Ein Glücksrezept

Was wir gewinnen, wenn wir verzichten – eine psychosomatische Perspektive
Fahrräder am See
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Evolutionsbiologisch war es für Jahrmillionen überlebens­wichtig, aktiv nach Ressourcen für das tägliche Überleben Ausschau zu halten und sofort zu konsumieren. Verzichten lernen bedeutet heutzutage für viele Menschen jedoch das Versprechen von Gewinn. Warum das so ist, erläutert Christian Firus, Facharzt für Psychiatrie und Oberarzt an der Rehaklinik Glotterbad bei Freiburg.

Verzichten, das klingt zunächst einmal nicht einladend, vielleicht sogar abstoßend. Möglicherweise weckt das Wort bei dem einen oder der anderen ungute Assoziationen aus Kindheit und Jugend. Unter Umständen erinnert es sogar manche an die Kriegs- und Nachkriegszeit, die von Mangel und Verzicht gekennzeichnet war. Wozu soll Verzicht gut sein? Und was daran ist gesund?

Diese Fragen sind sehr verständlich. Haben viele Menschen doch oft genug die Erfahrung gemacht, dass sie etwas brauchen, um gesund zu werden, dass ihnen etwas fehlt, was es auszugleichen, zu ersetzen oder zu reparieren gilt. Evolutionsbiologisch war es für Jahrmillionen überlebenswichtig, aktiv nach Ressourcen für das tägliche Überleben Ausschau zu halten und zu konsumieren, wann immer sich dazu die Gelegenheit bot. Dinge zu wollen, wurde nicht von den Menschen erfunden, sondern in der Evolution für uns entwickelt, nicht um glücklich zu sein, sondern um zu überleben. Dieser Teil des Motivationssystems besteht in allem weiterhin fort, und eine milliardenschwere Werbeindustrie weiß dies zu nutzen. Und dennoch mehren sich auf vielen Ebenen Hinweise und wissenschaftliche Erkenntnisse über den Gewinn des Lassens und Verzichtens. So hat zum Beispiel in den vergangenen Jahren das Intervallfasten für Furore gesorgt. Es beruft sich auf verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse, die besagen, dass ein Nahrungsverzicht über eine Zeitspanne von vermutlich bis 16 Stunden körpereigene Reparaturvorgänge anstößt, die die Körperabwehr stimulieren und Selbstheilungskräfte in Gang setzen. Dem Heilfasten wird schon lange eine solche Wirkung zugesprochen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen dies zu bestätigen. Hier also tragen Verzicht und Weglassen zu einem Mehr an Gesundheit bei.

Lässt sich dies auch auf seelische Gesundheit übertragen? Viele kennen das Hamsterrad aus einerseits Arbeitsverdichtung und andererseits Freizeitstress – ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte. Beide Phänomene beschreiben die Dynamik zumindest der westlichen Welt. Die Menschen müssen Gas geben, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schneller, höher, weiter – in immer kürzerer Zeit. Kann das gut gehen? Und vor allem: Macht das glücklich und zufrieden? Die meisten werden spontan mit nein antworten – und dennoch mit unterschiedlichen Argumenten weitermachen wie bisher.

Oft schlägt irgendwann die Burnout-Falle zu, vermeintlich plötzlich, bei genauerem Hinsehen mit vielen Vorzeichen. Dabei kann es sich um körperliche Vorzeichen von Erschöpfung handeln wie Schlafstörungen, unterschiedliche Schmerzen und andere körperliche Beschwerden. Die Erholungsfähigkeit lässt nach, man erwacht morgens gerädert und sehnt sich am Montagmorgen bereits nach dem kommenden Freitag. Die eigenen Gedanken kreisen häufig um Überforderung und Scheitern. Und schließlich geht unsere Beziehungsfähigkeit verloren.

Verlorene Beziehungsfähigkeit

Die Forschungsergebnisse aus den sogenannten blauen Zonen, in denen überdurchschnittlich viele Frauen und Männer über hundert Jahre alt werden, weisen in Richtung Einfachheit. Wesentliche Bedingungen für ein langes Leben sind tägliche Bewegung (und damit ist nicht zwangsläufig Sport gemeint), einfaches Essen, ohne sich zu überessen, ein soziales, liebevolles Miteinander in Familie und Freundeskreis, Verbundenheit mit der Natur und Sinnorientiertheit. Viel Geld braucht es dafür nicht. In vielen Bereichen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens wird spürbar, dass das Fass längst voll ist und oft genug bereits überläuft. Dennoch gießen die meisten munter weiter ein, ohne sich zur Wehr zu setzen und Stopp zu sagen. Die Folgen zeigen sich in einer sehr deutlichen Zunahme von stressbedingten Erkrankungen: Bluthochdruck, Übergewicht und Fettleibigkeit, Suchterkrankungen, Burnout und viele andere Krankheiten. Und auch der Erde geht durch dieses Verhalten die Puste aus.

Es ist wie mit einem vollen Gefäß: Damit es seinen Zweck, etwas aufzunehmen, erfüllen kann, muss es dafür Platz geben. Hiermit ist der Platz im Schrank genauso gemeint wie der im Terminkalender. Erlaube ich mir Verschnaufpausen auch von den digitalen Medien? In der heutigen Welt passiert das nicht mehr von selbst. Wir müssen uns schon aktiv darum bemühen. Freiwilliges Verzichten, Selbstgenügsamkeit und Bescheidenheit können dabei hilfreiche Begleiter sein. Auch Momente des Nichts-Tuns oder gar der Langeweile willkommen zu heißen, gehört hierzu. Verzichten lernen enthält auch, so paradox es klingen mag, das Versprechen von Gewinn. Auszusteigen aus der Hetze des Schneller, Weiter und Mehr, des Vergleichens und Hinterherjagens lässt Freiheit und Raum entstehen. Beides sind Grundbedingungen menschlichen Wachsens. Es braucht Raum und Zeit, damit Bestehendes verdaut und integriert werden und damit Neues seinen Platz findet und sich entwickeln kann. Der Mensch existiert überhaupt nur, weil es Raum gibt – in ihm und um ihn herum. Körper, Seele und Geist brauchen diesen Raum, sonst droht Krankheit. Die moderne Welt befindet sich neurobiologisch gesprochen im sympathikotonen Modus, das heißt, der Mensch erlebt das nicht nur als Stress, auch sein Organismus reagiert darauf – körperlich zum Beispiel mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, seelisch und mental trotz oder wegen des verbreiteten Überflusses und des Zuviels mit Leere- und Sinnlosigkeitsgefühlen, mit Erschöpfung, Burnout, Ängsten und Depressionen. Es scheint fast, als nähmen mit der Konsumsteigerung Unzufriedenheit, Verlustängste und seelische Not zu. Es fehlt der Ausstieg aus dem Hamsterrad, das immer wieder Leer-Machen, biologisch der parasympathische Modus.

Eine neue Sichtweise bietet das Märchen von Hans im Glück der Gebrüder Grimm. Hans hatte sieben Jahre bei seinen Herren gedient. Sein Meister dankt ihm und entlässt ihn mit einem Stück Gold als Lohn. Glücklich packt Hans den Goldklumpen in ein Tuch und macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter. Der schwere Goldklumpen beginnt, ihn schon bald zu drücken, was ein herannahender Reiter bemerkt. Geschickt überzeugt er Hans von einem Tausch „Gold gegen Pferd“. Zunächst fühlt Hans sich vom Glück begünstigt. Da er jedoch des Reitens unvertraut ist, fällt er bald vom Pferd. Dies sieht zufällig ein Bauer, der Hans zu einem Tausch „Pferd gegen Kuh“ überreden kann. Hans meint, damit jederzeit seinen Durst stillen zu können, er schaut auf den Vorteil des Tauschs. Doch auch der erweist sich bald als trügerisch, und so nimmt das Märchen seinen Lauf. Hans tauscht noch einige Male weiter, bis er schließlich nur noch einen Wetzstein besitzt, der ihm zu guter Letzt in einen Brunnen fällt. Als Hans dies bemerkt, springt er vor Freude auf, kniet sich nieder und dankt seinem Gott unter Tränen, dass er ihm diese Gnade erwiesen hat, ihn von einem schweren Stein zu befreien. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last setzt er den Weg zu seiner Mutter nach Hause fort.

Was für ein Märchen! Es bricht mit allem, was man üblicherweise von Märchen erwartet. Es scheint die Geschichte eines Tölpels und Antihelden zu sein, eines Versagers auf der ganzen Linie. Und doch beschreibt Hans sich selbst als glücklich, weil er loslassen und verzichten kann.

Die Kunst des Lassens

Die Kunst des Lassens, Loslassens und Seinlassens zu praktizieren, bedeutet, die vielen verschiedenen Formen des Festhaltens aufzugeben: Festhalten von Ereignissen, die vergangen sind; Fixiert-Sein auf Pläne für Zukünftiges, das man heute noch gar nicht beeinflussen kann; Festhalten an Kränkungen und Enttäuschungen, was einen selbst am meisten belastet; Festhalten an Erwartungen und eigenen Überzeugungen, was zunehmend den Diskurs mit Andersdenkenden verbaut; Verharren in toxischen oder zumindest belastenden Beziehungen, die oftmals die Luft zum Atmen nehmen; und schließlich die Überzeugung, dass Selbst­optimierung endlich ankommen und zufrieden sein lässt. Da das Verharren, Anhaften und Haben-Wollen tief in unserer evolutionären Natur verankert ist, muss sich der Mensch für das Gegenteil immer wieder aktiv entscheiden. Hans macht es vor. Das Märchen hat das Potenzial, die eigenen Werte abzuklopfen und sich damit auseinanderzusetzen, was für einen persönlich wirklich wichtig ist.

Es geht im Leben auch um die immateriellen Dinge, an denen wir hängen bleiben und die dadurch viel Energie ziehen. Dabei steht vor allem eine Anspruchshaltung an das Leben im Weg, die davon ausgeht, dass jeder ein Anrecht auf alles Mögliche hat: Gesundheit, Erfolg, ein langes Leben. Dabei wies der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl (1905–1997) bereits darauf hin, dass für ein (sinn)erfülltes Leben die zentrale Frage die des Umgangs mit den Herausforderungen des Lebens ist. Nicht ich habe einen garantierten Anspruch, sondern das Leben beansprucht mich. Viele Beziehungen scheitern, weil über Verletzungen nicht gesprochen wird, weil man erwartet (auch hierin zeigt sich die eben beschriebene Anspruchshaltung), der andere solle den ersten Schritt tun. Dieses Festhalten entfaltet manchmal ein tödliches Gift. Wem es gelingt, aus diesem Kreislauf unguter, kräfteraubender Gefühle auszusteigen, der oder die kann oft eine Entlastung, eine Befreiung von altem Ballast erleben. Und auf einmal scheint die Haltung von Hans tatsächlich ein Glücksrezept zu sein.

Bei der weit verbreiteten Burnout-Thematik geht es häufig um ein „Zuviel“. Hier stellt sich irgendwann die Frage, was jeder seinlassen kann und wo Formen des Verzichts einen Lösungsweg darstellen. Kann der Mensch lernen, auf einen Karriereschritt, auf eine weitere Aufgabe, auf belastende Beziehungen, auf Selbstoptimierung und Gefallen-Wollen zu verzichten? Und was macht er oder sie dann mit den Erwartungen – den eigenen und denen der anderen? Es ist wichtig, zu lernen, dass andere enttäuscht sein dürfen und man selbst dennoch bei dem eigenen Weg bleibt. Dabei kann das sogenannte schlechte Gewissen unterstützen. Es meldet sich ja gerne dann, wenn ich genau das tue: Erwartungen enttäusche, nein sage, Grenzen ziehe. So kann die Stimme des schlechten Gewissens zum klugen Ratgeber werden, der bei genauerer Betrachtung darauf hinweist, dass der Mensch gerade für sich und seine Bedürfnisse eintritt. Es geht also nicht darum, das schlechte Gewissen abzustellen, was sich viele wünschen, sondern es als Kompass für Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Hamsterrad nutzen zu lernen.

Noch einmal zurück zu Hans. Es ist wichtig, dass Hans auf einer ganz bestimmten Reise ist, nämlich auf dem Weg zurück zu seiner geliebten Mutter. Hans setzt auf Verbundenheit, Zugehörigkeit und Liebe. Damit fokussiert er sich auf das, was zahlreiche wissenschaftliche Studien als den wichtigsten Grundpfeiler für Lebenszufriedenheit und Glück identifizieren: gelingende Bindungserfahrungen und glückende menschliche Beziehungen. Dies bestätigen zahlreiche Studien. Nicht Karrieren, Erfolge, Geld und Ruhm stellen sich als das Glückselixier heraus, sondern gelingende Beziehungen. Vielmehr ist es so, dass Konkurrenz, Hetze und Haben-Wollen uns davon entfernen. Freundlichkeit und Mitgefühl hingegen öffnen uns füreinander und für das, was über uns hinausweist. Dabei ist wichtig, dass der Mensch lernt, diese Fähigkeiten auch selbst anzuwenden. Hans im Glück ist hierfür ein Vorbild, das zum Lassen auf unterschiedlichen Ebenen ermutigt und zeigt, dass damit ein Gewinn von Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden einhergeht. Selbstdarstellung und Status braucht Hans dafür nicht. Und so könnte man am Ende mit Hermann Hesse formulieren: „Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde.“ 

 

Literatur

Christian Firus: Was wir gewinnen, wenn wir verzichten. Patmos Verlag, Köln 2020, 160 Seiten, Euro 17,–.

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