durchgreifendem Umbau ein Altenheim untergebracht war.

Ich erinnere mich noch an ein Gespräch, in dem eine Frau von ihren Ängsten erzählte, sich auf die Straße zu begeben, weil es dort so unsicher sei. Auf meine Erwiderung, dass uns am Abend vorher die Polizei die sehr niedrige Kriminalitätsrate der Stadt vorgestellt hatte, reagierte meine Gesprächspartnerin fast unwirsch: Das müsse die Polizei so sagen. Da begegnete mir zum ersten Mal bei diesen Gesprächen der Eindruck, dass Angstgefühle von Menschen gegenwärtig oft gar nicht auf Fakten bezogen sind, sondern auf Gefühle der Unsicherheit, Mythen über das Vertuschen von unsicheren Verhältnissen und bewusst geschürte falsche Nachrichten. 

Irrational viel Angst

Nicht, dass ich missverstanden werde: Natürlich kann man sich über alle Dinge, vor denen unsere Gesprächspartner Angst haben, wirklich Sorgen machen. Fachleute sprechen von Zeiten multipler Krisen, und es ist umstritten, ob die von der Ampel geplante Krankenhausreform wirklich die Krise im Gesundheitswesen nachhaltig gelindert hätte, Energie tatsächlich bezahlbar bleibt, durch Künstliche Intelligenz nicht zunächst einmal doch viele Arbeitsplätze entfallen, Energie erheblich teurer werden wird und die russische Aggression sich tatsächlich eindämmen lässt. Aber ich traf auf viele Menschen mit irrational viel Angst. Vor Dingen, die an ihrem Ort kaum passieren. Vor Entwicklungen, die noch gar nicht sicher sind.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe auch irrationale Ängste. Allerdings nicht vor so großen Entwicklungen, sondern eher vor kleinen, alltäglichen Begebenheiten, die mir eine lebhafte Phantasie ausmalen hilft. Ich meine sogar, den Grund meiner irrationalen Ängste zu kennen: Sowohl meine Mutter wie auch meine Großmutter mütterlicherseits haben Männer geheiratet, die sehr heiter veranlagt waren und bis an die Grenze der Naivität sorglos durch ihr Leben wandelten. Mein Großvater war nicht ausreichend versichert, wie sich im Alter angesichts von schwerer Krankheit herausstellte, mein Vater machte sich nie Gedanken darüber, ob ihm seine allzu freie Rede schaden konnte. Und sie hat ihm geschadet im Beruf. 

Darüber sprechen?

Für die Sorgen waren in diesen Ehen die Frauen zuständig und entwickelten sich zunehmend zu regelrecht ängstlichen Personen. Was im Einzelfall natürlich ganz und gar tapferes Auftreten gegen alle Angst gar nicht ausschloss. Ich meine immer, mir hätten Mutter und Großmutter meine irrationalen Ängste vererbt. Als Kind besah ich beispielsweise, bevor es mit dem Bus zum Segelunterricht auf dem Berliner Wannsee ging, immer besorgt die Bäume. Bewegte mächtiger Wind die Pappeln an der Bushaltestelle, fürchtete ich, mit meinem Boot (einem relativ kleinen, sogenannten Optimisten, später einem 420er) zu kentern, unter das Boot zu geraten und mich dort so schlimm zu verheddern, dass ich ertrinken müsste. 

Und natürlich hatte ich auch Angst, von dieser Angst zu erzählen und bin bei gutem Wind ungern segeln gegangen. Meine Eltern dachten, mir mache das wie allen anderen Kindern großen Spaß und waren entsprechend verwundert, als ich lange Jahre danach einmal von meinen aus heutiger Sicht völlig irrationalen Ängsten erzählte. Um dem sehr ängstlichen Kind zu etwas mehr Mut zu verhelfen, schickten mich meine Eltern übrigens auch in einen Judo-Kurs – und da fürchtete ich mich dann davor, von den großen Jungen zu Boden geworfen zu werden. Noch heute male ich mir manchmal eine vollkommen absurde Entwicklung voller Phantasie aus, habe aber das große Glück, von meiner Frau, die mich nach langen Jahren Ehe gut kennt, aus solchen Ängsten mal sanft, mal energisch herausgeholt zu werden.

Ängste geschürt

Vielleicht habe ich, weil ich selbst meine Erfahrungen mit irrationalen Ängsten habe, mehr Aufmerksamkeit, mehr Verständnis für irrationale Ängste von Menschen. Ich bin natürlich kein Psychologe oder Soziologe. Ich habe auch keine quantitativen Untersuchungen zu Ängsten in der Bevölkerung angestellt. Aber ich befürchte aufgrund meiner Erfahrungen auf dem Marktplätzen im Sommer und Herbst, dass die Ängste bei vielen Menschen stark zugenommen haben, nicht nur die angesichts der multiplen Krisen vollkommen berechtigten Ängste, sondern auch die irrationalen Ängste. Teilweise werden beispielsweise Ängste vor Fremden ja regelrecht geschürt von bestimmten populistischen Kreisen und Parteien. Und umgekehrt erhoffen sich viele Menschen mit berechtigten wie unberechtigten Ängsten Hilfe von den populistischen Gruppierungen und Parteien. Das zeigen die Wahlergebnisse, keineswegs allein in den östlichen Bundesländern. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass sich die Menschen auf den westdeutschen Marktplätzen an diesem Punkt kaum von denen auf ostdeutschen Marktplätzen unterscheiden. 

Mich beschäftigt inzwischen nicht nur die Frage, wie man mit Ängsten umgeht, die eigentlich gar keine wirklichen Gründe haben, sondern auf irrationalen Befürchtungen und gegen alle Realität geschürten Sorgen beruhen. Hier hilft, so meine Erfahrung, in jedem Fall erst einmal geduldiges Gespräch. Gespräch und vor allem Zuhören. Natürlich sind unsere Gespräche auf dem Marktplatz nur ein allererster Anfang, der Menschen vielleicht so nachdenklich macht wie mich ein Hinweis darauf, dass auf dem Wannsee eigentlich kein Segler ertrinken kann, der von zwanzig Booten umgeben ist, in denen Menschen sitzen, die auch segeln lernen wollen wie ich seinerzeit als Schüler. 

Ängste ablegen

Bis man dann die Angst ablegt, ist das natürlich noch ein weiter Weg. Da könnten Kirchgemeinden helfen. Da könnten Sonntagsgottesdienste und andere kirchliche Angebote eine wichtige Funktion erfüllen. Und mich beschäftigt inzwischen immer mehr die Frage, ob wir diese Ängste genügend wahrnehmen und Gemeinden als Räume verstehen, in denen man die Ängste lernen kann, abzulegen. Kirche als ein Ort, an dem ich so offen über meine Ängste sprechen kann, wie ich hier die Ängste meiner Kindheit ausgebreitet habe, aber auch mit anderen lernen kann, angstfreier zu leben. Nicht ohne Sorgen in diesen schwierigen Zeiten, aber ohne allzu viele irrationale Ängste. 

Ich erinnere mich immer noch an den Hamburger Kirchentag 1981, als ich erstmals einen Vers sang, den Fritz Baltruweit zum damaligen Kirchentagsmotto gedichtet und vertont hat: „Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst, mit der du lebst. Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst. Mit ihr lebst du“. Die radikale Ehrlichkeit dieser Strophe beeindruckt mich immer noch, ebenso wie die trotzig-gewisse folgende Strophe: „Fürchte dich nicht, getragen von seinem Wort, von dem du lebst. Fürchte dich nicht, getragen von seinem Wort. Von ihm lebst du“. In der Spannung zwischen diesen beiden Versen des Liedes wünsche ich mir die Gottesdienste, die, die ich verantworte, und auch die, die ich besuche.

Wieder möchte ich nicht missverstanden werden. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt, die Gottesdienste gestalten, die Ängste nehmen und Zuversicht verbreiten, auch ohne das Lied von Fritz Baltruweit. Aber ich frage mich in der letzten Zeit manchmal, ob die Menschen, die Angst haben, stellenweise etwas außer Blick geraten sind. Versammeln sich zu oft in unseren Kirchen nur die, die ihrer Sache schon ganz sicher sind? Die genau wissen, wovor man Angst haben darf und was irrationale Ängste sind, die nicht gestattet sind? Machen wir die Ängste breiter Bevölkerungskreise wirklich genug zum Thema? Geben wir ihnen genügend Raum? Wie auch immer, in meinen Adventsgottesdiensten wird jedenfalls Baltruweit gesungen.

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