Es ist nicht zu kompliziert

Warum eine ausdifferenzierte Gesellschaft ein radikales Christentum braucht
Demonstration für den Klimaschutz im April 2023 in Berlin: „Christliche Lebenspraxis geht auf die Straße.“
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Demonstration für den Klimaschutz im April 2023 in Berlin: „Christliche Lebenspraxis geht auf die Straße.“

Die Gesellschaft ist zu komplex und ausdifferenziert, um sie einer radikalen Gesamtkritik zu unterziehen. Diesem Grundsatz aktueller Soziologie widerspricht Tobias Foß. Der promovierte Theologe und Autor aus Halle/Saale plädiert stattdessen für ein ganzheitliches und radikales Verständnis des Christentums.

Immer wieder gibt es im theologisch-akademischen Bereich Versuche, dem Christentum ausschließlich einen bestimmten Aspekt des Lebens zuzuweisen. Ein sehr prominentes Denkmodell ist der Ansatz des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998), der innerhalb der evangelischen und katholischen Theologie im deutschsprachigen Raum stark rezipiert wird. Kern der systemtheoretischen Perspektive von Luhmann ist, dass Gesellschaften im Zuge von „Modernisierungsentwicklungen“ eine funktionale Differenzierung durchlaufen haben: Es gebe Systeme, die für ganz bestimmte Aufgabenbereiche zuständig seien und hierfür gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Dabei gilt: Ein Gesamtsystem, das auf alle Bedürfnisse des Menschen eingeht oder diese überblicken kann, gebe es nicht mehr. Das System „Religion“ gehe etwa nur auf ein ganz bestimmtes Bedürfnis ein (etwa die Begegnung mit dem Heiligen). Es existiert neben anderen Systemen (etwa Politik, Bildung, Wohlfahrt, Umweltschutz) mit ihren eigenen Aufgabenbereichen.

Ein solcher Ansatz steht unter einer starken Missbrauchsgefahr, sodass er einer grundlegenden Kritik bedarf – gerade angesichts von Krieg, wie gegenwärtig in der Ukraine, und Umweltkatastrophen, die wir durch unsere Art zu wirtschaften hervorgerufen haben. Eine solche Kritik führt zu einem Plädoyer für ein radikales Christentum, wie im Folgenden dargestellt werden soll. Dabei kann es nicht um simple Antworten angesichts gesellschaftlich komplexer Herausforderungen gehen. Selbstverständlich ist die Pluralisierung von Lebensentwürfen und damit ein Aufbrechen normativer und auch einengender sozialer Lebenswandelvorgaben charakteristisch für die gegenwärtige Gesellschaft. Ebenso entstehen etwa durch technologischen Fortschritt neue Arbeitsbereiche und ausdifferenziertere Aufgaben. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Systeme und damit einhergehende funktionale Differenzierungen völlig zusammenhangslos nebeneinanderstehen würden. Ein solches Denken ist im luhmannschen Ansatz angelegt.

Dementsprechend hat etwa der Soziologe Armin Nassehi unter Berufung auf Luhmann ein linkes politisches Engagement per se als absurd hingestellt: In der gegenwärtigen hochkomplexen und funktional-differenzierten Gesellschaft könne es sowas wie eine Gesamtperspektive oder Gesamtkritik (etwa am Neoliberalismus) nicht mehr geben. Linke Politik gehe einer in sich widersprüchlichen Aufgabe nach. Die Welt sei eben viel zu kompliziert. Wer so spricht, erteilt bereits der Möglichkeit einer Kritik an totalitären Zusammenhängen, die verschiedenste Lebensbereiche dominieren und zerstören, eine Absage. Theologisch gesprochen: Jegliche Art einer Kritik am modernen Götzendienst wird unterminiert.

Dies steht der Kraft des Evangeliums entgegen, denn Evangelium meint eine umwälzende Befreiungsbewegung, die alle menschlichen Lebensbereiche ergreifen will. Auch das gesellschaftliche Zusammenleben ist davon betroffen, indem eine Gesellschaft angestrebt wird, die auf Gleichheit und Freiheit ausgerichtet ist. In diesem Sinne ist Gott revolutionär.

Der katholische Theologe und Philosoph Jürgen Manemann schreibt in seinem Buch Revolutionäres Christentum (2021): „JHWH ist […] eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichen.“

Befreiender Anspruch

Das Evangelium hat einen befreienden Anspruch, so dass Menschen gesellschaftlich Verantwortung übernehmen und aktiviert werden. Es befindet sich im kritischen Widerstand zu totalitären Regimen, die heilsames Leben verhindern, sprich Götzen. Demnach ist das Evangelium radikal, weil es nicht nur ungerechte Oberflächenstrukturen bekämpft, sondern die Wurzel ihrer Ungerechtigkeit umstürzen will. Es steht der oben beschriebenen Interpretation durch Luhmann entgegen, denn es will alle Lebensbereiche unter ein neues, befreiendes Licht stellen. Im eklatanten Widerspruch steht das Evangelium zu neoliberalen Eskalationen in Wirtschaft und Politik. Gerade neoliberale Vordenker wie der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek (1899–1992) vertrauen offenbar Marktmechanismen mehr als dem eigenen kritischen Denken. Der Mensch könne die komplexe Vielfalt der Ökonomie und der Gesellschaft nicht mehr überschauen. Es sei alles zu kompliziert. Der Markt müsse ungebremst schalten und walten. Die Nähe zum oben angedeuteten Ansatz Luhmanns (hier in neoliberaler Verkleidung) ist deutlich. Eine radikale Kritik wird durch eine solche Herangehensweise von vornherein torpediert.

Dabei ist der Neoliberalismus ein totalitäres Regime, wie es einst auch der Lutherische Weltbund auf seiner 10. Vollversammlung 2003 und der Reformierte Weltbund in der Accra-Erklärung 2004 festgestellt haben. Die Folgen der Ausuferungen sind gravierend: globale Ausbeutungsprozesse, Prekariat in zahlreichen Berufsbranchen, Klimakrise, Selbstoptimierungsdruck und Überforderung des einzelnen Subjekts, für jegliche sozio-ökonomischen Sicherheiten selbst verantwortlich sein zu müssen.

Mehr denn je ist also gegenwärtig ein radikales Christentum nötig, das für die am Rand der Gesellschaft stehenden Menschen kämpft und die Wurzel gegenwärtiger Unrechtsstrukturen ausreißen will.

Ein radikales Christentum pflegt sein großes Kontranarrativ („Unsere Welt kann und soll anders sein“), baut an der Utopie der großen gesellschaftlich-ökonomischen Transformation mit und geht einer befreienden Praxis nach, um „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx).

Es schafft mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken Beziehungen, die die gleiche Richtung und Linie verfolgen. Eine solche christliche Lebenspraxis geht auf die Straße, demonstriert und baut Druck auf die Politik auf, für Frieden zu streiten und für die „Kaputten der Gesellschaft“ einzutreten. Dieses Engagement entspricht christlicher Nachfolge oder anders, mit den Worten von Dorothee Sölle (1929–2003) ausgedrückt: Wegen Gottes Willen „spricht die Bibel so unaufhörlich von den Armen und meint, dass der Reichtum, den wir zwischen uns und den Armen anhäufen, uns auch Gott verstellt und den Weg zu Gott verbaut. Hat Gott denn etwas mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Die Bibel meint ja, und sie ergreift die Partei der Armen.“

Ein radikales Christentum sieht die gegenwärtige ökologische „Zangenkrise“. Diese besteht zum einen daraus, den fossilen Verbrauch angesichts der Klimakatastrophe schnellstmöglich senken zu müssen, und zum anderen, über eine immer geringere natürliche Ressourcenbasis zukünftig verfügen zu können. Christliche Lebenspraxis wird alles Nötige unternehmen, sich mit Netzwerken zu verbinden, die sich für eine grundlegende Transformation unseres (ökonomischen) Zusammenlebens einsetzen (zum Beispiel Attac, Postwachstumsökonomie, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Gemeinwohlökonomie).

Bangen und kämpfen

Ein radikales Christentum nimmt seinen Glaubensgegenstand, Gott, ernst und lässt sich von seiner Liebe zur befreienden Praxis bewegen. Darin entspricht es der ohnmächtigen Liebe Gottes, die um den Menschen bangt und kämpft, ihn aber nicht zwingt, seinem Ruf nach Gerechtigkeit zu folgen (Anrede Gottes). Christliche Lebenspraxis folgt in ihrer Radikalität dem Slogan: „Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft“ (Helmut Gollwitzer). Es geht um eine Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle Menschen (und die Natur) verlangt. Hierbei kann ein radikales Christentum darauf vertrauen, dass seine Hoffnung nicht ins Leere geht: Gott bürgt für sein Reich (Verheißung Gottes). Gottes Anrede und Verheißung wirken als permanent-befreiende Infragestellung des Menschen und setzen so die Erwartung und Gewissheit frei, dass Gottes Heilswille auch in anderen Religionen und säkularen Netzwerken tätig ist. Das Reich Gottes ist größer als jegliche Kirchenmauern.

Und weiter: Ein radikales Christentum nimmt seinen Relevanzverlust in der Gesellschaft ernst. Christliche Nachfolge kann nicht ohne Weiteres auf christlich geprägte Sozialisationsprozesse zurückgreifen, sondern muss seine Wichtigkeit im Hier und Jetzt unter Beweis stellen. Dies gelingt gerade im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich. Eine solche Ausrichtung, die linkspolitische Vernetzungen aufzuweisen hat, wird sicherlich nicht nur Befürworter:innen finden, sondern auch auf Widerstand stoßen – gerade von Menschen, die Nutznießer von Unrechtssystemen sind. So wird man sich am ehesten am christlichen Glauben wieder reiben können; man wird sich über ihn vielleicht ärgern, auch konstruktiv streiten und darin hoffentlich heilsame Brücken entdecken.

Zuletzt: Ein radikales Christentum wird auf komplizierte Herausforderungen keine plumpen Antworten geben. Es wird jedoch gleichzeitig nicht darauf verzichten, deutlich und klar Götzenkritik zu betreiben. Dies ist angesichts des Totalitätsanspruchs sowohl des Neoliberalismus als auch weiterer totalitärer Regime mehr denn je nötig. Es geht um autoritäre Gewalten, die sich zum Gott machen, ein gutes Leben für alle Menschen unterminieren und Menschenrechte aushöhlen. Neben weiterhin bestehenden Größenwahnbestrebungen der Industrienationen, die bewusst ihren Reichtum auf den Rücken der ärmeren Länder eskalierend vergrößern und fliehende Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, muss an dieser Stelle auch Russland mit seinem Angriffskrieg und dem permanenten Ausmerzen demokratischen Widerstands genannt werden. Auch in Russland will ein radikales Christentum Demokratisierungsprozesse und zivilen Widerstand ermöglichen, die schiefe Verbrüderung von orthodoxer Kirche und Staat auflösen und allein Gott (und nicht etwa Putin oder „Großrussland“) das Prädikat „göttlich“ zukommen lassen – auch wider allen Verschleierungen, die ein solches Engagement ad absurdum führen wollen und meinen, es sei alles zu kompliziert.

 

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Dieser Artikel ist in einer gekürzten Version auch beim Onlinemagazin Die Eule erschienen.

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Tobias Foß

Tobias Foß, Dr. theol, arbeitet als Schulseelsorger, ist Redakteur der Zeitschriften micha.links sowie Christ und Sozialist / Christin und Sozialistin und schreibt Artikel über Konfessionslosigkeit, Diakonie und Kapitalismuskritik. In der Eule schreibt er die Kolumne „Tipping Point“ über die sozio-ökologische Transformation.


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