Es fehlt die Ehrlichkeit
„Migration, Flucht und Menschenrechte“ lautete das Schwerpunktthema der EKD-Synodentagung in der vergangenen Woche in Würzburg. Der Zürcher Ethiker Johannes Fischer bewertet die Diskussion und die gefassten Beschlüsse kritisch. Denn es habe bei dem Thema die Bereitschaft gefehlt, sich mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren anstatt sich die Wirklichkeit faktenbasiert so zurechtzulegen, wie man sie sehen möchte.
Die diesjährige EKD-Synode vom 10. bis 13. November in Würzburg hatte den thematischen Schwerpunkt „Flucht, Migration und Menschenrechte“. Dazu wurden verschiedene Beschlüsse gefasst. Vor allem zwei Beschlüssen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Zum einen soll sich der Rat der EKD bei der Bundesregierung und dem Bundestag dafür einsetzen, dass am individuellen Recht auf Asyl festgehalten wird. Zum anderen soll sich der Rat der EKD auf Bundes- und EU-Ebene bei der Bundesregierung und den europäischen Institutionen dafür einsetzen, dass „konkrete Maßnahmen ergriffen werden, legale und sichere Wege für Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten in die EU zu eröffnen“.
Um die Beschlüsse einordnen zu können, muss man sich die Situation vergegenwärtigen, durch die die gegenwärtige Flüchtlingspolitik charakterisiert ist. Einerseits gewährt Europa jedem Flüchtling, woher auch immer er kommt, ein individuelles Recht auf Asyl. Andererseits ist es nicht bereit, den hieraus resultierenden Anspruch in unbegrenztem Umfang einzulösen. Rein rechtlich gesehen steht das Recht auf Asyl nicht unter dem „Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens“, so der Verfassungsrechtler Johannes Masing. Weil man daher nicht dieses Recht einschränken kann, schränkt man die Möglichkeit ein, es wahrzunehmen.
So unternimmt Europa alles, damit möglichst wenige Menschen von diesem Recht Gebrauch machen können. Einen Antrag auf Asyl kann nur stellen, wer europäischen Boden erreicht hat. Um Menschen hieran zu hindern, werden an den europäischen Außengrenzen Zäune errichtet. Es gibt illegale Zurückweisungen von Menschen, die schon die Grenze überschritten haben. Europa schließt mit autoritären Regimen wie in der Türkei, in Tunesien oder in Marokko Verträge und zahlt hohe Geldsummen, damit diese Länder Menschen daran hindern, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die Versuche, über das Mittelmeer oder den Atlantik europäischen Boden zu erreichen, enden oft tödlich. All das hat zur Folge, dass nur diejenigen Europa erreichen und Antrag auf Asyl stellen können, die fähig sind, die Hindernisse zu überwinden. Es sind nicht unbedingt diejenigen, die den Schutz des Asylrechts am notwendigsten brauchen.
Absurde Situation
Diese Situation ist absurd. Sie hat zu Überlegungen geführt, auf europäischer Ebene das individuelle Recht auf Asyl durch die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten zu ersetzen. Im Deutschland hat die CDU diesen Vorschlag in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Man hat dagegen eingewendet, dass er mit der Menschenwürde unvereinbar ist, weil damit Flüchtlinge von der Möglichkeit des Asyls ausgeschlossen werden, nämlich diejenigen, die keine Berücksichtigung innerhalb eines Kontingents finden. Darauf lässt sich erwidern, dass auch und gerade bei der jetzigen Praxis Flüchtlinge massiv von der Möglichkeit des Asyls ausgeschlossen werden, indem ihnen der Zugang nach Europa verwehrt wird.
Ein anderer ethischer Einwand geht dahin, dass Europa sich mit der Beschränkung auf die Aufnahme bestimmter Kontingente seiner moralischen Pflicht im Blick auf die weltweite Flüchtlingsnot entziehen würde. Doch gerade aus ethischer Sicht gibt es gute Gründe, über diese Lösung nachzudenken, und man sollte sie zumindest ernsthaft in Erwägung ziehen. Es gibt eine moralische Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Aber es gibt keine moralische Pflicht, allen Menschen in Not zu helfen. Das liefe auf eine völlige Überforderung der eigenen Hilfsmöglichkeiten und auf eine Ethik des permanent schlechten Gewissens hinaus. Auch aus der christlichen Nächstenliebe lässt sich keine universelle Hilfspflicht in Bezug auf alle Notleidenden dieser Welt ableiten.
Kontingentlösung als Vorschlag
Die moralische Hilfspflicht hat also Grenzen, und in diesem Sinne geht es bei einer Kontingentlösung darum, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, aber nicht allen Flüchtlingen weltweit, sondern im Umfang eines bestimmten Kontingents pro Jahr, um so zur Linderung der weltweiten Flüchtlingsnot beizutragen. Aus ethischer Sicht muss dabei das Ziel sein, dass dies in möglichst großem Umfang geschieht und so, dass diejenigen zuerst berücksichtigt werden, die den Schutz des Asylrechts am notwendigsten brauchen. Darüber hinaus kann und muss Europa die weltweit organisierte Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen zum Beispiel durch die UNO-Flüchtlingshilfe großzügig unterstützen.
Demgegenüber geht es beim individuellen Recht auf Asyl darum, allen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, die europäischen Boden erreichen und deren Asylantrag bewilligt wird. Hier gibt es keine Begrenzung der Hilfspflicht. Die Folge ist die Situation, wie sie oben geschildert wurde. Auf dem Papier gewährt man allen Flüchtlingen weltweit ein individuelles Recht auf Asyl, falls sie europäischen Boden erreichen, und gleichzeitig unternimmt man alles, um zu verhindern, dass sie europäischen Boden erreichen und einen Asylantrag stellen können.
Ob die Kontingentlösung tatsächlich die Lösung aller Probleme ist, kann und muss man diskutieren.[1] Sie wirft verschiedene Fragen auf. So ist unter Juristen die Frage umstritten, ob eine Kontingentlösung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Doch sollte man diesen Vorschlag nicht von vorneherein als unethisch zurückweisen. Angesichts der Absurdität der gegenwärtigen Situation sollte jeder Vorschlag zur Abhilfe fair und unvoreingenommen geprüft werden.
Erstarkter Rechtspopulismus
Die EKD-Synode hat sich für die Beibehaltung des individuellen Rechts auf Asyl entschieden. Wer dies tut, der muss konsequenterweise dafür eintreten, dass Flüchtlinge die Möglichkeit haben, dieses Recht auch wahrzunehmen. Er muss sich also für legale und sichere Zugangswege nach Europa einsetzen, damit Flüchtlinge und Migranten einen Asylantrag stellen können. Er muss, mit anderen Worten, die Öffnung der europäischen Außengrenzen fordern.
Diese Konsequenz hat bei der Synode die als Referentin eingeladene Professorin Petra Bendel gezogen. Sie legte großen Wert darauf, faktenbasiert und empirisch zu argumentieren, und präsentierte Zahlen, wonach gegenwärtig keineswegs von einem Höchststand bei der Aufnahme von Flüchtlingen die Rede sein kann. Was die angebliche Überforderung der Kommunen betrifft, so sei davon gemäß einer empirischen Untersuchung nur ein Teil der Kommunen betroffen. Daher gebe es in Deutschland und Europa die Aufnahmekapazität, um legale und sichere Zugangswege für Flüchtlinge zu schaffen. Das war die Botschaft des Referats.
Nicht erwähnt wurde allerdings das Faktum, dass die präsentierten Zahlen den jetzigen Stand widerspiegeln, wie er sich aufgrund der Abschottung der europäischen Außengrenzen darstellt. Auf die Frage, wie sich die Zahlen bei Öffnung der europäischen Außengrenzen durch die Schaffung von legalen und sicheren Zugangswegen für Flüchtlinge und Migranten darstellen würden, ging die Referentin nicht ein. Hierüber muss man nicht spekulieren. Die Erfahrungen von 2015/16 liegen noch nicht lange zurück. So blieb in dem Referat auch die Frage unerörtert, wie das heutige Europa mit seinem Erstarken des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern eine Wiederholung der Situation von 2015/16 verkraften würde.
Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik
Es war bei dieser Synode viel von Tugenden die Rede, von gebotener Sachlichkeit, Nüchternheit, Faktenbasiertheit der Argumente oder dem Verzicht auf bloßes Moralisieren. Diese Tugenden sollten eine evangelische Befassung mit diesem Thema auszeichnen. Eine Tugend fehlte: die Ehrlichkeit. Und zwar Ehrlichkeit im Sinne der Bereitschaft, sich mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren anstatt sich die Wirklichkeit faktenbasiert so zurechtzulegen, wie man sie sehen möchte, unter Ausblendung entgegenstehender Fakten, die diese Sicht in Frage stellen.
Ehrlich wäre es gewesen, wenn die Synode sich zu der Einsicht durchgerungen und klar bekannt hätte, dass das individuelle Recht auf Asyl die Politik in Deutschland und Europa in ein tiefes und letztlich unauflösbares Dilemma stürzt. Dazu ist es nicht gekommen. Die Regie der Synode wollte es offensichtlich anders, nämlich so, dass die Synode sich positionieren sollte im Sinne der am Ende gefassten Beschlüsse. Andernfalls hätte man einen Gegenreferenten zu dem Referat von Frau Bendel einladen müssen, damit die gegenwärtige Situation in ihrer ganzen Komplexität vor Augen geführt wird und die Argumente in ihrem Für und Wider transparent werden. So hingegen wird nun der Eindruck vermittelt, dass es jenes Dilemma in der Flüchtlingspolitik gar nicht gibt und dass daher die Politik unethisch handelt, weil sie nicht die europäischen Außengrenzen für Flüchtlinge und Migranten öffnet.
Max Weber hat einst die Gesinnungsethik mit dem Satz charakterisiert: „Der Christ tut recht und stellt die Folgen Gott anheim.“ Man ist versucht, dies auf jene Beschlüsse der Synode zu beziehen. Verantwortungsethik heißt nach Weber, dass man für die Folgen seines Tuns aufkommen und dafür Verantwortung übernehmen muss. Das ist im Kern die Frage, die sich im Blick auf die Beschlüsse der Synode stellt: Ist eine Synode in der Pflicht, sich Gedanken darüber zu machen, welche Folgen es hätte, wenn die Politik das umsetzen würde, was sie von dieser fordert? Muss sie dafür Verantwortung übernehmen? Oder darf sie es sich leisten, sich auf eine reine Gesinnungsethik zurückzuziehen und die Verantwortung für die Folgen der politischen Umsetzung ihrer Beschlüsse auf die Politik abzuschieben?
Schwieriges Verhältnis zur Politik
Der Synode gehören auch Politikerinnen und Politiker an, die von Berufs wegen in der Verantwortung für die Flüchtlingspolitik stehen. Inwiefern sind die Beschlüsse der Synode hilfreich für sie, und zwar hilfreich nicht im Sinne der Unterstützung parteipolitischer Positionen im beginnenden Bundestagswahlkampf, sondern hilfreich bei der ehrlichen Suche nach Lösungen in Anbetracht des Dilemmas, in dem die Flüchtlingspolitik sich befindet?
Die Beschlüsse der Synode bestätigen erneut das schwierige Verhältnis, in dem sich die EKD zur Politik befindet. Das hat theologisch mit einer Engführung im Verständnis der christlichen Nächstenliebe in den zurückliegenden Jahren zu tun. Für Martin Luther erstreckt sich die christliche Nächstenliebe nicht nur auf die Sorge für Menschen, die Not leiden, sondern auch auf die Verantwortungsübernahme für das politische Gemeinwesen, da hier die Entscheidungen fallen, von denen die Lebensbedingungen der Menschen abhängen. Der Christ soll dem Nächsten damit dienen, dass er Ämter in dem Gemeinwesen übernimmt, dem er zugehört, und für dessen Wohl besorgt ist. Das bedeutet, dass ihm die Folgen von Entscheidungen für das politische Gemeinwesen nicht einfach gleichgültig sein können. Bloße Gesinnungsethik kann daher keine christliche Option sein.
[1] Johannes Fischer, Flüchtlingskontingente statt Individualrecht auf Asyl? Warum es gute ethische Gründe gibt, über eine Änderung des Asylrechts nachzudenken, https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2023/07/Individualrecht-auf-Asyl-vs.-Kontingentl%C3%B6sung.pdf
Johannes Fischer
Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.