Oft zu einseitig

Warum sich die Kirche als Institution sparsamer zur Tagespolitik äußern sollte
„Keep it in the ground“ – Blick ins Plenum der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland am 16. Januar 2023.
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„Keep it in the ground“ – Blick ins Plenum der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland am 16. Januar 2023.

Wie und auch wie häufig soll sich die Kirche offiziell und als Institution zur aktuellen Politik äußern? Unseren Autor Michael Roth, Professor für Systematische Theologie in Mainz, befällt oft ein ungutes Gefühl angesichts seiner Meinung nach zu vieler und zu einseitiger tagespolitischer Statements, wie er es zum Beispiel immer wieder auf Synoden erlebt.

Klagen darüber, dass sich die Kirchen mit ihren ethisch-moralischen Statements zu oft in die Politik einmischen, sind bereits wiederholt laut geworden, ebenso, dass sie in ihren Statements zu stark gesinnungspolitisch argumentieren und sich so nicht selten in weltfremden Forderungen in predigtartigem, moralisierendem Ton ergehen. Auch Widerspruch gegen diese Kritik ist nicht ausgeblieben: So wird die Notwendigkeit kirchlicher Worte betont, indem auf den zunehmend deutlicher werdenden Orientierungsbedarf in der Öffentlichkeit moderner Zivilgesellschaften verwiesen wird und den Auftrag der Kirche, sich bei der Gestaltung der Gesellschaft einzubringen.

Die Frage, ob Kirche politisch sein soll oder nicht, ist offenkundig nicht weiterführend, scheint doch unstrittig zu sein, dass Christinnen und Christen nicht politisch abstinent sein sollen, sondern sich auch politisch äußern und betätigen. Und ebenso wird niemand bestreiten, dass auch die Kirchen nicht schweigen dürfen, wenn denn ihre Stimme gefordert ist und sie bereit sind, tatsächlich gegen herrschende Auffassungen ihre Stimme zu erheben. Dennoch gibt es strittige, durchaus offene Fragen. Diese drängten sich mir auf, als ich im Januar dieses Jahres als Vertreter der Mainzer Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) in Düsseldorf teilnehmen durfte. Aus der Veranstaltung bin ich mit einem gemischten Gefühl gegangen, irgendetwas schien schief. Dabei ist das, was verhandelt wird, meistens gar nicht problematisch. Ich möchte von hier aus einige grundsätzliche, über die Synode hinausgehende Fragen formulieren, die meine Suchbewegung dokumentieren.

Fokus auf Amtsinhaber

Erstens: Besteht das politische Handeln der Kirche in erster Linie in den (in Mikrofone von Journalisten gesprochenen oder von der Kanzel verkündeten) Statements kirchlicher Amtsinhaber:innen und Erklärungen von Synoden oder nicht vielmehr in dem Wirken von Christinnen und Christen in Politik und Gesellschaft? Man hat den Verdacht, dass der Fokus bei der Frage nach dem Verhältnis von Politik und Kirche einseitig auf kirchlichen Amtsinhaber:innen und von ihnen maßgeblich geprägten Synoden liegt, statt auf dem, was Christinnen und Christen konkret in der Gesellschaft tun. Diese Ausrichtung des Scheinwerfers passt zusammen mit der Tendenz der klerikalisierenden und katholisierenden Aufrüstung der Geistlichen innerhalb weiter Teile der evangelischen Landeskirchen.

So machte nicht zuletzt der Göttinger Kirchenhistoriker und Leibniz-Preisträger Thomas Kaufmann auf diese Tendenz innerhalb des Protestantismus aufmerksam, die sich bereits in der Sprache niederschlage: Es werde beispielsweise vom „Regionalbischof“ statt dem „Landessuperintendenten“ geredet, von „Prälat“ statt einer „kirchenleitenden Person“. Auch in der Kleidung manifestiert sich diese Tendenz: Der Collar ist – gerade bei jungen Pfarrerinnen und Pfarrern – schon lange keine Seltenheit mehr und so mancher evangelische Bischof möchte auf den (die Soutane zitierenden) Lutherrock nur ungerne verzichten. Kirche wird zu stark mit Kirchenleitung identifiziert, das Priestertum aller Glaubenden scheint zugunsten eines Quasi-Lehramtes in den Hintergrund zu treten.

Dabei stellt sich die Frage, ob die Verbindung zwischen politischem Protestantismus und Kirchenleitung überhaupt günstig ist. Die Gefahr ist unübersehbar, dass politisch-gesellschaftliche Stellungnahmen in den Verdacht geraten, durch moralisches Labeling lediglich Marketing zu betreiben. Hier sei nur an den Beschluss zum freiwilligen Tempolimit auf Dienstfahrten bei der EKD-Synode im November 2022 in Magdeburg erinnert (vergleiche zz 12/2022), der von den meisten mir bekannten Personen als unangenehmes moral grandstanding empfunden wurde, das Imagepflege für die Organisation Kirche machen sollte. Offenkundig konnte die Mehrheit der Synode auf die kluge Warnung der Ratsvorsitzenden Annette Kurschus nicht eingehen, dass es „nach hinten losgehen“ könne, wenn die Evangelische Kirche zu sehr in einem moralischen Ton auftrete.

Von den Münchner Theologen Reiner Anselm und Christian Albrecht stammt der durchaus überlegenswerte Vorschlag, dass zu gesellschaftlichen Fragen sich primär andere Christinnen und Christen äußern sollten als die Kirchenleitung, weil das, was kirchenleitende Personen sagen, häufig bloß als Lobbyarbeit für die Organisation wahrgenommen werde. Es scheint in der Tat sinnvoll, wenn in gesellschaftlichen Fragen auch solche Christinnen und Christen exponiert zu Wort kommen, die in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als Christinnen und Christen ihre Arbeit am konkreten Ort mit konkreter Sachexpertise vollziehen. Menschen, die anders als kirchenleitende Personen und Synoden nicht von außen schauen, sondern in den Situationen stehen, die sie auch tatsächlich zu verantworten haben, und es sich daher gar nicht leisten können, sich in weltfremden Forderungen zu gefallen.

Permanent im Widerstand?

Zweitens: Dass die Organisation Kirche auch ein notwendiges Wort reden darf, ja reden muss, wenn es in Staat und Gesellschaft erforderlich ist, ist unstrittig. Zur Frage aber steht, ob sie alle tagespolitischen Geschehnisse fortlaufend analysieren, kommentieren und bewerten muss. Könnte es nicht ein Problem sein, dass sich die Kirche permanent in der Situation des Widerstandes befindlich sieht, bei dem sie dem „Rad in die Speichen fallen“ muss (Dietrich Bonhoeffer)? Man hat den Eindruck, dass die Kirche in ihren häufigen Kommentaren nicht davon auszugehen scheint, dass wir in einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen leben, in einem „Staat mit Ordnung und Recht“ (Dietrich Bonhoeffer), in dem die pluralen Entscheidungsprozesse mit Hilfe von – durch rechtliche Regeln beschriebenen – Verfahren ausgehandelt werden. Gibt es kein Bewusstsein von der Unterschiedenheit der Regimenter und den unterschiedlichen Aufgaben von (funktionierendem) Staat und Kirche? Wird nicht allzu oft und unüberlegt die Situation von Barmen heraufbeschworen – freilich zu weitaus ungefährlicheren Zeiten, in denen statt Mut auch ein Sich-mutig-Fühlen ausreicht?

Die große Vielzahl der kirchlichen Stellungnahmen zu den unterschiedlichen Sachthemen führt nicht selten zu einem Unbehagen in der Gesellschaft, für das kirchliche Vertreter:innen auffallend unsensibel zu sein scheinen: Vielen Menschen stößt auf, dass hier ein ethischer Avantgardeanspruch gegenüber der Gesellschaft geltend gemacht wird, der analytische Generalkompetenz und moralische Überlegenheit in allen Fragen beansprucht. Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings, dass die seit 2021 neue Ratsvorsitzende hier offenbar einen anderen Weg beschreitet und nicht in jedes hingehaltene Mikrofon redet und nicht jede Chance auf eine Beteiligung an einer Talkshow nutzt. Sie hat auch schon – das war man gar nicht mehr gewohnt – bei einigen Fragen deutlich gemacht, dass sie keine eindeutige Antwort habe.

Drittens: Worin sieht die Organisation Kirche ihren Beitrag für Politik und Gesellschaft. Darin, Politik möglich zu machen, oder darin, selbst Politik zu machen? Es besteht ein erheblicher Unterschied, ob der Kirche daran gelegen ist, einen Beitrag für Politik und Gesellschaft zu leisten, indem sie zu einer rationalen und pluralen Meinungsbildung beiträgt, oder ob sie ihre Aufgabe darin sieht, selbst eine bestimmte politische Meinung zu vertreten.

Im letzteren Fall kann die Gefahr kaum gebannt werden, dass nicht mehr deutlich ist, dass man als Christin und als Christ zu ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen kommen kann und auch darf. Zu oft wird suggeriert, es gebe nur noch eine einzige evangeliumsgemäße politische Position.

Viertens: Werden nicht zu viele Positionen mit einer christlichen Begründung versehen, sodass jeder ergebnisoffene Abwägungsdiskurs abgeschnitten und die jeweilige Position durch Berufung auf höhere religiöse Wahrheiten als sakrosankt hingestellt wird? Dieses Verfahren wird häufig durchaus bewusst initiiert, etwa wenn auf kirchlichen Synoden den jeweiligen Ausschüssen zur Aufgabe gemacht wird, bestehenden Erklärungen noch (nachträglich) eine theologische Begründung hinzuzufügen. In der Regel wird dies dann schwungvoll und eifrig in Angriff genommen, sind Bibelverse doch schnell zur Hand und einige theologische Begriffe oder gar Floskeln (zum Beispiel Gottebenbildlichkeit, Bewahrung der Schöpfung, Liebesgebot) können durchaus variabel und flexibel eingesetzt werden.

Im Blick auf die rheinische Synode 2023 erschließt sich mir beispielsweise nicht, wieso für die Erklärung, die kirchlichen Gebäude bis 2035 treibhausneutral zu ertüchtigen, nicht eine politische, wirtschaftliche und ökologische Begründung ausreicht, wie dies bei anderen Organisationen und ihren Bestrebungen zur Treibhausneutralität auch der Fall ist, sondern zusätzlich angeführt werden muss, dass wir dies tun, um Gottes Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung zu erfüllen. Offensichtlich brauchen manche Christinnen und Christen neben schnöden Motiven immer auch ein edles Motiv, das sie moralisch aus der Gruppe derer heraushebt, die das Gleiche mit einer minderen Gesinnung tun.

Allerdings wird diese theologische Begründung von Außenstehenden häufig als Unaufrichtigkeit hinsichtlich der eigentlichen Beweggründe wahrgenommen. Wäre es nicht etwas unehrlich, wenn ich mein morgendliches Auftragen einer Feuchtigkeitscreme damit begründe, dass ich dies aus dem Grund tue, um Gottes Auftrag zur Bewahrung seiner schönen Schöpfung auszuführen? Man kann Friedrich Nietzsche schon manchmal Verständnis entgegenbringen, wenn er im Antichristen schreibt: „Wer Theologen-Blut im Leibe hat, steht von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich.“

Eindeutige Überschrift

Fünftens: Fraglich ist auch, ob die kirchlichen Erklärungen und Stellungnahmen sich politisch häufig nicht zu einseitig auf eine bestimmte politische Seite schlagen. In der öffentlichen Wahrnehmung des Protestantismus scheinen die evangelischen Landeskirchen als Moralisiererinnen in bestimmter politischer Parteigängerschaft wahrgenommen zu werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich an die Erklärung erinnern, die im Januar 2023 auf der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland zu Lützerath verabschiedet wurde: Die Synode bringt zum Ausdruck, dass sie die Sorge der Protestierenden um die Auswirkung der Kohlestromversorgung auf das Klima teilt, und fordert daher ein sofortiges Moratorium, das allen Beteiligten die Zeit lassen soll, die Notwendigkeit der Kohleförderung in Lützerath zu überprüfen. Allerdings ist es der rheinischen Synode dann doch nicht gelungen, einen offenen Diskussionsprozess mit offenem Ergebnis zu initiieren und tatsächlich auszuhalten, wie sie es im Text vorgibt. Daher gibt die Synode ihrer Erklärung eine eindeutige Überschrift, die bereits unumstößlich festschreibt, was mit der Kohle zu geschehen hat: „Keep it in the ground“. Darüber hinaus ist „Keep it in the ground“ natürlich das Schlagwort, das die Klimaaktivist:innen selbst verwenden, sodass die Positionierung wieder ebenso eindeutig wie einseitig ist.

Die Synode hielt es demgegenüber offenbar nicht für notwendig, sich in ihrer Erklärung von der Gewalt zu distanzieren, derer sich einige (wenige) Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten befleißigt hatten, und sie sah sich auch nicht dazu berufen, einmal den Polizeikräften zu danken, die Gewalt ausgesetzt waren, die sich beschimpfen lassen mussten, um dann noch Prominente wie Luisa Neubauer vom Feld zu tragen, die sich mit Leidensmiene geschickt als Opfer zu inszenieren wussten.

Mitleidige Verachtung

In seinen Untersuchungen zur Apologetik hat der Erlanger Theologe Werner Elert vor gut einhundert Jahren formuliert, dass der Anbiederung in der Regel kein Erfolg beschieden sei, vielmehr werde die Verachtung meistens nur umso größer. In der Tat: Wenn kirchenleitende Vertreterinnen und Vertreter sich anbiedern, indem sie die „Letzte Generation“ mit standing ovations bedenken und sich dabei noch als unbequeme Revolutionäre gerieren, löst dies bei den meisten bestenfalls mitleidige Verachtung aus. Gegenwärtig ist aber statt Verachtung größtenteils lediglich Gleichgültigkeit zu beobachten. Alle, die auf der rheinischen Synode einen Blick in den äußerst großzügig bemessenen Pressebereich geworfen haben, werden nicht umhinkommen, dies bestätigen zu müssen: Die Stühle waren meistens sämtlich leer, ich selbst habe nur einen Vertreter vom epd wahrgenommen. Und auch die Berichterstattung im Netz hat sich größtenteils auf den Seiten der EKiR (und EKD) abgespielt.

Kann das ernsthaft verwundern? Was die Synode zum Klima, zum Ukrainekrieg, zu der Situation im Iran und zu Lützerath sagt, war ebenso langweilig und vorhersehbar wie das, was ein Tabakkonzern zu den Gesundheitsrisiken des Rauchens sagt. Steht angesichts dieses Befundes nicht zu befürchten, dass, sollte eine Synode tatsächlich einmal etwas Relevantes zu sagen haben, dies in den vielen Belanglosigkeiten und Selbstverständlichkeiten des moral grandstanding unterzugehen droht?

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