Ihre Mutter hatte es in der Zeitung gelesen und ihr gleich Bescheid gesagt. Einfach kommen und sich taufen lassen, ohne Anmeldung. C. war gleich entschlossen. Jetzt mit 30 Jahren würde sie endlich ihre Taufe feiern. Zu ihrem großen Moment sollen sie alle begleiten, die ihr am Herzen liegen. Ihre Schwester reist sogar von Lübeck nach Kassel. Als sie ankommen, ist die Kirche voll mit Menschen. In der Straßenbahn, auf den Litfaßsäulen der Stadt oder im Postkartenständer in der Bar hatten sie von der Taufaktion in Kassel erfahren. C. schaut sich die verschiedenen Tauforte an. Die kleine Kapelle hinten, die soll es sein. Da ist es intimer und ruhiger als in der großen Kirche. Auch der Song, den die Band für ihren besonderen Moment live spielt, ist schnell gefunden. „Hallelujah“ von Leonard Cohen möchte sie unbedingt hören.
Ihre Schwester nimmt sich viel Zeit, um für sie in der Kirche die Taufkerze zu gestalten. Ihren Taufspruch weiß C. schon längst. Im Taufgespräch erzählt sie mir, was sie heute hierher führt. Nicht immer war alles einfach in den letzten Jahren. Ein bisschen feiert sie heute mit ihrer Taufe auch, dass sie überhaupt noch lebt. C. und die, die zu ihr gehören, nehmen sich Zeit an diesem Tag. Nichts ist beiläufig. Sie genießt die besondere Atmosphäre in der Kirche, bereitet sich vor auf ihren Moment. Dann irgendwann ist es soweit. An der Taufschale frage ich sie, ob sie ihre Kraft aus Gottes Kraft schöpfen will und wir feiern ihren besonderen Moment. Tränen der Rührung und danach natürlich ein Glas Sekt vor der Kirche. Später wird C. sagen: „Jetzt fühle ich mich noch näher an Gott.“
Innen mitgesprochen
P. ist 9 Jahre alt. Seine ganze Familie hat er mitgebracht. Der Anzug für diesen Tag ist nagelneu und auch die Haare frisch geschnitten mit coolem Zickzack-Muster an der Seite. Sein Großvater erzählt mir, dass er lange als Organist Gottesdienste begleitet hat. Für die Taufe von P. hat die Familie einfach abgewartet, bis es mal wieder eine besondere Gelegenheit gibt. So schön war das damals, als P.`s Schwester bei dem großen Tauffest im Bergpark getauft worden ist. Einfach nur zuhören bei der Musik kommt für die Familie nicht in Frage. Sie nehmen sich Gesangbücher mit, damit sie mitsingen können bei „Halte zu mir, guter Gott“. Als ich P. bei der Taufe seinen Taufspruch zuspreche, atmet er ein. Ich frage ihn, ob er vielleicht noch etwas sagen wolle, weil er gerade so Luft geholt hat. P. antwortete: „Nein, ich habe nur für mich innen mitgesprochen.“
65 Menschen feiern im September in Kassel, Hanau und Fulda bei „Für dich. Segen spüren. Taufe erleben“ ihren besonderen Moment. Kaum eine dieser Taufen hätte in einem normalen Gemeindegottesdienst stattfinden können. Viele waren schon lange innerlich mit dem Gedanken an eine Taufe beschäftigt und dann brauchte es diese besondere Einladung, um es endlich zu tun. Bei zumindest einer war es spontaner. Aus ihrem Wohnzimmerfenster konnte die junge Frau das bunte Treiben vor der Kasseler Friedenskirche sehen und entschied spontan, ihr Kind zur Taufe zu bringen. Menschen, die schon längst getauft sind, kamen in die Kirche, um sich an ihre Taufe zu erinnern.
Private Spender nötig
Das Projekt „Für dich. Segen spüren. Taufe erleben“ hat in den vergangenen Jahren EKD-weit Aufmerksamkeit erregt. Durch die Werbung wird vor allem die Möglichkeit der Erwachsenentaufe in den öffentlichen Raum gebracht. Es ist zu erwarten, dass die Erwachsenentaufe in unseren Kirchen perspektivisch eher zum Normal- als zum Ausnahmefall wird. Gegenwärtig gibt es kaum kirchliche Strategien, sie öffentlich ins Gespräch zu bringen und für Menschen zugänglich zu machen. Trotz des großen Zuspruchs für das Projekt in den vergangenen Jahren in Hanau war es mühsam die Taufaktion in diesem Jahr auf weitere Orte in der EKKW auszudehnen. In Kassel war es notwendig, private Spender zu gewinnen, um die groß angelegten Werbemaßnahmen zu finanzieren. Da es in Kassel keine Kasualagentur oder ähnliches gibt, war die Durchführung nur möglich durch das Engagement von Ehrenamtlichen und von Hauptamtlichen, die bereit waren, sich jenseits ihrer konkreten Dienstaufträge für das Projekt zu engagieren.
Für mich zeigt sich gerade im Hinblick auf die Beschwernisse rund um die Finanzierung ein strukturelles Problem. Die Versuche von Kirchen durch Erprobungsräume oder Innovationsfonds gezielt neue Formen kirchlicher Praxis zu fördern verschleiern ein Stück weit die grundlegende Schwierigkeit, Kirchenentwicklung wirklich nachhaltig ins System zu bringen. Friederike Erichsen-Wendt bemerkt zu Recht in ihren Wahrnehmungen und kirchentheoretischen Deutungen zur Taufaktion in Kassel, dass Erprobung perspektivisch nicht mehr im Bereich der Formate stattfindet, sondern im Bereich der Ressourcen. Es gehe darum, wer bereit ist, für was Ressourcen aufzuwenden.
Paradigmenwechsel
Wir erleben gegenwärtig eine große Widersprüchlichkeit in unseren Kirchen. Die resonanzstarken Hoffnungsgeschichten, die eine Idee der Kirche der Zukunft konturieren, entstammen nahezu durchgängig neuen Ausrichtungen im Kasualhandeln. Auch hochverbundene Ehrenamtliche erleben neue Selbstwirksamkeiten und neue kirchliche Vitalität bei Formaten wie der Taufaktion. Die Geschichten solcher Kirchenbilder werden in Synoden erzählt und beklatscht, aber gleichzeitig gelingt es kaum ihr kirchenentwickelndes Potenzial in strategische Entscheidungen zu übersetzen.
Aktuell ist es 5 vor 12. Wenn die Ressourcen noch weiter geschwunden sind und die Verteilungskämpfe massiver werden, schließt sich das Fenster, in dem solche strategische Kirchenentwicklung überhaupt noch möglich ist. Dass der Schritt mutig wäre, ist mir klar. Gegenwärtig geht es um nicht weniger als um die Frage, ob wir bereit wären, uns den Entwicklungen von einem Traditionschristentum hin zu einem Bildungschristentum zu öffnen. Wenn wir uns dieser Bewegung nicht öffnen, wird die Kirche wesentlich kleiner und resonanzärmer sein, als es zukünftig möglich wäre.
Ich jedenfalls träume mit anderen von einer Kirche, die bereit ist zu einem solchen Paradigmenwechsel und ihre Ressourcen so einsetzt, damit Menschen in der Kirche Räume vorfinden, wo sie selbstbestimmt ihrem eigenen Glauben Ausdruck verleihen können. Menschen wie M. Er kam ganz alleine an dem Tag in die Kasseler Friedenskirche. Lange sitzt er in der Bankreihe, lauscht der Musik der anderen Taufen. Er wartet, weil er in die kleine Kapelle möchte, die zu dem Zeitpunkt sehr begehrt war. Eine Kollegin setzt sich einen Augenblick neben M. und sagt ihm, dass er sich noch ein wenig gedulden müsse, bis wir seine Taufe mit ihm feiern können. M. blickt sie von der Seite an und sagt: „Ich habe mein Leben lang auf einen solchen Moment gewartet. Da kommt es auf diese eine Stunde ja auch nicht an.“
Katharina Scholl
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.