Zweideutig

Sozialform Kirche

Der Titel des jüngsten Buches von Hans Joas, dem produktiven Soziologen, katholischen Intellektuellen und Berliner Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor, ist mindestens zweideutig. Die Frage „Warum Kirche?“ ist trotz der untertitelten Alternative „Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft“ nicht selbsterklärend. Gleich das erste Kapitel führt jedoch mitten hinein in den instruktiven Kern der Aufsatzsammlung: Hans Joas fragt nicht, wie man vermuten könnte, wozu Kirche nützlich sei, wozu sie (heute noch) gebraucht werde. Vielmehr steht eine Verwunderung am Anfang, das Staunen über die unwahrscheinliche institutionelle Kontinuität von Kirche durch die Jahrhunderte der Christentumsgeschichte hindurch. Entsprechend fragt Joas nach den Ursachen der Sozialgestalt Kirche, warum sie einen spezifischen Mehrwert darstellt, gar notwendig ist.

Auf der Suche nach Antworten führt er ausgewählte soziologische und religionstheoretische Stränge aus seinem Werk neu zusammen. Interpretationen zu Ernst Troeltsch, Max Weber, Alfred Döblin und anderen tragen zu einer Lesart von Kirche bei als „Genossenschaft der Gläubigen (…), die hierarchischer Strukturen bedarf, um gegenüber den Machteinwirkungen von außen ihre Handlungsfähigkeit im Sinne ihrer Ideale zu gewährleisten“. 

Im Hintergrund steht ein grundsätzliches Projekt in Joas’ Theoriebildung: die Ermöglichung und Verteidigung des moralischen Universalismus, die sich in der „Sakralität der Person“ als „Glaube an die irreduzible Würde jedes Menschen“ niederschlägt. Solche auf die ganze Menschheit gerichteten „anspruchsvollen Ideale“ sind in außeralltäglichen, intensiven Erfahrungen der Selbsttranszendenz fundiert. Sie stellen nicht automatisch religiöse Erfahrungen dar, sondern sind nur insofern eine „Brücke zum Glauben“, als sie im Kontext der bewahrenden, beständigen Institution Kirche religiös artikuliert werden.

Transzendenz will dementsprechend gut organisiert sein, weder kann sie nämlich durch Individuen tradiert werden noch sind Institutionalisierungen ohne Kompromisse möglich. In der Transzendenz liegt für Joas dann auch die Substanz des Religiösen: Der tiefere Sinn etwa des christlichen Glaubens ist es, jenseits der Selbstoptimierung einen Raum des Heiligen zu eröffnen. Gelingende Selbstverwirklichung meint dann gerade eine Öffnung über sich selbst hinaus, was gleichzeitig ihre kommunitäre Dimension darlegt. Ergänzt wird dieser argumentative Kern durch Ausführungen etwa zum subjektiven Überzeugungswandel im Rahmen von Konversionen oder zur Überwindung der (europäischen) Säkularisierungserzählung vom zwangsläufigen Bedeutungsverlust der Religion.

Zweifelsohne haben wir es hier mit dem Plädoyer eines nicht unbeteiligten, hochengagierten Autors für die Sozialform Kirche in ihrer katholischen Gestalt zu tun, freilich in einer sympathischen Deutung. Für die akuten römisch-innerkirchlichen Reformdebatten gibt Joas auch Impulse zu bedenken, etwa den Vorrang mystischer vor institutioneller Einheit, die Notwendigkeit innerkirchlicher Vielfalt trotz weltumspannender Orientierung oder den Mut zu mystisch-spiritueller Revitalisierung. Demgegenüber erscheint ihm die öffentlichkeitswirksame amtskirchliche Konzentration auf Moral zu Recht als „höchst problematisch“.

Für Joas sind die Kirchen ganz und gar keine „Moralagenturen“, und spätestens hier sollte dann auch der verfasste Protestantismus aufmerken: Kirchen sollten die christliche Botschaft nicht individualistisch-moralisch vereinseitigen und politisieren. Sie sollten besser ein reflektiertes Verständnis des christlichen Universalismus entwickeln, das partikulare Verpflichtungen mitdenkt und Politik so ermöglicht statt behindert. Sowohl Kenner von Joas’ Schriften als auch Neulinge werden dieses anregende Buch mit Gewinn lesen.

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Foto: Christoph Göckel

Julian-Christopher Marx

Dr. phil.  Julian-Christopher Marx ist Wissenschaftlicher Referent für Religions- und Migrationspolitik bei Prof. Dr. Lars Castellucci MdB. Seine  Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Theorie der Religion sowie das Verhältnis von Religion und Politik.


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