Erinnerungen

Überlebt im KZ

Unter den vielfältigen Schilderungen der Holocaust-Überlebenden warf bisher Liana Millus "Der Rauch über Birkenau" ein anderes, ein besonderes Licht auf das Leben und Überleben im KZ: eines der ersten Bücher, 1999 erschienen, die – aus weiblicher Perspektive geschrieben – größere Bekanntheit erreichten. Nun ist – endlich – "Die Elektrikerin"veröffentlicht worden: eine berührende Überlebensgeschichte.

Bereits 1974 hatte Franci Rabinek Epstein ihre Erinnerungen verfasst. Jeder Verlag, dem das Manuskript angeboten worden war, hatte abgelehnt. Für die 1970er-Jahre war es zu offenherzig, zu direkt. Es ging darin auch um Sex, als Tauschhandel, als lesbische Liebe und noch mehr. Im Nachwort wird man in die Enttäuschung der Autorin über die Absagen hineingenommen. Ihre Tochter, Helen Epstein, beschreibt sie im Nachwort – wie auch ihr eigenes Ringen mit den traumatischen Schilderungen ihrer Mutter.

Den Ausschlag gab ein Interview, das Franci Rabinek Epstein als Holocaust-Überlebende gegeben hatte, das als Video archiviert worden war – und das ihre Tochter das erste Mal auf YouTube sah: lebendig, eindrücklich und auf eine sympathische Art erzählt. So sind auch ihre schriftlichen Erinnerungen gut zu lesen: Man wird sofort hineingenommen in die Atmosphäre der Prager Sammelstelle für die Deportation von Juden im September 1942: stickig, verängstigend, erniedrigend. Endgültig wird aus der sorglosen und etwas unbedarften Modedesignerin Franci Rabinek diejenige, die ihre Eltern nach Theresienstadt begleitet und sich dort von ihnen trennen muss. Mit der Zeit nimmt sie die selbstlosen, gar noblen wie die eigennützigen bis ehrlosen Verhaltensmuster im Ghetto wahr. Aber auch: Nie wieder habe sie eine berührendere Aufführung von Verdis „Requiem“ erlebt als an jenem Ort.

Auf ihrem weiteren Überlebensweg wird ihre Wahrnehmung schärfer und es ändert sich ihre Identität. Seit sie in Auschwitz-Birkenau angekommen ist, schreibt sie, die zu einer Nummer geworden ist, in der dritten Person: A-4116 wird der Näherei zugeteilt, A-4116 steht erst zum Appell und dann zur Essensausgabe an. A-4116 hört, dass sich die SS hübsche Jungs in ihre Baracken holen, die Pipl. A-4116 hat auf der Rampe zur Selektion vor dem Dr. Mengele den Einfall, „Elektrikerin“ als Beruf anzugeben, was nicht einmal ganz falsch ist, und kann zur rechten Seite abtreten.

Um nachvollziehen zu können, wie sie der Entmenschlichung entgehen konnte, benutzt sie beim Schreiben ihrer Erinnerungen die ihr in den linken Unterarm eintätowierte Nummer: Sich so zu nennen schafft Jahrzehnte später die notwendige Distanz zu jenem Lebensabschnitt.

Als A-4116 konnte sie damals vielleicht auch eher den Mut im Überlebenskampf aufbringen und den ihr eigenen Stolz bewahren, auch noch im KZ Neuengamme und in dessen Außenlagern im zerstörten Hamburg. Nach Bergen-Belsen, nach Rettung und Typhus-Erkrankung lebt es wieder auf: das „Ich“ …

Aber ihre Identität bleibt gebrochen; vieles in dem Leben, das sie sich zurückerobern konnte, bleibt schwierig. Doch sie bleibt eine stolze Frau. Mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod 1989 kann man nun teilhaben an ihrem Erleben und ihren Beschreibungen von Größe in zurückgewiesener Liebe, auch von Neid, von List und Dreistigkeit. Man blickt in eiskalte Augen und hört gebellte Kommandos. Und man kann sich – nicht zuletzt dank der ansprechenden Übersetzung Sabine Niemanns – schließlich auch an der Ausgelassenheit von Franci Rabinek und ihrer Schicksalsgenossinnen in unverhofften Situationen mitfreuen. Unglaublich, dass es das auch gab.

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