Kein Bestand ohne Bestände

Warum ein „offener Protestantismus“ ins Leere geht
Statue des Schriftstellers Michel de Montaigne (1533-1592) vor der Universität Sorbonne in Paris (September 2013).
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Statue des Schriftstellers Michel de Montaigne (1533-1592) vor der Universität Sorbonne in Paris (September 2013).

Kürzlich hielt der Theologe Eberhard Pausch auf zeitzeichen.net ein Plädoyer für den „offenen Protestantismus“. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Florian Kühl widerspricht ihm vehement, denn für ihn „dekonstruiere“ eine solche Sichtweise Kirche und Glaube überhaupt.

Wer mir widerspricht, weckt meine Aufmerksamkeit, nicht meinen Zorn.“

(Michel de Montaigne)

Eberhard Pausch plädiert vor dem Hintergrund des dramatischen Mitgliederverlustes der Kirchen für einen „offenen Protestantismus“. Einen Begriff, den er frei nach Karl Popper und seiner Verteidigung der offenen Gesellschaft gegen den Nationalsozialismus und Stalinismus verwendet. Vielleicht steckt in diesem Ausgangspunkt seiner Überlegungen das ganze Problem seines Artikels. Denn durch die Dichotomie, die bei Popper sehr nachvollziehbar war, wird die Frage nach der richtigen Kirche in heutiger Zeit mit einem polarisierenden Schema beantwortet, das keine Zwischentöne zulässt.

Hier der lichte, liberale, aufgeklärte und vernünftige Glaube des „offenen Protestantismus“, der sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnt und im Grunde alternativlos ist. Dort der finstere Glaube der selbstbezüglichen Dogmatiker, Fundamentalisten, der Autoritären und Ideologen. Sie werden folgerichtig von Pausch als „Feinde“ des offenen Protestantismus markiert. Vor Augen stehen dem Leser nun verbohrte, engstirnige, totalitäre Figuren, die weder argumentieren können noch wollen, sondern ihren Verstand schon lange vor der Kirchentür abgegeben haben. Von fern her, so mag man meinen, grüßen die Deutschen Christen als Mahnung. Somit ist klar, auf welcher Seite ein halbwegs anständiger Christ heute zu stehen hat.

Aber ist das noch so klar, wenn man sich zum Beispiel die fünf Grundsätze des Fundamentalismus näher anschaut, die Eberhard Pausch zur Charakterisierung der „Feinde“ des „offenen Protestantismus“ ins Feld führt? Da wird zum Beispiel der Glaube an Jesus Christus als „wahrer Gott“ genannt, „der durch seinen Tod am Kreuz ein stellvertretendes Sühnopfer gebracht und dadurch die Erlösung bewirkt hat“. Eine wahrlich extreme Vorstellung. Und es kommt noch besser: „Jesus Christus ist leiblich auferstanden von den Toten und wird am Ende der Zeiten als Weltenrichter wiederkehren.“ Schrecklich, an welche Grundsätze diese geifernden Fundamentalisten so glauben, während der „offene Protestantismus“ ihnen mutig entgegenhält, „keinen einzigen“ dieser Grundsätze zu teilen.

Sind wir alle Fundamentalisten?

Aber einen Moment bitte: Bete ich nicht exakt dies im apostolischen Glaubensbekenntnis in jedem landeskirchlichen Gottesdienst? Steht das nicht so in den Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Landeskirchen? Singe ich es nicht an den Festtagen unserer Kirche? Ich glaube daran und alle Ordinierten vom Dorfpfarrer über die Regionalbischöfin bis zum Landesbischof doch wohl auch. Sind wir jetzt alle Fundamentalisten und engstirnige Dogmatiker einer verschrobenen christlichen Vorstadtsekte, die nicht mehr klar denken können, nur weil wir an einem verbindlichen Kern christlicher Glaubensüberzeugungen festhalten und ihn bekennen? Wir denken offenbar anders, also sind wir … Feinde?

Denken – da wären wir beim nächsten Problem im Text von Herrn Pausch. Wenn ich ihn richtig verstanden habe  – und ich gestehe, dass ich mich auch irren kann –, dann gibt es statt der vermeintlich inakzeptablen Fundamente der Fundamentalisten nur zwei echte Fundamente, auf die wir vertrauen dürfen: Das Denken beziehungsweise der Zweifel, aus dem die Gewissheit der eigenen Existenz abgeleitet wird (Descartes) und die „liebevolle ,Message‘ Gottes“, bei der wir aber „jederzeit mit der Möglichkeit rechnen müssen, uns zu irren.“ Beides klingt aus meiner Sicht recht instabil und läuft letztlich auf die einfache Botschaft hinaus, dass nur je an das geglaubt werden sollte, was eine „kritische und argumentative Vernunft“ wissen kann. Was ich aber wissen kann, das muss ich nicht mehr glauben, oder?

Es geht doch bei allem, was wir glauben, nie um ein Wissen, sondern um eine feste Zuversicht, ein großes Vertrauen darauf, dass es stimmt, was wir im Evangelium lesen, in den Predigten hören und selbst weitersagen. Dabei sind das trinitarische und das christologische Dogma sowie unsere Bekenntnisschriften doch nicht einfach aufgrund von „Sprachspielen vergangener Zeiten“ entstanden, sondern auf der ernsthaften Grundlage vernünftiger Argumentation und dem Wirken des Heiligen Geistes, der die Ewigkeit in die Zeit trägt und daher sehr wohl „überzeitliche normative Bedeutung entfalten“ kann. Ich kann auch nicht erkennen, wie die Kernaussagen des Evangeliums für unseren Glauben beliebig in immer andere und neue Richtungen interpretiert werden können, ohne den Texten Gewalt anzutun oder aufs Neue mit Argumenten zu kommen, die vor vielen hundert Jahren bereits nicht überzeugend waren. Wer alle Bestände aufgibt, wird keinen Bestand haben.

Von allem Plunder befreit?

Womit wir bei der Zukunft der Kirche wären. Eberhard Pausch beklagt ihren Mitgliederschwund, und ich vermute, er sieht den Grund hierfür vor allem in einer Kirche, die sich nicht von ihren vermeintlich überholten und exkludierenden Dogmen trennen kann. Ihr stellt er seinen Entwurf einer Kirche des „offenen Protestantismus“ gegenüber, die, befreit von allen Glaubensdogmen und theologischen Verbindlichkeiten, selbst befreiend wirkt und damit als attraktiver wahrgenommen werden kann. Auf diese Weise den Anker gelichtet, wird die Kirche endlich den auch von allem anderen Plunder unserer Kultur und unseres Menschseins befreiten Individuen ein herrlicher Kahn auf hoher See sein, der, schwankend zwar, aber doch mit Emphase fürs Ungebundene ins Offene segelt.

In Wahrheit werden mit dem „offenen Protestantismus“ Kirche und Glaube dekonstruiert. Nach einer langen Reihe vermeintlich emanzipatorischer Akte in Gesellschaft und Kultur, kommt der Dekonstruktivismus unweigerlich mit dem Angriff auf die Identität der Kirche an sein Ziel. In diesem Vorgang offenbart sich eine Ideologisierung und Aushöhlung des Liberalismus, wie wir ihn zuvor nur aus der Französischen Revolution kennen. Eberhard Pausch warnt die Kirche völlig zu Recht vor dem Eindringen von politischen oder ökonomischen Ideologien, die das Evangelium verdunkeln – und steht doch selbst blind da vor seinem eigenen Versuch.

Die Kirche der Zukunft wird aus ihrer überzeugten und überzeugenden Identität mit Jesus Christus als unserem Herrn und Gott leben. Wir können mit unserem Wissen nicht über ihn verfügen, aber unser ganzes Leben im Glauben auf ihn ausrichten. Bleiben wir im biblischen Bild: Der schwankende Kahn der zweifelnden und verzweifelten Jünger auf dem See Genezareth geht ohne Jesus Christus, ohne den festen Blick auf ihn unweigerlich in den Wellen zugrunde. Kein selbstgedrechseltes „Cogito ergo sum“ wird hier retten können und auch keine „liebevolle Message“, die heute so und morgen wieder ganz anders verstanden werden kann. Nein, die Rettung hat Vernunft und ist doch höher als alle unsere Vernunft, sie schreitet über dem Wasser auf uns zu, sie hat einen Namen und ein Gesicht und herrscht über Physik und Metaphysik bis aller Wind und alle Wellen ruhen: Jesus Christus.

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Florian Kühl

Florian Kühl (*1970) leitet seit 2017  die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Akademie Loccum- Zuvor hat der studierte Historiker und Literaturwissenschaftler als Manager Media Relation bei dem LKW-Hersteller Volvo-Trucks sowie als TV-Redakteur und -Producer gearbeitet.


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