Kunst aus dem Krisenjahr

Eine Ausstellung in Hamburg führt zurück in die Goldenen Zwanziger
Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) Das Wohnzimmer, 1923 Öl auf Leinwand, 90 x 150 cm Hamburger Kunsthalle © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford
© Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford
Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) Das Wohnzimmer, 1923 Öl auf Leinwand, 90 x 150 cm Hamburger Kunsthalle © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

Geschichte wiederholt sich nicht, aber der Blick zurück lohnt in der Regel dennoch. Vor allem dann, wenn er auf herausragende Kunstwerke fällt, die genau vor hundert Jahren entstanden sind. Sechzig von ihnen sind nun in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Der Theologe und Autor Robert M. Zoske hat die Ausstellung besucht.

Das Metronom steht still. In den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begleitete sein konstantes Klacken in Paris den amerikanischen Maler und Fotografen Man Ray bei der Arbeit. An dessen Pendel hatte er die Fotografie eines Auges befestigt. Es scheint, als betrachte nicht der Mensch die Zeit, sondern die Zeit den Menschen. Jetzt steht der Taktgeber in der Ausstellung „1923: Gesichter einer Zeit“. Bis zum 24. September präsentiert die Hamburger Kunsthalle rund sechzig Gemälde, Skulpturen, Assemblagen und Werke auf Papier, die um 1923 entstanden. Eingebettet sind sie in die Räume mit Werken der Klassischen Moderne. Beim Rundgang betrachtet der Besucher die Kunst vor hundert Jahren; er kann sich in diese Zeit zurückversetzen und dabei über das gegenwärtige Jahr 2023 nachdenken.

Trauma und Tanz

Zahlreiche erst kürzlich erschienene Publikationen interpretieren das Krisenjahr 1923 der Weimarer Republik. Es war gekennzeichnet durch Putschversuche von links und rechts, Fememorde an angeblichen Verrätern in rechtsextremen Gruppen, Hyperinflation, soziale Verelendung, Ruhrbesetzung, Streiks, Straßenkämpfe, Regierungswechsel und die Nachwirkungen der verheerenden Spanischen Grippe. Über allem hingen die Gräuel des Ersten Weltkriegs. Auch wenn keine expliziten Kriegsbilder in der Kunsthalle hängen, waren die Künstler und ihre Werke doch davon geprägt. Parallel zu diesem Schreckenstrauma gab es damals in Großstädten die rauschhaften, welt- und selbstvergessenen „Goldenen Zwanziger Jahre“ mit Kabarett, Kunst, Tanz, Musik, Theater, Kino, Sport, Literatur und sexueller Freizügigkeit. Der Schriftsteller Klaus Mann empfahl: „Der blutige Aufruhr ist vorbei. Genießen wir den Karneval der Inflation.“ Dieses Neben-, Mit- und Gegeneinander verdeutlichen auch die Kunstrichtungen, die in Hamburg zu sehen sind: Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus und Bauhaus deuten die Zeit.

In der Arztpraxis ihres Mannes begegnete Käthe Kollwitz dem Elend der Arbeiterfamilien. Mit ihrer Kreidelithografie „Deutschlands Kinder hungern!“ griff sie das auf: Ausgemergelte kleine Kinder strecken hilfesuchend ihre leeren Essnäpfe empor. George Grosz skizzierte hingegen gelangweilte, mondäne, reiche Menschen, die eine südfranzösische Sonne auf der Terrasse einer „Bar in Cassis“ genießen. Rudolf Bellings glänzende „Skulptur 23“ aus Messing reduziert einen Menschenkopf auf roboterhafte geometrische Formen – ein Maschinenmensch ohne Individualität. Anita Rée dagegen malt an der italienischen Amalfiküste vor blühenden Bananenstauden die kleine „Teresina“ im Sommerkleid mit leuchtenden gelben Zitronen im Schoß – Sinnbild südlicher Leichtigkeit. In Otto Dix’ Gouache „Frauenkopf“ bleckt eine totenköpfige, grell geschminkte Prostituierte lüstern ihre Zähne. Das Elend schreit aus ihrem übertünchten Gesicht.

Ernst Ludwig Kirchner hingegen zog sich nach dem Krieg in die Bergeinsamkeit des schweizerischen Davos zurück. Dort schuf er harmonische Landschaftsbilder, Skulpturen und Wandteppiche. In seinem Gemälde „Das Wohnzimmer“ sitzt er zusammen mit seiner Frau bürgerlich-bieder bei der Arbeit. George Grosz publizierte 1923 auch die Offsetdruckmappe „Ecce Homo“, in der Menschen häufig in sexuellen oder gewalttätigen Situationen zu sehen sind. Deren Verleger und der Künstler wurden wegen „Verkaufs und der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen“ zu einer Geldstrafe verurteilt, etliche Grafiken mussten entfernt, die Druckplatten unbrauchbar gemacht werden. Entgegen dem gesellschaftlichen Drunter und Drüber entwarfen die dem Bauhaus nahen Künstler Willi Baumeister, Walter Dexel oder László Moholy-Nagy reduzierte, wohl geordnete und ausbalanciert geometrische Konstruktionen – Schönheit aus und als Ordnung.

Die Gruppe der Surrealisten versuchte, in die Tiefe der menschlichen Psyche vorzudringen und das Unbewusste, Verdrängte bildnerisch darzustellen. In Robert Desnos „Der Tod von Max Ernst“ führen Stufen wie auf einen Deich empor. Oben versucht ein Mann mit ausgebreiteten Händen, ein Weitergehen zu verhindern. Daneben ragt ein klobiges Kreuz. Es wirft seinen langen Schatten auf die Erde. Über ihm steht: „On l’a retiré.“ – „Wir haben ihn entfernt.“ Desnos konstatiert hier die Abwesenheit Christi. Wassily Kandinsky hingegen fand das „Geistige in der Kunst“, so der Titel seiner Schrift aus dem Jahr 1911. Wahre Kunst sei immer spirituell, schreibt er da. Sein Gemälde „Weißer Punkt“ vereint zahlreiche Farbflächen zu einer rhythmischen Klang-Raumkomposition, die in einem höheren sphärischen Weiß gipfeln.

Die Kunstschau enthält auch zwei Plastiken der Berliner Künstlerin Renée Sintenis, einen dynamischen, athletischen „Fußballspieler“ und ein junges, unsicher „Verhoffendes Reh“. Sintenis steht exemplarisch für die moderne Frau der Zwanziger und Dreißiger Jahre. Ihr autarker Lebensstil beeindruckte 1938 auch Hans und Sophie Scholl. Er berichtete zunächst seiner Schwester Inge: „Gestern habe ich mir ein Buch über Renée Sintenis gekauft. Ich las es in einem Atemzuge zu Ende. Dieses Werk kann ich Dir nur empfehlen. Es werden hier Anschauungen über die moderne Frau ausgelegt, die ganz herrlich sind.“ Dann empfahl er die Monografie Sophie, denn nur wenig später schrieb sie an Inge: „Ich habe gestern eine Lebensbeschreibung der Renée Sintenis gelesen, es ist fabelhaft, wie sie sich zu ihrem Beruf durchgekämpft hat, weil sich ihr viele äußere Schwierigkeiten in den Weg gestellt haben, mit dem Geld usw. Ihre Tierplastiken gefallen mir sehr gut, Menschenplastiken hat sie ja nur wenig. Es ist ein so wahnsinniger Schwung in allem. Du kaufst doch den Polospieler und die Daphne?“

Von der androgynen Künstlerin und den ihr gleichgearteten Werken war Hans Scholl so angetan, dass er zehn Monate später damit sein Zimmer schmückte. Die „Anschauungen über die moderne Frau“, wie er formulierte, waren in der Tat ungewöhnlich und progressiv. Die emanzipierte, unkonventionelle Künstlerin war ein Vorbild für Sophie Scholl. In ihr Tagebuch legte sie eine Kunstkarte mit einem Selbstbildnis von Sintenis. Der Bronzekopf zeigt sie mit dem typischen Kurzhaarschnitt, wie ihn Sophie einige Jahre selber trug. Renée Sintenis’ Überzeugungen standen in deutlichem Gegensatz zum archaischen Mutter- und Familienbild, welches die Nationalsozialisten in ihrer Kultur- und Sozialpolitik propagierten, das im Wesentlichen die Frau als aufopferungsvolle Mutter und ergebene Gefährtin des Mannes sah. „Die bildhauerisch schöpferische Frau gehört allein unserer Zeit, der Gegenwart an. Sie ist in Wahrheit ein Mensch von heute“ – schrieb Hanna Kiel. An Leben und Schaffen der Renée Sintenis erkannten Sophie und Hans Scholl, dass das Frauenbild der Nazis hoffnungslos rückwärtsgewandt und überholt war.

Kreative Kommunikation

Nicht nur 1923 wird als „Krisenjahr“ bezeichnet, auch 2023. Dabei fallen die Stichworte Umwelt- und Energiekrise,
Ukraine, Inflation, Rezession, Armut, Flüchtlinge, Politikverdruss und Verschwörungstheorien; Islamismus- und Coronaängste sind fast schon vergessen. Und die Kirchen verlieren durch Missbrauchsskandale und Reformträgheit eklatant Glaubwürdigkeit und Mitglieder. Doch der Tourismus boomt und die Wachstums- und Technikgläubigkeit scheinen ungebrochen. Dagegen fordern Protestbewegungen ein Umdenken. Neben allem pulsiert eine kreative literarische, musikalische und bildnerische Kunstszene, in der utopische und dystopische, hoffnungsvolle und pessimistische Zukunftsvisionen bereichernd im Wettstreit stehen. Die Zukunft ist offen, die Vergangenheit nicht, aber ihre Deutung ist es. Die Ausstellung „1923: Gesichter einer Zeit“ ermöglicht eine kreative Kommunikation und Interpretation der Jahre 1923 und 2023, sie veranschaulicht, wie komplex und kompliziert, wie ernüchternd und ermutigend Geschichte ist. Jede Zeitbetrachtung ist – wie bei Man Rays „Metronom“ – mehrdeutig. Eindeutig ist nur die Liebe, wenn zwei so aneinander Schutz suchen wie die „Freundinnen“ in Karl Hofers berührendem Ölbild. 

 

Information

Ausstellung und deren Rahmenprogramm finden Sie unter www.hamburger-kunsthalle.de.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation der Kleinen Reihe der Hamburger Kunsthalle. 150 Seiten, Euro 14,90.

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