Tolle Tage

Regensburg: Neuheiten Alter Musik begeisternd dargeboten
Bläser im Konzert „L.E.D: - Luceat eis, Domine“ am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.
Foto: Michael Vogl- Tage Alter Musik Regensburg
Bläser im Konzert „L.E.D: - Luceat eis, Domine“ am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.

Früher waren sie ein Geheimtipp, heute sind sie das führende Alte-Musik-Fest Deutschlands: Zum 38. Male fanden die Tage Alter Musik Regensburg über Pfingsten statt. zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick war dabei (und rundherum drehte die Welt sich weiter, zum Beispiel die des Fußballs).

Das kann doch nicht wahr sein: 0:2 zur Pause in Dortmund! Als David Hansen, der vortreffliche Altus, zusammen mit dem Ensemble Oslos Circles, die bekannte „Frostarie“ (Cold Genius) aus Henry Purcells „King Arthur“ am Nachmittag des Pfingstsamstags anstimmte, blickte ich dummerweise auf mein Smartphone, und mich befiel die Ahnung, dass es nichts werden könnte mit dem Aufbruch aus lähmend-langweiliger Eintönigkeit im deutschen Fußball, zumal der FC Bayern in Köln laut kicker.de beim dortigen FC 1:0 in Front lag.

Da meldete sich die innere Stimme: „Ach, lass fahren dahin … es gehe, wie es gehe, konzentrier dich gefälligst auf dieses schöne Konzert in der Basilika St. Emmeram!“ Und so lenkten sich Augen, Ohren und Gemüt wieder auf die kluge Werkabfolge musikalischer Kostbarkeiten des leider so früh verstorbenen englischen Jahrhundertkomponisten Henry Purcell (1659-1695), die der australisch-norwegische Sänger David Hansen in artistisch-inniger Geschmeidigkeit zelebrierte. Hansen hat ein weiches Timbre, ausgeglichen in allen Lagen und von strahlendem Glanz, das sich im Laufe des Konzertes mehr und mehr entfaltete. Sehr akkurat wurde er begleitet vom norwegischen Ensemble Oslo Circles – wunderbar, wunderbar.

Frevelhafter Smartphoneblick

Frevelhafterweise fiel mein Blick doch noch einmal aufs Smartphone, just in dem Moment, als Hansen die erlöste Hymne „Fairest Isle“ aus King Arthur anstimmte. Und siehe da: Köln hatte ausgeglichen – jaaa! Jetzt wäre Dortmund Meister, und es waren nur noch ganz wenige Minuten! Wie herrlich, dachte ich und der überwiegende Teil Fußballdeutschlands mit mir, als der Schlussapplaus herabrauschte und David Hansen seine erste Zugabe sang. Der Applaus wollte nicht enden, möglicherweise mischte sich die Freude der von der öden Dauerdominanz des FC Bayern genervten Menschen in die fraglos angebrachte Anerkennung ob der wundervollen Leistung der Musizierenden. So stimmten Hansen und die Seinen noch einmal eines der schönsten elegischen Songs an, die Purcell uns hinterlassen hat, nämlich das Lamento der Dido aus „Dido und Aeneas“ – ach, wie edel … aber was erlauben Musiala! Zufällig erwischte mich der Kicker-Newsticker meines Phones am unteren Augenlid und meldete 2:1 für Bayern in der 89. Minute, Torschütze Jamal Musiala – o weh, o weh, der Rest der Sache ist bekannt, und so geriet Dido’s Lament in St. Emmeram 2023 zum gelb-schwarzen Grabgesang.

Tage Alter Musik
Michael Vogl- Tage Alter Musik Regensburg

Ensemble Oslo Circles und der Countertenor David Hansen am 27.5. 2023 in der Basilika St. Emmeram.

Als sich das Dortmund-Bayern-Drama ereignete und sich aufgrund der digitalen Ubiquität unserer Tage als Subtext des St. Emmeramer Purcell-Konzertes eingrub, hatten die diesjährigen Tage Alter Musik – kurz TAM – längst begonnen:  „Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen!“ Ja, für dieses Musikfest an der Donau gilt wahrlich dieser Aufruf, den kein geringerer als  Johann Wolfgang von Goethe prägte. Wenn auch nicht anlässlich der Regensburger Tage Alter Musik, denn die gibt es erst seit 1984, sondern als ersten Satz in seinem Versepos „Reineke Fuchs“ (ein Werk, das mich als Kind in Form einer Europa Schallplatte mit dem unvergleichlich-gruselig-genialen Kurt Meisel bis in Träume verfolgte). Johann Wolfgang von Goethe hingegen war nur einmal in Regensburg zu Gast. Das war 1786, als der Dichterfürst im Zuge seiner Italienischen Reise dort eine Rast einlegte und sich unter dem Decknamen „Joh. Phillip Moeller aus Leipzig“ ins Fremdenbuch des dortigen Naturalienkabinetts eintrug. Aber das ist eine andere Geschichte …

Offiziell hatten die TAM auch 2023 wie üblich mit einem Konzert der Regensburger Domspatzen begonnen – jenem Knabenchor, den es seit dem Jahr 925 (in Worten: Neunhundertundfünfundzwanzig) gibt. Die Knaben und jungen Männer sangen erfreulich frisch und klangstark die durchaus herausfordernden Koloraturen der Chöre, die das sogenannte Osteroratorium (Kantate „Kommt eilet und laufet“, BWV 249) und das Himmelfahrtoratorium (BWV 11) bereithalten.

In den aparten Arien und Duetten und Duett-Rezitativen, deren Vorhandensein ein stückweit auch der Tatsache geschuldet ist, dass Bach eigene weltliche Schäferkantaten als musikalische Vorbilder nutzte, wusste das Solistenquartett durchaus zu überzeugen, aus dem Tenor Michael Mogl mit einem ganz feinen und mühelosen Timbre hervorstach. Im Ganzen aber, was sollte er ob der Größe des Gesamtapparates auch machen, wählte Domkapellmeister Christian Heiß eher verhaltene Tempi und spielte so ein bisschen Sicherheitsfußball. Alles trotzdem schön, auch wenn sich möglicherweise sein Orchester in Gestalt von L’Arpa Festante etwas mehr Tempo und „Stuhlkantigkeit“ im Musizieren gewünscht hätte …

Wie es anders geht

Dass es auch sehr anders geht, zeigte sich am Pfingstsonntagnachmittag in der Basilika Unserer Lieben Frau am Kornmarkt, die St. Emmeram in Sachen Gold und Prunk in nichts nachsteht. Dort erklangen Bachkantaten im gänzlich anderen Gewande: Ein solistisch besetztes Orchester (Alia Mens aus Frankreich), vier exzellente Solisten und drei Kantaten, die unfraglich zu den schönsten Bachs zählen, auch wenn ein Ranking unter ihnen wirklich schwer ist. Schon der Eingangschor von „Liebster Gott, wann werd ich sterben“ (BWV 8) im 12/8-Takt kommt in einer „exeptionellen Klangregie“ (Konrad Klek, 2015) daher, die ihresgleichen sucht: Zwei Oboen d’amore spielen konzertierend in Sechzehnteln, oft parallel in wohlklingenden Terzen und Sexten geführt, über von den Streichern im gedämpften con sordino-Modus fast unablässig eingebrachten, gebrochenen Dreiklängen in Staccato-Achteln. Darüber setzt an verschiedenen Taktpositionen immer wieder die Traversflöte mit geradezu penetranten, extrem hohen Tonrepetitionen ein. Sterbeglocken! Es klingt wie die stete Vermeldung eines Todesfalls, zu dem die Streicher in Achteln das Ticken einer Uhr imitieren. Dann setzt der Choral ein mit dem Cantus Firmus im Sopran und den wohlig wogenden Unterstimmen. Musikalische unio mystico pur und grandios umgesetzt in exakt gezähmter Ekstase von den Ausführenden unter der Leitung von Olivier Spilmont! Und danach das zehrende „Meine Seufzer, meine Tränen“ (BWV 13), dessen Bassarie man selten mit so viel Ruhe und hingebungsvoller Zelebration leidender Chromatik gehört hat – großartig gesungen von Romain Bockler. Erwähnt werden sollte auch die als Einzelstück von Altus Paul-Antoine Bénos-Djian meisterhaft vorgebrachte Arie „Wie furchtsam wankten meine Schritte“ aus BWV 33. Ja, die Unsicherheit und Todesnähe wurde hier zelebriert, aber sie wurde dann - ganz Bach-like - überwölbt oder zumindest gekontert von der Hoffnung auf Christus und die Gnade Gottes.

Partiturausschnitt aus der Bachkantate BWV 13 „Meine Seufzer, meine Tränen“, Bassarie.
Foto: Reinhard Mawick

Partiturausschnitt aus der Bachkantate BWV 13 „Meine Seufzer, meine Tränen“, Bassarie.

 

Das wurde besonders in der abschließenden Kantate BWV 127 „Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott“ deutlich – auch hier ist schon der Eingangschor ein musikalisch überreiches Stück: Zwei Blockflöten, Oboen, natürlich Streicher und sogar eigentlich eine Trompete, die den Chorsopran verstärkt – die allerdings schwieg hier im ersten Stück, wohl um die Balance nicht zu gefährden. Sei's drum: Hoch oben jubilieren die Blockflöten, da­zwi­schen spielen sich Oboen und Violinen die Bälle zu. Doch damit nicht genug: Außer der reichhaltigen Ausformung des Chorals, „Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott“ zitiert Bach in diesem edlen Getümmel noch einen Choral, nämlich „Christe, du Lamm Gottes“, und zwar gleich ab dem ersten Takt in rhythmischer Vergrößerung, erst in den Streichern, dann in den Oboen – was für ein wundersamer Wechsel, ein Bälle-Zuspielen der besonderen Art! Und dann ist da ja noch der Chor oder in diesem Fall zu Regensburg eben die eine tolle Sängerin mit den drei tollen Sängern. Unter dem cantus firmus des Soprans singt sich das Terzett der drei Unterstimmen in eine kontrollierte Ekstase, zu der ganz am Schluss dann auch der Sopran hinzutritt: „Du wolls't mir Sünder gnädig sein …“.

Diese Kantate enthält desweiteren– und da lege ich mich mal fest – eine der wirklich schöns­ten Arien, die Bach uns geschenkt hat: Die Seele ruht in Jesu Händen …  Die Blockflöten haben hier die Rolle gewechselt: Spielten sie im Ein­gangschor noch ganz kess gleich zu Beginn den Rhythmus der französi­schen Ouvertüre und verkörperten damit das königliche, das göttliche Symbol, so sind sie hier nun Sterbeglocken. Sterbeglocken, die die unendliche, liebevolle, klagende und zugleich bergende, schützende und rettende Oboen- und Sopranstimme als stete Ahnung begleiten. Am Ende des zweiten Teiles werden sie für wenige Takte von den Streichern im Pizzicato unterstützt – als Sterbeglockenverstärkung vom Sopran herbeigerufen! Strahlend, deutlich artikuliert und ohne jedes falsche Pathos sang sich die Sopranistin Hannah Ely in die Ohren und Herzen des Publikums. Wer das gehört hat, der kann wirklich sagen: Ich bin zum Sterben unerschrocken … .

Das Ensemble Alia Mens am 29.5.2023 in der Unserer Lieben Frau am Kornmarkt, Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

Das Ensemble Alia Mens am 29.5.2023 in der Kapelle Unserer Lieben Frau am Kornmarkt, Regensburg.

 

Danach folgt dann kraftvoll, aber irgendwie auch heiter der Solo-Bass mit dramatischen Ausdeutun­gen des Jüngsten Gerichts, und hier donnerte auch brillant die Trompete. Da ist eine ganze Menge los, keine Frage! Aber am Ende bleibt die Gewissheit: Wenn wir uns Jesus anvertrauen, dann werden wir den Tod nicht ewig schmecken, denn Jesus Christus, der wahre Mensch und der wahre Gott, bricht für uns mit starker und helfen­der Hand des Todes gewaltig geschlossenes Band. Der kunstvolle, aber verglichen mit dem was davor war, doch etwas spröde Schlusschoral ernüchtert nach diesem musikalischen Glaubensfest: Noch sind wir hier und nicht bei Gott: Hilf, dass wir warten mit Geduld …

Das alles konnte man in diesem atemberaubenden Konzert mit Alia Mens und dem famosen Solisten-Quartett wirklich hören. Hier zeigte sich wieder einmal, was in Jahrzehnten, seitdem Joshua Rifkin beherzt und endgültig den Interpretationsstaub und -schrott des 19. Jahrhunderts wegpustete, erreicht wurde in Sachen Bachinterpretation. Und siehe, als der letzte Ton verklungen war, da schien es, als lächelte Unsere liebe Frau an der prachtvollen Decke der Kapelle am Kornmarkt noch lieblicher, obwohl alles ja dezidiert protestantische Musik war …

Deckenfresko in der Kapelle Unser Lieben Frauen am Kornmarkt, Regensburg.
Foto: Reinhard Mawick

Deckenfresko in der Kapelle Unser lieben Frauen am Kornmarkt, Regensburg.

 

In diesem Konzert aber erwies sich exemplarisch, was die Tage Alter Musik in Regensburg sind und wohl auch seien wollen: nämlich ein absolutes Spitzentreffen, und eine Competition von Gleichgesinnten und Genialen, die sich als Künstler:innen der Alten Musik mit Leib und Seele verschrieben haben und die aus der Musik bei ihrer Erweckung im Konzert wirklich das Beste herausholen wollen. Und das Publikum dankt es ihnen reichlich! (Alle, die nicht dabei waren, können dieses Konzert nacherleben: Am Samstag, dem 1. Juli, läuft der Mitschnitt im Rahmen der Festspielzeit auf BR-Klassik)

So war es schon beim Konzert mit dem Blockflötenconsort The Royal Wind Music aus den Niederlanden geschehen. Wer es am Samstagvormittag in der Dreieinigkeitskirche erleben durfte, darf sich in der Tat glücklich schätzen: ein ausgeklügeltes Programm, das Musik um das Jahr 1500 mit dem Maler um das Jahr 1500, nämlich Albrecht Dürer, in Verbindung brachte, weil die unterschiedlichen Konzertteile jeweils unterschiedlichen Gemälden Dürers gewidmet waren, die während des Spiels auf der Großleinwand zu betrachten waren. Sehr eindrücklich.

Was aber unabhängig von dieser gelungenen Symbiose zwischen Betrachtung und Beschallung überzeugte, war die absolut Champions-League-würdige Art des Musizierens, um in der Welt des Fußballs zu bleiben, die sich ja an diesem Wochenende nolens volens eingeschlichen hat. So spielten die sieben Damen und drei Herren, die an verschiedenen Blockflöten von 20 Zentimeter bis circa drei Meter (!) Höhe musizierten, fast alles auswendig! Das ermöglicht diesen Meister:innen der Blockflöte einen Grad an gemeinsamer Phrasierung, an gemeinsamem Atem und Schlussakkordvergoldung, der nicht zu toppen ist. Zudem erreichten die zehn Glorreichen durch häufige Lagenverdoppelungen einen profunden, weichen, himmlischen Wohlklang – fürwahr ein Erlebnis! Und da in der lutherischen Dreieinigkeitskirche die Heilige Jungfrau nicht so prominent vertreten ist, wollen wir sagen: Albrecht Dürer hätte sich gefreut …

Blockflötenensemble The Royal Wind Music am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

Blockflötenensemble The Royal Wind Music am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.

 

Ein weiteres Erlebnis im klanglich aufgespreiztem Rahmen ereignete sich dann am Abend desselbigen Samstags, ebenfalls in der Dreieinigkeitskirche: Drei profunde Ensembles hatten sich zusammen getan (Hathor Consort; Pluto-Ensemble; Oltremontano Antwerpen) und musizierten ein ambitioniertes Programm aus dem Glanzzeitalter des Frühbarocks, als die von Monteverdi (L’Orfeo, 1607) angestoßene Stilwende Raum zu greifen begann. Ein Programm, das der Countertenor, Dirigent und Komponist Marnix de Cat entwickelt hatte und unter seiner Leitung zur Aufführung brachte. „L.E.D.“ lautet der Kurztitel, der ausformuliert aber nur mittelbar mit einer lichtaussendenden Diode zu tun hat, denn er steht für „Luceat eis, Domine“ – jene bekannte Formel aus dem Text des lateinischen Requiems, die gegen Ende auftaucht, wenn das Schlimmste („Dies irae, dies illa“ „Confutatis maledictis“ et cetera) überstanden ist; sie bedeutet „Leuchte ihnen, Herr“, wobei im Requiem das ewige Licht (Lux aeterna) das zu leuchtende Subjekt ist.

Selten ist so prächtiges Instrumentarium auf einem Fleck versammelt, aber Regensburg macht’s möglich, und es  nahm ein denkwürdiger Abend seinen Lauf, der die Dreieinigkeitskirche mit vollem, warmen Klang erfüllte und wertvolle Kostbarkeiten ans Licht brachte, die bisher jedenfalls für das Gros der Musikliebhaber völlig unbekannt war. So zum Beispiel die Missa pro defunctis à 10 Stimmen des österreichischen Komponisten Christoph Strauss (1575-1631). Ein Künstler, der gegen Ende seines Lebens als Kapellmeister am Wiener Stephansdom wirkte. Man erlebte prächtige Klänge eines Schütz-Zeitgenossen mit  ganz eigenen Klangidiom, das sich vertraut mit den neuen italienischer Musik seiner Zeit zeigte. Es war auch die reinste Wonne, dass in diesem Konzert dann Raritäten wie die Sonata Sancti Polycarpi für acht (!) Naturtrompeten von Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) zu hören waren, denn wann hat’s schon mal acht Naturtrompeten auf einem Flecken Erde? Richtig, zu Pfingsten in Regensburg.

Nach vielen Neuentdeckungen mündete das Konzert dann im Klassiker und Haupturheber und -verbreiter der Stilwende von der Renaissance- zur Barockmusik: Claudio Monteverdi (1567-1643). Es erklangen sein Psalmkonzert „Laudate Dominum“ und das prächtige achtstimmige Magnificat aus der Sammlung „Selva morale et spirituale“ (zu Deutsch: Moralischer und geistlicher Wald) und die kraftvolle, aber dabei stets Proportion und Maß wahrende Aufführung hinterließ einen tiefen, ja leuchtenden Eindruck.

Es ist ein großes Glück, dass das Führungstrio der TAM in Gestalt der beiden Impressarien Ludwig Hartmann und Stephan Schmidt und des Geschäftsführers Paul Holzgartner solche Live-Klangereignisse bewusst plant und immer wieder Neuentdeckungen aus dem unendlichen Kosmos der sogenannten Alten Musik ermöglicht. Entdeckungen, die im Moment ihrer Erweckung nach Jahrhunderten für die Hörerinnen und Hörer, die sie erleben dürfen, wie Neue Musik erscheinen. Herrlich! (Alle, die nicht dabei waren, können dieses Konzert nacherleben: Am Donnerstag, dem 29. Juni, läuft der Mitschnitt im Rahmen der Festspielzeit auf BR-Klassik)

Hathor Consort, Pluto-Ensemble & Oltremontano Antwerpen im Konzert „L.E.D: - Luceat eis, Domine“ am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

Hathor Consort, Pluto-Ensemble & Oltremontano Antwerpen im Konzert „L.E.D: - Luceat eis, Domine“ am 27.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.

 

Beseelt von so viel Neuem und Prachtvollem konnte die begeisterte Besucherschar gleich in die Schottenkirche weiterziehen, in der das Ensemble Holland Baroque um die beiden Schwestern Judith und Tineke Steenbrink eine besondere, ja eigentlich die Entdeckung dieses Festivals präsentierte: Brabant 1653 – Klösterliche Musiktraditionen des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden. Das hörte sich als Titel zunächst so mittelspannend an, aber weit gefehlt! Dieses Nachtkonzert am Pfingstsamstag war vielleicht der Höhepunkt des ganzen Festivals, weil der Musiziergestus von Vokal- und Instrumentalensemble tief berührte und auch die schlichten, aber harmonisch anrührenden Werke. Zentrale Figur des Programms war  der Komponist Benedictus á Sancto Josepho (1642-1716), einst Subprior des Karmeliterklosters von Boxmeer in Nord-Brabant, das nur zehn Kilometer von der heutigen deutschen Grenze entfernt liegt. In mühevoller Arbeit haben die beiden Schwestern Steenbrink das Repertoire von Sancto Josepho und seinen Vorläufern erschlossen. Es ist ein Stil, den die Steenbrinks „Brabant-Stil“ tauften und in dessen Repertoire seit dem 17. Jahrhundert der alte gregorianische Choral mit Generalbass und harmonisierenden Leittönen versehen wurde und so mehrstimmige Werke von großer Intensität entstanden.

Den Worten von Claudia Böckel aus der Mittelbayerischen Zeitung vom gestrigen Tage über dieses außergewöhnliche Konzert zu später Stunde ist nichts hinzuzufügen: „… (D)ie Musik aus den Klöstern der Provinz Nord-Brabant betörte mit einer unglaublichen Anmut und Klangschönheit in der Instrumentalisierung, Satzführung und anrührender Verwebung mit der Tradition des klösterlichen Stundengebets. Und dann stand noch die kaum zu übertreffende Qualität des Vortrags an sich im Raum, die es fast verbietet, die phantastischen und beseelten Vokalsolisten gegen den berückend aufspielenden Instrumentalisten abzuwägen. Ein tief berührendes Konzert, das nie hätte enden dürfen.“ O, wie wahr! (Alle, die nicht dabei waren, können dieses Konzert nacherleben: Am Dienstag, dem 27. Juni, läuft der Mitschnitt im Rahmen der Festspielzeit auf BR-Klassik)

Holland Baroque am 27.5.2023 in der Schottenkirche in Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

Holland Baroque am 27.5.2023 in der Schottenkirche in Regensburg.

 

Am Pfingstsonntagabend wurde es dann klassisch: Mozarts berühmte g-Moll-Sinfonie Nr. 40 (KV 550) und nichts Geringeres als die Eroica, die dritte Sinfonie, von Beethoven standen auf dem Programm. Hatten die Regensburger Programmmacher auf einmal doch die Berliner Philharmoniker eingeflogen? Oh nein, es spielten zehn (Mozart) beziehungsweise elf (Beethoven) Musikerinnen und Musiker – die Compagnia di Punto, geleitet vom Hornisten Christian Binde, der die Gruppe 2010 gegründet hat. Es erklangen Bearbeitungen der Sinfonien Mozarts und Beethovens, die bereits kurz nach Entstehung der Werke selbst entstanden, denn damals, weit vor der Möglichkeit, Musik durch Tonträger zu verbreiten, war es wichtig, auch großbesetzte Musik in komprimierte Fassungen zu gießen, um sie überhaupt hören zu können. So war für die Verbreitung heute weltbekannter sinfonischer Werke der Wiener Klassik zu damaligen Zeiten auch die Verbreitung von vierhändigen Klavierfassungen wichtig, um die Werke überhaupt bekannt zu machen.

Verschlankte Besetzung

Die verschlankte Besetzung von Compagnia di Punto (2 Violinen, 2 Violen, Violoncello, Kontrabass, 2 Klarinetten, 2 Hörner und für die Beethoven-Sinfonie eine Flöte) ließ aber keinerlei Verlusterfahrung aufkommen. Musiziert wurden die Fassungen von Carl Friedrich Ebers (1770-1836), die das Ensemble  anhand der Originalpartituren einer strenger Revision unterzogen hatte. Das Ergebnis konnte vollends überzeugen: Virtuos, spritzig und energiegeladen entluden sich beide Sinfonien in einer Klanggestalt, die keine Wünsche offenließ. So erhielten nicht nur das Publikum, sondern auch die Gemäuer der Dreieinigkeitskirche am Pfingstsonntagabend nach viel Renaissance- und Barockklängen eine überaus erfreuliche klassische Frischzellenkur. Sehr gelungen, und Applaus, der nicht enden wollte! (Alle, die nicht dabei waren, können dieses Konzert nacherleben: Am Dienstag, dem 11. Juli, läuft der Mitschnitt im Rahmen der Festspielzeit auf BR-Klassik)

Compagnia di Punto am 28. Mai 2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

Compagnia di Punto am 28. Mai 2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.

 

Tags drauf, am Pfingstmontag ging dann an gleicher Stätte das Abschlusskonzert der diesjährigen TAM über die Bühne: Das polnische (Oh!) Orkiestra servierte Suiten und Sonaten aus der Zeit um 1700, einige davor (Rosenmüller) und eine deutlich danach (Telemann). Eine Entdeckung, weil den meisten sicherlich nicht so bekannt, waren hier die beiden Ouvertüren aus der Sammlung Le Journal du Printemps von Johann Caspar Ferdinand Fischer (1656-1746), der von den Komponisten des Abends die meisten Lebensjahre erreichte, nämlich 90 und damit sogar mehr als der gefühlt ewige lebende Georg Philipp Telemann (1681-1767). Anderen Komponisten des klug zusammengestellten Programms, wie Esaias Reusner (1636-1679), war hingegen eine weit geringere Lebenszeit beschieden, was vielleicht auch seine geringere Bekanntheit erklärt - an der hohen Qualität seiner Suite a-Moll aus seiner Sammlung Musicalische Gesellschafts-Ergetzung von 1673 kann es eigentlich nicht liegen.

Edel und dabei überaus lebhaft, ja überbordend waren die Interpretationen der von ihrer Konzertmeisterin Martyna Pastusza energiegeladen angetriebener Musikerinnen und Musiker, deren fülligen und dabei blitzsauberen Sound der Perkussionist Matteo Rabolini immer wieder mit aparten Rhythmen unterstrich. Was für ein tolles Ensemble, deren Primaria durchaus nahe am Barock’n’Roll gebaut zeigte, angedeutetes Headbanging inklusive! Wieder wollte der Applaus nicht enden, doch irgendwann, nach drei Zugaben, geht selbst das schönste Musikfest zu Ende.

(Oh!) Orkiestra am 29.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.
Foto: Michael Vogl - Tage Alter Musik Regensburg

(Oh!) Orkiestra am 29.5.2023 in der Dreieinigkeitskirche Regensburg.

 

Was bleibt? Sich zu freuen auf nächstes Jahr. Obacht, da liegt Pfingsten etwas früher (17.-21. Mai). Wir sind gespannt, was Hartmann, Schmid & Holzgartner sich dann wieder ausdenken. Die pfingstlichen Pilgerscharen ergehen sich jedenfalls schon jetzt in großer Vorfreude!

Weitere Infos unter: www.tagealtermusik-regensburg.de

Tage Alter Musik
Foto: Reinhard Mawick

 

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