Den Krieg verlernen?

Ein Plädoyer für einen realistischen Pazifismus
Anstecker auf der Ukaine-Friedenskonferenz: Friedenstaube auf den Farben der Ukraine
Foto: picture alliance /AA/photothek.de | Thomas Trutschel
Anstecker auf der Ukraine-Konferenz im Juni 2024 in Berlin.

Christen könnten sich nicht heraushalten aus dem Krieg gegen die Ukraine und so ihre pazifistische Unschuld bewahren, meint Hans-Jürgen Benedict. Zur Begründung verweist der emeritierte Professor für diakonische Theologie auf den Theologen Karl Barth, aber auch auf die Bibel. Doch in allem Realismus hält er auch an der Friedensvision des Propheten Micha fest.

Im Kriegslied von Matthias  Claudius, das dieser aus Anlass des bayrischen Erbfolgekriegs 1779 verfasste, heißt es: „‚s‘ist Krieg,  s‘ist Krieg. O Gottes Engel wehre/ und rede du darein, /s’ist leider Krieg und ich begehre/ nicht schuld daran zu sein. Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen,/ und blutig bleich und blaß /die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,/ und vor mir weinten, was?“ 

Claudius spricht hier als ein Mensch, der sich angesichts des drohenden Kriegs in Gewissensnot befindet. Die Toten und Verletzten suchen ihn mit ihren Klagen im Schlaf heim. Ihm bleibt nichts andres übrig, als um Schuldfreiheit zu bitten, weil er den Krieg nicht will. Er fordert den Engel Gottes zur Intervention auf. Dieser Engel Gottes ist der Statthalter des noch ohnmächtigen Gewissens.

Diese Situation, den Krieg nicht zu wollen und ihn doch hinnehmen zu müssen, bestimmt auch heute noch unsere Lage, mit dem Unterschied, dass Pazifisten aktiv werden und ihre Stimme erheben können. Sie können das Votum von Boris Pistorius kritisieren, nach dem Deutschland in Zukunft „kriegstüchtig“ werden soll. Der Begriff „tüchtig“ ist für das ernste Thema der Kriegsfähigkeit unpassend, er knüpft an unselige Traditionen an. Deutschland ist zu oft dem Phantasma seiner Kriegstüchtigkeit erlegen und hat damit schreckliches Unglück über Europa gebracht.

Schwere Entscheidungen

Es gibt Streit in der Öffentlichkeit, in den Parteien und auch in den Kirchen. Denn nicht alle wollen die von Kanzler Scholz beschworene Zeitenwende mitmachen. Sie wollen weder die Bundeswehr aufrüsten noch die Ukraine mit Waffen beliefern. Sie  wollen vielmehr an dem Pazifismus, an jener Friedfertigkeit, die Frieden ohne Waffen schaffen will, festhalten. Der Friedensbeauftragte der EKD, Bischof Kramer, vertritt dezidiert diese Position. Er und andere berufen sich dabei auf Jesus, der die Friedfertigen seliggepriesen und zur Feindesliebe ermuntert hat. Das ist eine Haltung, die früher nur von den Friedenskirchen und einzelnen Christen vertreten wurde, auch wenn sie dafür leiden mussten. Die aber seit der Amsterdamer Vollversammlung des ÖRK 1948 mit ihrem Votum: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“ auch die Großkirchen erreicht hat, wenigstens was die Ablehnung des Krieges betrifft, mit Ausnahme der russisch-orthodoxen Kirche. 

Die Zeit, dass man theoretisch darüber diskutieren konnte, ist jetzt vorbei. Seit dem 24.Februar 2022 sind die Politiker Europas und des Westens dauernd dazu gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen. Sollen wir Panzer liefern, weit reichende Abwehrraketen, Flugzeuge, um nur an die letzten Debatten zu erinnern? Es waren schwere Entscheidungen und keinesfalls so schnell zu beantworten, wie die strammen Befürworter unbeschränkter Waffenlieferungen es verlangten. 

Kriterium war dabei immer: Wir, die Länder des Westens, wollen keine direkt beteiligte Kriegspartei sein. Wir wollen die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland massiv unterstützen - mit Geld, humanitärer Hilfe, Aufnahme der Flüchtlinge  und  vor allem mit Waffen. Aber wir wollen eine Eskalation vermeiden, die zu einem größeren Krieg, möglicherweise sogar zu einem Atomkrieg führen könnte.

Barths offener Brief

Als Christen können wir uns nicht heraushalten aus diesem Konflikt und so unsere pazifistische Unschuld bewahren. Zum Vergleich erinnere ich daran, dass  der Theologe Karl Barth, einer der bedeutendsten Theologen des 20.Jahrhunderts, 1938 in der Sudeten-Krise in einem öffentlichen Brief an den tschechischen Theologen Josef Hromadka sagte: Ich „hoffe, daß die Söhne der alten Hussiten dem überweich gewordenen Europa zeigen werden, daß es auch heute noch Männer gibt.“ Und dann, im veröffentlichten Brief gesperrt gedruckt: „Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns tun, und ich sage heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die im Dunstkreis der Hitler und Mussolini entweder nur der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann.“ 

Das, was von menschlicher Seite an Widerstand geleistet werden muss, so Barth weiter, finde an den Grenzen der Tschechoslowakei statt. Dabei solle man „sein Vertrauen nicht auf Menschen, Staatsmänner, Geschütze usw., sondern auf den lebendigen Gott und den Vater Jesu Christi“ setzen. Am 25.September 1938 wurde der Brief in der Prager Presse in Auszügen veröffentlicht, vier Tage später gaben Frankreich und England auf der Münchener Konferenz ihre Zustimmung zu der Annexion des sogenannten Sudetenlandes, der am 1.Oktober 1939 durch den Einmarsch der deutschen Truppen ohne Gegenwehr der im Stich gelassenen Tschechen  vollzogen wurde.

Als die russischen Truppen am 24.2.2022 auf Kiew marschierten, habe ich wie viele andere gedacht, es bleibt nur die Kapitulation und vielleicht die gewaltfreie soziale Verteidigung gegen den Aggressor. Ich habe mich geirrt. Die Ukraine wehrt sich seitzweieinhalb Jahren mit Hilfe der westlichen Waffen erfolgreich gegen die Annexion. Und es bleibt inständig zu hoffen, dass ein Waffenstillstand und ein gerechter Frieden zum Rückzug Russlands führt. 

Krieg und Gewalt

Wenn es denn stimmt, dass die Ukraine neben ihrem Staatsgebiet auch die Werte und Errungenschaften des Westens verteidigt,  und wenn wir wissen, dass dafür und für die nationale Identität der Ukraine schon über 80.000 ukrainische Soldaten gestorben sind und  dass hunderttausende verletzt wurden, dass große Städte zerstört wurden und die Infrastruktur des Landes immer wieder von russischen Lenkwaffen angegriffen wird, dass Millionen Ukrainer auf der Flucht sind, dann  muss unsere Hilfe konstant, verlässlich weitergehen. Die Klagen der Mütter, Ehefrauen und Kinder über den Tod ihrer Söhne, Ehemänner und Väter verpflichten uns wie im Kriegslied von Matthias Claudius dazu. 

Wie also soll es weiter gehen? Was können wir als Christen dazu beitragen, dass bald eine friedliche Lösung gefunden wird? Wenn wir Rat suchen, blicken wir als Christen zuerst in unsere Heiligen Schriften. Die zeigen aber, dass Krieg und Gewalt ihr nicht fremd sind, im Gegenteil, auch wenn man nicht gleich wie Goethe sagen muss, die Kirchengeschichte sei ein „Mischmasch von Irrtum und Gewalt“. Die Geschichte der Zivilisation beginnt in der Bibel mit einem Brudermord und mit dem göttlichen Schutz für den Mörder, der zum Begründer der Stadt wird. Sie zeigt uns schon bald einen Gott, der seine Menschenkinder ob ihrer ständig wachsenden Bosheit in einer großen Flut vernichtet und der doch danach zu der Erkenntnis kommt, dass der Mensch böse von Jugend auf ist und er deshalb die Erde nicht mehr vernichten will.  Zum Zeichen dafür setzt er seinen Regenbogen in die Wolken. 

Gott rüstet ab und ist doch immer wieder der richtende, auch schon mal zornige Gott, der Sodom und Gomorrha mit Feuer vom Himmel verzehrt, die Ägypter jämmerlich im roten Meer ersäuft, der die Rotte Korah in der Felsspalte zugrunde gehen lässt, das ums Goldene Kalb tanzende Volk dezimiert. Gott unterstützt Israel bei seinem Kampf gegen die Einwohner Palästinas in sogenannten heiligen Kriegen, er zieht voran, schreckt die Feinde und erwartet von den  Kämpfern, dass sie nach einem Sieg den Bann am Feind vollstrecken, d.h. ihn und sein Vieh töten. Ich erinnere an Davids Kriege und an das Morden im Kampf um die Thronnachfolge Davids, an den Propheten Elia, der die Baalspriester zu hunderten abschlachtet, an den Allerhöchsten, der Satan Hiobs Familie umbringen lässt. 

Schauriger Gewaltfilm

Und das setzt sich selbst im Neuen Testament mit seiner Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus fort.  Wo die Geschichte der Geburt in einen Kindermord mündet, wo den nicht für das Gottesreich bereiten die ewige Verdammnis angedroht wird („den unnützen Knecht werft hinaus“) und die Endzeit als gewaltiges apokalyptisches Drama sich vollzieht, ich sage nur Harmagedon (Apk16,16). Ein schaurig schrecklicher Gewaltfilm rollt, wenn wir uns erinnern, vor unserem Auge ab und nicht umsonst werden die biblischen wie viele andere antike Mythen und Geschichten immer wieder von Hollywood verwertet oder neu erzählt 

Der Realismus vor allem der hebräischen Bibel sagt uns: Es gibt keine Welt ohne Gewalt, ohne Mord und Totschlag, ohne Streit, Fehden, Konflikte und Kriege. Vorschläge zur Gewaltüberwindung gibt es in der Bibel nur wenige. Eigentlich sind es nur drei der Antithesen der Bergpredigt, die vom Töten, „gehe erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder“, die vom Vergelten, „wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin“ und besonders die Antithese von der Feindesliebe: „Liebt eure Feinde  und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder  eures Vaters im Himmel seid. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 6)

Neu und weiterführend ist in der Bibel allerdings die Wahrnehmung der Erniedrigung und Erhöhung der Opfer und der Elenden – der leidende Gottesknecht (Jes 54), die verfolgten Propheten und der  zu Unrecht von Gott geschlagene Hiob. Und natürlich der gepeinigte und gekreuzigte Jesus („ein jeder sei gesinnt, wie Christus auch war…er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn Gott auch erhöht …“Phil 2,5ff) Die memoria passionis ist ein wichtiger Beitrag des Christentums zur Gewaltüberwindung. 

Stationen des Friedensprozesses

Und dann gibt es in der Hebräischen Bibel auch die Träume und Utopien vom ewigen Frieden. Neben  dem Friedenskind von Jes 9, dem Tierfrieden von Jes 11 und dem Friedensfürst auf dem Esel (Sacharja 9,9ff) vor allem Jes 2,1-4 und Micha 4,1-4, den Traum von der Völkerwallfahrt zum Berg Zion, die zu einer großen Abrüstung und Umrüstung führt, zur Konversion der Waffen, wie es im Englischen heißt, die zu Friedenswerkzeugen werden.  „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.“ Das ist aber nicht etwas, was über Nacht und schnell geschieht. Sondern was sich in einem Jahrtausende langen Prozess vollzieht. Vom Zion wird Weisung ausgehen. „Gott wird schlichten zwischen vielen Nationen und starken Völkern Recht sprechen bis in   ferne Länder“ (so die Bibel in gerechter Sprache). Man müsste ergänzen: Bis in ferne Zeiten.  

Ich will einige Stationen dieses Prozesses benennen- da wäre die Lehre vom gerechten Krieg, wie sie zuerst bei Cicero und Augustinus steht. Da ist die Entwicklung des Völkerrechts, wie sie bei Hugo Grotius vorangetrieben wird. Da wäre vor allem Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden zu nennen: „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden.“ Weiter: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern Staat sich solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Vertrauen unmöglich machen.“

Schritte im Friedensprozess geschehen meistens abseits der Kirchen: Ich erinnere an Bertha von Suttners viel gelesene Schrift Die Waffen nieder, die 1899 die Friedenssehnsucht der Menschheit eine Stimme gibt, an die Haager Landkriegsordnung für eine gemäßigte Kriegführung,1899 auf der ersten Haager Friedenskonferenz beschlossen wurde, an US-Präsident Wilsons 12 Punkte-Plan nach dem 1.Weltkrieg, an die Gründung des Völkerbunds 1920,  an Dietrich Bonhoeffers Friedensandacht auf Fanö 1934: „Die Kirchen müssten ihren Söhnen die Waffen aus der Hand schlagen und über eine rasende Welt den Frieden Christi ausrufen“. Ich erinnere  an die Gründung der UNO in San Francisco im Juni 1945 mit der Präambel der UN-Charta, in der es heißt: „Wir ,die Völker der Vereinten Nationen sind entschlossen, die Welt von der Geißel des Krieges zu befreien“ und mit der  Erklärung der Menschenrechte, an Theodor Eberts Entwurf einer Sozialen Verteidigung 1966, die langsam die militärische ablösen soll, an die Friedensdenkschrift der EKD 2007 Aus Gottes Frieden leben- für gerechten Frieden sorgen die Kriterien rechtserhaltender Gewalt an die Stelle der Kriterien des gerechten Krieges setzt, ich erinnere an  die  völkerrechtliche Befürwortung der „Responsibility to Protect“ und der humanen Intervention und schließlich an die Genfer Flüchtlingskonvention und an die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag, der seine Tätigkeit im Juli 2002 aufnahm und der zuständig ist für Kernverbrechen des Völkerstrafrechts wie Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

Schöne Hoffnung

All diese Schriften und Schritte zu dem Prozess gehören, der nach dem Propheten Micha in Zion in den letzten Tagen beginnen soll. Zielpunkt: „Sie werden nicht mehr lernen Krieg zu führen“, sondern abzurüsten. Und dann die wunderbare, kleinteilige bäuerliche Vision des Micha: „Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ Frieden im Nahbereich und Ende der Abschreckung. Das ist eine schöne Hoffnung. 

Doch ich kann mir auf dieser Erde mit ihren fast 8 Milliarden Bewohnern und den damit gegebenen inhärenten Konflikten und den schlimmen Folgen des Klimawandels nicht vorstellen, dass dieser Zustand jemals erreicht wird. Es wird immer weiter irgendwo auf diesem Planeten kriegerische Konflikte geben und auch Friedensschlüsse, die den Namen nicht verdienen. Bestenfalls wird es stets ein kleines Mehr an Erkenntnis geben, wie ein Krieg verhindert werden  und wie das Völkerrecht besser zur Geltung gebracht werden kann. Vielleicht werden immer mehr Länder wie der Prophet Micha nicht nur davon träumen, dass Abrüstung wird, sondern selbst erste Schritte unternehmen, damit sie in Ruhe „unter ihrem Feigenbaum sitzen“ können.  Und ich hoffe auch, dass die, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. 

Trotz des skeptischen Fazits will ich mit einem jüdischen Witz schließen: 1. Weltkrieg an der Front: „Heute geht es gegen den Feind, Soldaten, Mann gegen Mann,“ sagt der Leutnant.  Schmuel ruft: „Herr Leutnant, zeigen Sie mir meinen Mann, vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm einigen.“

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Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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