Ein Hauch von Ulm
Auf der Sitzung der Synode der EKD in Würzburg wurden umfangreiche Maßnahmenkataloge zur Prävention, Entschädigung und Aufarbeitung der Fälle sexualisierter Gewalt im Raum der EKD und der Diakonie angestoßen. Doch plötzlich wurden im Plenum Vorwürfe gegen die amtierende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs laut, die zugleich Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche ist.
Klaus Kutzer möchte nicht darüber reden, was ihm angetan wurde. Er steht am Rande einer viel befahrenen und mehrspurigen Straße in Würzburg. Auf der anderen Seite der Straße ist einer der Eingänge zu einem Hotel mit Kongresszentrum, in dem die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) tagt. Kutzer, ein Mann von 70 Jahren, ist einer von einer Handvoll Demonstranten, die dagegen protestieren, wie das Kirchenparlament sich auf dieser Tagung der Synode mit dem Thema Sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirchen der Bundesrepublik beschäftigt. Kutzer und sein Leidensgenosse Winfried Späth, 68 Jahre alt, halten ein Schild in der Kirchenfarbe violett. Darauf steht: „Moralische Insolvenzverschleppung ist UNCHRISTLICH!“
In einem Heim der evangelischen Kirche hat Kutzer Anfang der 1970er-Jahre Sexualisierte Gewalt erlitten. Ihn empört, dass die so genannten Heimkinder im „Beteiligungsforum“ der EKD nicht ausreichend berücksichtigt würden. Seit 15 Jahren würden die Heimkinder von der Kirche hingehalten. Im Beteiligungsforum mit acht Betroffenen seien zu wenige ehemalige Opfer aus dem Heimsystem der evangelischen Kirchen, sondern vor allem Betroffene, die in den Gemeinden der Kirchen missbraucht worden seien. Dabei gebe es doch rund 2.000 ehemalige Heimkinder, die in der Diakonie Sexualisierte Gewalt erfahren hätten. Außerdem seien zwei Drittel der Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum in irgendeiner Weise von der Kirche über ihre Arbeit oder finanziell abhängig.
Die Zeit dränge, ergänzt Späth. Immer mehr Opfer und unter den ehemaligen Heimkindern seien schon sehr alt und würden sterben, ohne die Leistungen zu erhalten, die ihnen doch eigentlich zustünden. Kutzer hat nach eigenen Angaben über die Kirche und staatliche Stellen insgesamt 25.000.- Euro erhalten, Späth 50.000 Euro. Die „Hinhalterei“ nerve, sagt Kutzer. Und er kritisiert, die früheren Heimkinder hätten eben keine Lobby.
Aufschrei ausgeblieben
Als Lobby der Opfer in Kirche und Diakonie versteht sich natürlich das „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt“ (BeFo), das sich nicht als eine Kircheninstitution sieht, aber doch als die Stimme der Betroffenen innerhalb der Kirche. Ein Mitglied ist Detlev Zander, ein früheres Opfer im Heim der evangelischen Kirche im baden-württembergischen Korntal. Vor der Synode klagt er die Reaktion in den evangelischen Kirchen nach der Veröffentlichung der Studie zur Sexualisierten Gewalt im Raum der EKD (ForuM-Studie) Ende Januar an: „Der Aufschrei ist ausgeblieben.“ Die Tatsache, dass die Zahlen der Studie nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ waren, habe die Kirche „nicht so erschüttert, wie es nötig gewesen wäre“.
Nun wird die EKD-Synode am Mittwoch nach der Behandlung in den Ausschüssen ein ganzes Maßnahmenbündel beschließen, das den monströsen Skandal in Kirchengesetzen, Regeln und Richtlinien in den einzelnen Landeskirchen zu greifen versuchen wird. Die im Frühjahr veröffentlichte Aufarbeitungsstudie ForuM der EKD hatte 46 Empfehlungen ausgesprochen, die nun in zwölf konkrete Maßnahmen übersetzt wurden. Das grundsätzliche Ziel ist dabei, dass alle 20 Landeskirchen in Deutschland und die Diakonieverbände grundsätzlich gleich handeln bei Fällen sexualisierter Gewalt.
15.000 Euro
Wichtig ist im Maßnahmenkatalog vor allem eine Änderung des Disziplinargesetzes in der EKD, um die beamteten Täter in der Kirche besser bestrafen zu können. Entscheidend wird auch eine Novelle der Gewaltschutzrichtlinie der EKD sein, die eine Masse an Einzelmaßnahmen nach sich ziehen wird. Dazu gehören einheitliche Standards bei der Prävention, bei der Intervention und Stärkung der Betroffenenorientierung, bei Unterstützungsleistungen, bei der öffentlichen Kommunikation über neue Fälle, bei der Aktenführung und bei den Ansprech-, Melde-, und externe Beratungsstellen sowie klare Ansprechpersonen für alle Kirchengemeinden und Einrichtungen. Außerdem wird eine Ombudsstelle geschaffen, um „eine bessere und unabhängige Unterstützung von Betroffenen“ zu ermöglichen, wie die EKD schreibt.
Von entscheidender Bedeutung wird natürlich auch sein, wieviel die Opfer aus dem Raum der EKD und der Diakonie an Geld erhalten, um ihr Leid anzuerkennen, auch wenn juristisch etwa wegen Verjährung ein Anspruch auf Entschädigung kaum mehr durchzusetzen ist. Jedes Opfer, so soll beschlossen werden, werde einen individuell ermittelten Betrag erhalten. Dazu kommen ein Pauschal- oder Sockelbetrag in Höhe von 15.000 Euro , wenn es um strafrechtlich relevante Handlungen gegangen sei. Wichtig für die Opfer ist auch, dass sie ihren Fall individuell bei kirchlichen Stellen schildern können. „Die Uhr tickt“, sagte Zander. Seine Kollegin Nancy Janz erklärte, dass das BeFo in Verhandlungen mit der EKD zu Kompromissen beim Erarbeiten der Maßnahmen bereit gewesen sei und alle Opfer auch von außen immer wieder gehört habe. „Es wird niemals ein Optimum geben“, sagte sie – und an die Synodalen gerichtet: „Wir erwarten, dass Sie uns unterstützen.“
Anwältin des Publikums
So schien auf der Synode alles seinen geplanten, fast verwaltungsmäßigen Gang zu gehen, als plötzlich kurz nach 17 Uhr am Montag, kurz vor dem Tagesordnungspunkt „Nachwahl in den Rat der EKD“, eine Gruppe von Opfern außerhalb des BeFos über die „Anwältin des Publikums“ Julia von Weiler vor dem Plenum das Wort erhielt. Frau von Weiler schilderte mit bewegenden Worten die Untaten sexualisierter Gewalt, die bisher zu wenig Beachtung gefunden hätten. Unter anderem verlies sie auch eine Mail von Betroffenen, die folgende Wortlaut hatte: "Warum hat Bischöfin Fehrs, wie zuvor auch Ratspräsidentin Kurschus und bis heute auch Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt als Vorsitzende der Kirchenleitung der Nordkirche, unsere, ihr und den anderen kirchenleitenden Personen seit Jahren immer wieder vorgelegte Beschwerden gegen Bischöfin Fehrs nicht bearbeitet. Zweitens: Welche Auskunft hat Bischöfin Fehrs den durch uns gut informierten Betroffenenvertreter:innen bezüglich der Frage gegeben, warum sie den Aufarbeitungsprozess von Silke Schumacher hat scheitern lassen und warum sie ihre Befangenheit nicht erklärt, sondern mithilfe einer Gruppe uns namentlich bekannten Helfer:innen in der Kirche vertuscht hat.“
Foto: Philipp Gessler
Auf seiner Homepage hatte der Hamburger Psychologe Thies Stahl unter der Überschrift „Der Fisch stinkt vom Kopf“ einen Offenen Brief an die EKD-Ratsmitglieder und die Leitung der Nordkirche veröffentlicht. Er äußert darin massive Vorwürfe vor allem gegen Bischöfin Fehrs. Es sind komplizierte Vorgänge, die Stahl so zusammenfasst: „Im Zentrum dieses sich immer mehr zu einem Skandal auswachsenden Vorganges steht der unprofessionelle Umgang der Leiterin der Hamburger Unterstützungsleistungskommission (ULK), Bischöfin Fehrs, mit ihrer Befangenheit, die aus ihrer persönlichen Freundschaft mit einem tief in den aufzuklärenden Missbrauchskontext verstrickten Pastor resultiert. Diese Befangenheit versucht Bischöfin Fehrs seit beinahe fünf Jahren mit Hilfe etlicher Amtsverfehlungen und eines Amtsverrates zu vertuschen.“
Aufgewühlte Synode
Die Nachwahl in den Rat wurde nach dem Vortrag von Julia von Weiler zunächst unterbrochen. Die Synode wirkte aufgewühlt, überall standen Synodale in kleinen Gruppen zusammen, um das Geschehen zu diskutieren. Kurz darauf wurde den Pressevertreter:innen vom Pressesprecher der Nordkirche mündlich auf der Pressetribüne angekündigt, die Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Kristina Kühnbaum-Schmidt, werde vor der Synode zu den Vorwürfen Stellung beziehen und man könne schon mal "per Mail" Fragen an ihn zu den erhobenen Vorwürfen gegen die Bischöfinnen der Nordkirche stellen. Kühnbaum-Schmidt wird in Stahls Offenen Brief ebenfalls scharf angegangen.
So lag in diesem Stunden erneut ein Hauch von Ulm in der Luft, als die damalige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus wenige Tage nach dem letzten Synodentreffen vor einem Jahr sich schließlich zu einem Rücktritt gezwungen sah. Auch da ging es um den Vorwurf, sie haben vor vielen Jahren Taten sexualisierter Gewalt nicht so energisch weiterverfolgt wie nötig, weil sie mit dem Täter befreundet gewesen sei. Dass wiederum nicht Fehrs direkt, sondern Kühnbaum-Schmidt an ihrer Stelle zu den Vorwürfen Stellung beziehen sollte, wie der Pressesprecher der Nordkirche den Journalistinnen und Journalisten auf der Pressetribüne ankündigte, schmeckte wieder nach der unglücklichen Krisenkommunikation, über die am Ende auch Annette Kurschus vor einem Jahr gestolpert war.
(K)eine Erklärung
Allerdings verzögerte sich die angekündigte Reaktion der Nordkirche-Leitung immer weiter in die Nacht, weil die Wahl neuer Mitglieder in den Rat der EKD viel länger dauerte als geplant. Nachdem am Ende dann endlich die neuen Ratsmitglieder – der berlin-brandenburgische Landesbischof Christian Stäblein, die Kirchenpräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Susanne Bei der Wieden und die Historikerin und Ordensschwester Nicole Grochowina - gewählt waren, hieß es, bei der Verabschiedung der Synodalen am Montagabend werde es eine Erklärung der Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt zu den Vorwürfen gegen Fehrs vor den Kirchenparlamentariern geben. Bei der Abkündigung gegen 22 Uhr verwies die Synodenleitung jedoch nur in einem knappen Satz auf einen Ende Oktober geschriebenen Brief des Kirchenamtes der EKD an die Synodalen in Reaktion auf den Offenen Brief Stahls vom Sommer, der aber bis zu diesem Zeitpunkt den meisten Medienvertreter:innen nicht bekannt war.
In diesem Brief erklärt das Kirchenamt, man habe zur Beantwortung der Fragen, die sich aus dem Offenen Brief Stahls ergeben, „die unabhängige Stabsstelle Prävention der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland um die unterstützende Zuarbeit zu dem Vorgang erbeten und diese von dort erhalten. Personen der kirchenleitenden Ebene der Nordkirche waren an der Sachverhaltsdarstellung beteiligt.“ Weiterhin heißt es dort: „Die Nordkirche arbeitet den Sachverhalt weiterhin konsequent auf, und die Stabsstelle Prävention der Nordkirche betrachtet den Vorgang weiterhin nicht als abgeschlossen.“ Gleichwohl kommt das Kirchenamt zum Ergebnis: „Vor dem Hintergrund der bei der EKD nun vorliegenden Informationen sehen wir für das von Herrn Stahl in seinem Offenen Brief Bischöfin Fehrs vorgeworfene Fehlverhalten keinerlei Anhaltspunkte.“
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.