Lernende Kirche

Klartext
Foto: privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Anne-Kathrin Kruse. Sie ist Dekanin i.R. in Berlin.

Ohne Zwang

2. Sonntag nach Trinitatis, 18. Juni

Jesus sprach: Ein Mann veranstaltete ein großes Fest­mahl und lud viele dazu ein. Zur Stunde des Festmahls schickte er seinen Diener aus und ließ denen, die er eingeladen hatte, sagen: Kommt, alles ist bereit! Aber alle fingen an, einer nach dem anderen, sich zu entschuldigen … Da sagte der Herr zu dem Diener: Geh zu den Wegen und Zäunen und nötige die Leute hereinzukommen, damit mein Haus voll wird. Denn ich sage euch: Keiner von denen, die eingeladen waren, wird an meinem Mahl teilnehmen. (Lukas 14,16–18+23–24)

Nötige sie hereinzukommen!“ (cogite intrare), lautet die Aufforderung eines Gastgebers an seinen Boten, die Leute auf den Landstraßen und an den Zäunen zum Festmahl einzuladen. Und seit Augustinus diente sie über Jahrhunderte als Legitimation für Zwangsbekehrungen. „Taufe oder Tod“ drohte vor allem Jüdinnen und Juden. Und das hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Das Gleichnis, kirchlicherseits „Das große Abendmahl“ genannt, wurde so ausgelegt: Die zuerst Eingeladenen waren Jüdinnen und Juden. Da diese die Einladung nicht angenommen hatten, wurden sie verdammt. Und an ihre Stelle trat das Christentum als das „wahre Israel“.

Tatsächlich ist Jesus im Lukasevangelium selbst eingeladen – von einem Pharisäer zum Schabbatmahl. Dabei dürften sich die beiden von Rabbi zu Rabbi über die Tora ausgetauscht haben. Der Schabbat ist „Ein Palast in der Zeit“ (A. J. Heschel). Er ist geschenkte Zeit, die nicht nur 24. Stunden dauert, sondern 25 Stunden, nach Jesu jüdischem Glauben ein Vorgeschmack auf Gottes Reich. Dass Jüdinnen und Juden die Einladung durch Jesus ausschlagen, bedeutet nicht, dass sie damit vom Reich Gottes ausgeschlossen werden. Sowohl Lukas als auch vor allem Paulus sprechen davon, dass Israel zu Gunsten der nichtjüdischen Völker zurücktritt. Wir Christinnen haben also keinen Grund, uns dem Judentum überlegen und als etwas Besseres zu fühlen. „Wenn dich jemand zu einem Hochzeitsmahl einlädt, dann setz dich nicht gleich auf den Ehrenplatz“ (Lukas 14,8).

Die Enttäuschung des Gastgebers über die Absagen wird zur Freude für die nichtjüdischen Völker. Denn die Einladung zum Festmahl gilt über Israel hinaus allen Menschen, vor allem aber den Armen, Obdachlosen und jenen, die sonst notorisch übersehen werden. Erst wenn sie einen Platz in den Kirchengemeinden haben, kann Gottes kommende Welt anbrechen. Zwangstaufen widersprechen dem Willen Gottes. Wir haben die Freiheit, uns für oder gegen Gott zu entscheiden. Und es wird darauf ankommen, die Prioritäten richtig zu setzen.

 

Unbegreifliche Güte

3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni

Der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, … und mich sollte nicht  jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu  auch viele Tiere? (Jona 4,10–11)

Die vordergründig märchenhaft anmutende Erzählung von Jona erweist sich bei näherem Hinschauen als Tragikomödie, das komplexe Kreisen um die ungelöste Frage, was stärker ist, Gottes Gerechtigkeit oder seine Güte und Barmherzigkeit. Eigentlich hätte Jona mit dem Gang der Dinge ganz zufrieden sein können. Gott hatte ihn beauftragt, der Großmacht Ninive den Untergang anzusagen. Aber entgegen aller Erwartung bereuen die Niniviter ihre Gewalttaten. Darauf lenkt Gott ein und verschont sie. Aber statt sich über den Erfolg seiner Strafpredigt und über die Güte Gottes zu freuen, zieht sich Jona wütend zurück. Ein bockiger Prophet, ein echter Komiker. Und auch die Art und Weise, wie Gott ihn aus seiner Schmollecke herausholt, trägt komödiantische Züge. Erst lässt er eine Rizinusstaude wachsen, um Jona Schatten zu spenden, dann lässt er einen Wurm die Staude zerfressen und ihm durch einen Wind einen Sonnenstich verpassen. So erteilt Gott Jona eine Lektion. Dieser hatte die assyrische Großmacht ausgelöscht, ohne dies jemals zu bereuen, und kam ungeschoren davon. Wo bleibt bei aller Güte Gottes seine Gerechtigkeit?

Bis in die 1970er-Jahre hinein behielten maßgebliche Nazi-Täter ihre Funktionen in der deutschen Gesellschaft, erhielten komfortable Pensionen oder hatten sich – auch mithilfe der Kirchen – ins Ausland absetzen können, während manche Opfer bis heute um eine spärliche Rente kämpfen als „Wiedergutmachung“ dessen, was nicht wiedergutzumachen ist.

Und wird Russland für seine Greueltaten in der Ukraine jemals zur Rechenschaft gezogen werden? Fairerweise richtet sich diese Frage auch an die Deutschen und ihre Greueltaten in der Ukraine vor 80 Jahren. Und auch an uns und unser Versagen heute. Gottes Gerechtigkeit in seiner Güte richtet sich nicht nach menschlichen Maßstäben und ist deshalb schwer erträglich. Soll die Gerechtigkeit oder die Güte Gottes das letzte Wort haben? Eine Frage an Sie und mich.

 

Mitfühlende Worte

4. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juli

Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht üble Nachrede mit übler Nachrede. Im Gegenteil: Segnet, denn ihr seid dazu berufen, Segen zu erben. Denn wer das Leben lieben will und gute Tage sehen möchte, der halte seine Zunge im Zaum, fern vom Bösen, und seine Lippen, dass sie nichts Heimtückisches sagen ... Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die  Hoffnung, die in euch ist. (1. Petrusbrief 3,9–10+15)

Beleidigungen, üble Nachrede, Volksverhetzung bis hin zu Morddrohungen füllen die sozialen Medien. „Wir wissen, wo du wohnst!“ Solche Worte treffen mitten ins Herz, setzen sich fest und wirken wie ein Gift mit Langzeitwirkung: die Angst, dass dem Wort jederzeit die Tat folgen kann. Die Opfer ziehen sich zurück, gehen nicht mehr aus dem Haus, stellen das Telefon ab, sind von Albträumen geplagt, werden krank bis hin zum Suizid. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Ermahnungen des 1. Petrusbriefes neue Brisanz als Orientierungspunkte für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. „Wer das Leben lieben will und gute Tage sehen möchte“, der und die braucht mitfühlende, solidarische, warmherzige Worte des Segens als Vergewisserung, dass die Welt uns freundlich entgegenkommt. Vom Gott des Lebens geschenkt und untereinander weitergegeben.

Die gemeinnützige Organisation „HateAid“ bietet den Opfern digitaler Straftaten nicht nur Beratung und rechtlichen Beistand, sondern recherchiert auch Straftaten im Netz. Aber was treibt Menschen – häufig aus der Mitte der Gesellschaft – zu solchen Straftaten? Viele verbindet, dass ihr Leben durch eine Krise, deren Ursache sie nicht bei sich selber sehen, außer Kontrolle geraten ist. Laut dem Soziologen Oliver Nachtweyh wissen sie nicht, wohin mit ihrer Kränkung, und suchen in Zeiten „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) nach Ordnung und Seelenfrieden – nicht mehr in der Kirche, sondern im Internet, wo sie gemeinsam klagen, anklagen. Je mehr ihr Hass eskaliert, desto mehr belohnt sie das tausendfache Echo im Netz. Sachdiskussion oder Aufklärung gehen hier ins Leere.

Der 1. Petrusbrief mahnt, dass wir uns als Kirche nicht resigniert in die Isolation zurückziehen, sondern lernen, mit dem Frust zu leben. Er erinnert an das 8. Gebot, aktuell ausgedrückt: Du sollst nicht hetzen, und an die Hoffnung, gesegnet und ein Segen für andere zu sein.

 

Kritische Fragen

5. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli

Als Johannes Jesus vorüber­gehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die beiden Jünger hörten ihn so reden und folgten Jesus.
Als Jesus sich umwendet und sie folgen sieht, sagt er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sagten zu ihm: Rabbi – das heißt „Meister“ –, wo ist deine Bleibe? Er sagt zu ihnen: Kommt, und ihr werdet es sehen! Da kamen sie und sahen, wo er wohnt, und sie blieben an jenem Tag bei ihm. (Johannes 1,36–39)

Beim Sektempfang stehen kleine Grüppchen zusammen. Einer der Anwesenden hat sich gerade als Christ geoutet. Halb spöttisch, halb neugierig fragt einer aus der Runde „Christ?! Ach! Interessant. Und was macht man da so?“

Ja, was machen Christinnen und Christen eigentlich so? Auch im Johannesevangelium sind zwei Männer neugierig auf der Suche. „Was sucht ihr?“, fragt Jesus. Sie möchten von ihm wissen, wo seine Bleibe ist, was dieser Rabbi so macht, was ihn prägt, wo seine geistige Heimat ist, bevor sie sich ihm als Schüler anschließen.

Um Suchen und Gesuchtwerden geht es, ums Finden und Gefundenwerden, ums Sehen und Gesehenwerden, bevor man sich gemeinsam auf einen lebenslangen Lernweg begibt. Da ist eine unbestimmte Sehnsucht nach Gott, ein Suchen nach seiner Nähe und dem Sinn des Lebens. Umgekehrt ist Gott auf der Suche nach dem Menschen, als wollte er nicht allein sein. Ja, er ist offenbar bereit, sich sogar von denen finden zu lassen, die ihn nicht suchten (Jesaja 65,1, Römerbrief 10,20). Er sieht in Menschen etwas, was ihnen nicht gleich anzusehen ist, was sie vielleicht selbst noch nicht entdeckt haben – was Gott erst durch seinen liebenden Blick bewirkt.

Jesus lädt die Beiden zu sich ein. „Kommt und seht!“ Man mag sich das ähnlich vorstellen wie eine Talmudschule, eine Jeschiva, im chassidischen Judentum: Ein Rabbiner sammelt Schüler um sich, die wiederum in festen Lern- und Lebensgemeinschaften über die wahre Bedeutung eines Textes aus der Hebräischen Bibel diskutieren. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, keine Dogmen und keine Denkverbote. Jeder Tag des Lebens fordert ja neue Fragen und unterschiedliche Antworten heraus, die ich nicht alleine finde. Ich brauche vielmehr ein Gegenüber, mit dem mich eine Gemeinschaft verbindet und das zugleich meine Glaubensüberzeugungen immer wieder kritisch hinterfragt. Eine Kirche, auf der Gemeindeebene und darüber hinaus, kann so eine Lern- und Diskutiergemeinschaft werden, auf dem Weg zu neuen Lebensformen, auf der Suche nach Antworten fürs praktische Leben. Die zeigt, was es heißt, als Christin und Christ zu leben – und den Himmel eines Tages offen zu sehen.

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