Arbeiten am Gedächtnis

Lesefrucht: Ein erhellender Essay von Charles Pépin
Foto: Privat

Spät, sehr spät schaffte es das Gedächtnis, Thema der Philosophie zu werden. Lange blieb es ausgesourct in der Psychologie und Psychoanalyse. Charles Pépin, Philosoph aus Frankreich, der durch seine feine Kleine Philosophie der Begegnung in mein Lesegedächtnis einzog, will das ändern. Er entdeckt in seinem Lesegedächtnis Henri Bergson neu – genau: der mit dem Élan vital – und bringt ihn in ein Gespräch mit neueren Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft. Pépins Essay: Mit der Vergangenheit leben. Eine Philosophie für den Aufbruch, ist zugleich ein Abgesang auf die bisherigen Lordsiegelbewahrer: „Während Freud oder Lacan uns aufforderten, die Vergangenheit zu akzeptieren, da sie nicht zu ändern sei, legen uns die neuen, neurowissenschaftlich ausgebildeten Therapeuten nun nahe, unsere Vergangenheit zu verändern, um offen für die Zukunft zu sein.“ Bergsons geniale Intuition war: Das Gedächtnis ist mitnichten statisch, sondern dynamisch. Abgekürzt gesagt: »Ich erinnere mich, also bin ich«. Anders gewendet: „Er legt uns eine Haltung der schöpferischen Empfänglichkeit und der Offenheit für die Vergangenheit nahe, die uns konstituiert.“

Hatte Bergson das Erinnerungsgedächtnis und das Gewohnheitsgedächtnis unterschieden, so diversifiziert die Neurowissenschaft fünf Gedächtnisformen: „das episodische (oder autobiographische) Gedächtnis, das in etwa Bergsons Erinnerungsgedächtnis entspricht; das semantische Gedächtnis der Worte und Ideen; das prozedurale Gedächtnis, das mit unseren Reflexen und Gewohnheiten verbunden ist und Bergsons Gewohnheitsgedächtnis ähnelt; dazu kommt noch das Kurzzeitgedächtnis, aufgefächert in Arbeits- und sensorisches Gedächtnis.“ Unsere Erinnerung ist „kein in unserem Gehirn eingeschriebener Datensatz. Sie ist keine lokalisierbare Gedächtnisspur, auch kein irgendwo abgespeichertes Bild, sondern eine in einer bestimmten Weise erfolgte Affizierung (sic!) und Beeinflussung unseres Gehirns durch das Erlebte.“ In der ständigen hochkomplexen Bearbeitung des Beziehungsgeflechts Gedächtnis ist immer auch Phantasie im Spiel. 

Warnung vor der Flucht

Eminent wichtig ist das semantische Gedächtnis, weil es in „der »Vorkammer« des Bewusstseins“ Selbstbilder verfestigt, die wieder verflüssigt werden wollen.“ Es muss also gelingen, die irrigen »allgemeinen Wahrheiten«, die großen Pauschalisierungen, die aus Erlebnissen abgeleitet wurden“, so Pépin, „zu korrigieren“, oder, wie er an anderer Stelle sagt, wir müssen diesen Erlebnissen „eine Umdeutung unterziehen“. Gleichsam Vorbedingung ist eine Schule der Sinne, denn auch eine Glückswoge kann über uns hinwegrauschen und wenig Verankerung erfahren, erst intensive Wahrnehmungen erlauben eine „Erfahrung der Dezentrierung“, sind Einladungen, „uns zu öffnen“. So erst kann eine Musik „zum Soundtrack des Lebens werden“, verschafft wie Prousts Madeleine eine Identität, die der Zeit trotzt und sogar die „seltsame Hoffnung“ auf ein „ewiges Selbst“ aufruft.

Vielwortig warnt Pépin vor Strategien des Vermeidens, der Flucht in Alkohol und Arbeit. Pépin fordert mit Bergson eine „schöpferische Rekapitulation“, die es uns erlaubt, Neues zu erschaffen: Drei Bücher, die diesen Sprung geschafft haben, werden von Pépin dringend zur Lektüre empfohlen: Didier Eribons Rückkehr nach Reims und die Autobiographie des Fußballers Zlatan Ibrahimovic: Adrenalin. Was ich noch nicht erzählt habe; Jorge Semprun: Schreiben oder Leben. In diesen drei Büchern findet er die neue Definition der Freiheit nach Bergson wieder: „Freiheit“ ist nicht die „Abwesenheit von Zwängen“, sondern Freiheit gründet „darauf, dass wir inmitten dieser Zwänge wir selbst sind.“ 

Leichte Schlagseite

Zur spielerischen Identifizierung angeboten werden „Künstler und Gelehrte“ als „großartige Vorbilder für das Leben“: „Der Lebensschwung, der durch sie besonders stark zum Ausdruck kommt, dezentriert sie auf exemplarische Weise hin zu einem Streben nach Höherem, das weit über die persönliche Anerkennung hinausgeht: Schönheit und Wahrheit.“ Assistieren können auch Verhaltenstherapeuten, die helfen, den „toxischen Charakter“ einer Vergangenheit zu entschärfen, indem sie in die Vergangenheit eingreifen und eine starke Prise Stoizismus verabreichen, als Prise gegen Melancholie hilft offenbar eine Dosis „epikureische Weisheit“. Und ganz zum Schluss feiert Pépin mit Hannah Arendt das Vergeben und Verzeihen als Möglichkeit für einen Neuanfang. Final plädiert Pépin für drei Bewegungen: „Hin zur Vergangenheit: die Bewegung des Annehmens und Umschreibens in einem“; „Eine zweite Bewegung hin zur Zukunft: die Bewegung des Handelns“, „Und eine dritte Bewegung hin zu den anderen und zur Welt: die Bewegung des Sich-Öffnens“. 

So erhellend der Essay ist, er hat auch eine leichte Schlagseite, weil die spielerische Identifikation mit realen Personen oft einen Optimierungsdruck erzeugt. Pépin sieht das Problem, wenn er Schönheit und Wahrheit beschwört. Zielführender sind spielerische Identifikationen mit (fiktiven oder realen) Personen, die Statusverzicht üben und damit zu einer Absenkung der Gewalt unter Menschen beitragen. Wie etwa Jesus Christus. 

 

Literatur:

Charles Pépin: Mit der Vergangenheit leben. Eine Philosophie für den Aufbruch. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet, München 2024.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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