Wir sind 19 Millionen!

Gemeinde ist mehr als Kerngemeinde. Aber sie braucht Pflege.
Foto: privat

Die evangelische Kirche schrumpft. Warum? Sind die Predigten zu politisch oder nicht politisch genug? Die Gottesdienste zu langweilig, das Personal zu unfreundlich, die Abläufe zu bürokratisch, die Gemeinden kulturell verengt? Das mag alles zutreffen oder auch nicht, aber es erklärt nicht, warum Leute austreten. Denn die meisten hatten schon vorher keinen Kontakt zur Kirche. Sie wissen also gar nicht, ob Gottesdienste langweilig sind oder nicht.

Der heutige Exodus der Kirchenmitglieder ist keine Reaktion auf das, was jetzt passiert, sondern eine Folge von Versäumnissen und Fehlentscheidungen, die Jahrzehnte zurückliegen. Das ist bei der Kirche nicht anders als bei der Deutschen Bahn: Man hat sich so lange nicht um die Substanz gekümmert, dass irgendwann alles gleichzeitig kaputtgeht.

Die Substanz der Kirche sind die Gemeinden. Aber von Gemeinde, von Gemeinschaft spüren die meisten Kirchenmitglieder in ihrem Alltag nichts. Weil es praktisch gar keine Berührungspunkte gibt zwischen ihnen und der Kirche. Über 19 Millionen Mitglieder hat die evangelische Kirche in Deutschland heute noch, 1990 waren es noch 10 Millionen mehr. Aber schon damals fühlten sich die meisten davon nicht wirklich als Teil der Gemeinde.

Mitglieder geghostet

Solange ich zurückdenken kann, war „die Gemeinde“ nicht die ganze Gemeinschaft der Getauften, sondern ein kleiner, exklusiver Zirkel, der für sich beanspruchte, der „Kern“ des Ganzen zu sein. Die Kerngemeinde, wie man sagte. Einer Kommunikationsstudie der evangelischen Kirche in Frankfurt am Main von Anfang der 1990er Jahre zufolge wendeten Pfarrerinnen und Pfarrer damals 90 Prozent ihrer Kommunikation für die Haupt- und Ehrenamtlichen sowie die regelmäßigen Teilnehmer:innen am Gemeindeleben auf. Alle anderen bekamen sie allenfalls zu den Kasualien oder an Heiligabend mal kurz zu Gesicht.

Das geschah nicht in böser Absicht. Die Kerngemeinde der Engagierten hatte eben sehr viele Ideen und Ansprüche. Für sie war „die Gemeinde“ soziale Heimat, der Ort ihrer Selbstverwirklichung. Natürlich betonten sie, dass die Kirchentüren „für alle offen“ stünden. Und sie wünschten sich ja auch, dass noch mehr Leute bei ihnen „mitmachen“. Aber klar war: Nicht bei ihnen lief etwas falsch, sondern bei den Leuten da draußen, die das gute Angebot nicht zu schätzen wussten, die wahrscheinlich nicht fromm genug waren oder was auch immer. Egal. Wer nicht kam, war selbst schuld, und dann fiel durchaus schon mal der böse Begriff von den „Karteileichen“. Ein vielsagendes Wort: 90 Prozent ihrer Mitglieder waren im Bewusstsein vieler im kirchlichen „Inner Circle” eigentlich schon gestorben.

Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass diese Leute - wir reden immerhin von 26 Millionen Menschen im Jahr 1990 - den Laden mit ihren Kirchensteuern finanzierten. Aber niemand verschwendete Ressourcen für den Kontakt mit ihnen. Man hatte mit sich selbst genug zu tun, und 10 Prozent von 29 Millionen sind ja auch ganz schön viele. Ich weiß von Gemeinden, die ihren Mitgliedern nicht mal den Gemeindebrief nach Hause zustellten: Wer ihn lesen wollte, sollte ihn sich eben im Gemeindebüro abholen. So war die Haltung. Und so kühlte die Beziehung nach und nach ab und endete irgendwann ganz. Man könnte sagen, die Kirche hat die große Mehrheit ihrer Mitglieder einfach geghostet.

Das fand bei diesen natürlich einen Widerhall. „Ich kann auch ohne Kirche Christ sein“, behaupteten sie zum Beispiel tapfer. Heute stellt sich heraus, dass das nicht stimmt. Denn im Christentum geht es nicht um eine individuelle spirituelle Erlösung, sondern um Gemeinschaft, um geteilte Praxis im Alltag. Die „Gemeinde“ ist der Kern, nicht irgendein erweckliches Gefühl von persönlicher Frömmigkeit.

Nur aus Versehen

Ohne Gemeinschaftserlebnis verblasst das Christsein mit der Zeit. Genau das ist in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren passiert. Die Menschen, mit denen die Kirche nicht kommunizierte, sind zwar aus alter Verbundenheit selber nicht ausgetreten, aber sie haben die Religion auch nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Und die ziehen jetzt die Konsequenzen. Für sie fühlt es sich logischerweise so an, als wären sie nur aus Versehen in dieser Institution gelandet.

Ändern lässt sich das heute nicht mehr. Der Drops ist gelutscht. Aber - wir sind immer noch 19 Millionen! Was wäre das für eine Kirche, die sich wirklich als Gemeinschaft aller Getauften verstünde? In der nicht eine „Kerngemeinde“ vorgibt, was Christsein bedeutet? In der die hauptamtlich Angestellten nicht meinen, ihre Mit-Christinnen und Christen würden ihnen eine bestimmte Form von Engagement und Frömmigkeit schulden? Wie müsste die Kirche sein, wenn sie sich wirklich als Dienerin der christlichen Gemeinde verstünde, also aller Menschen, die getauft sind?

Ich weiß nicht, wie eine solche Evangelische Kirche in Deutschland aussehen würde. Aber ich weiß, sie wäre riesig. Wir sind schließlich immer noch 19 Millionen!

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"