Erfahrung oder Erfindung?

Reaktionen zum Thema „Klassismus in der Kirche“
Kreuzchor in Dresden
Foto: picture alliance / dpa | Arno Burgi
Das Titelbild der aktuellen "zeitzeichen" -Ausgabe mit dem Schwerpunkt "Klassismus in der evangelischen Kirche".

Der aktuelle „zeitzeichen“-Schwerpunkt zum Thema „Klassismus“ in der evangelischen Kirche hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Drei von Ihnen seien im Folgenden gekürzt vorgestellt, in der Hoffnung, dass die Debatte durch weitere Beiträge (gerne direkt an redaktion@zeitzeichen.net) fortgeführt wird.

„Danke für dieses Thema“, schreibt Klaudia Riedel, Pfarrerin in Gera, in Ihrer Reaktion. Und sie beschreibt Beispiele aus Ihrer Biographie:

„Ich hatte mein Studium Evang. Theologie „Kirchliches Examen“ in Leipzig Sept. 2000 begonnen. Mit erfolgreichen Bestehen des Vordiploms (und sehr positiven Gutachten von Professor des Neuen Testaments und Pfarrers mit Doktortitel) bewarb ich mich bei Villigst. Mein familiärer Hintergrund: geboren in Jena/ Thüringen, Mutter verstorben, bei Großmutter aufgewachsen (diese hatte 8. Klasse Schulabschluss + Ausbildung als medizin-technische Assistentin), Vater bei mahle in Stuttgart ... manchmal Unterhalt zahlend. Ich finanzierte mein Studium durch Rentenversicherung (Halbwaisenrente) und Kindergeld. Dazu Arbeit als studentische Hilfskraft und im Supermarkt.

Zum Auswahlverfahren des Evang. Studienwerkes wurde ich eingeladen. Aber ich spürte sehr deutlich den „Stallgeruch“.  Vielleicht lag es daran, dass ich aus dem Osten war ... Da ich 2003/2004 an der Karl-Ruprecht-Universität in Heidelberg studierte, wurde ich dort zum Verfahren eingeladen. Es war eine weitere Erfahrung in herablassender Umgangsweise (die mir in Baden-Württemberg sehr häufig begegnete). Die Villigst-Aufgenommenen in meinem Freundeskreis waren alles Kinder, deren Eltern Pfarrer, Mediziner oder mit anderem Hochschulabschluss.

Inzwischen – in Regelstudienzeit und gutem Diplomabschluss - bin ich ordinierte Pfarrerin in meiner Landeskirche, der EKM. Und so glücklich, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe und immer wieder „Sparringpartner“, wie sie Jaana Espenlaub von ArbeiterKind.de beschreibt, hatte! Nach meiner 2. Pfarrstelle bin ich seit einem dreiviertel Jahr in Gera, in einem großen Beton-Wohngebiet (DDR-Erbauung 1952) tätig und merke, dass Gott meine Gaben und vor allem meine Erfahrung für die Menschen hier sehr segensreich mit meinem Sprechen und „Geruch ausstrahlen“ verwenden kann. Kirchenleitende Positionen werden wie vor 25 Jahren noch aus dem „eigenen Stall“ besetzt, da ändert sich das Sprechen und Duft aus elitären Gebäuden nicht so bald (z. B. Predigerseminar Wittenberg, Landeskirchenämter).“

Sehr kritisch blickt hingegen Frithard Scholz, Pfarrer und früherer Direktor des Predigerseminars der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar, auf den Schwerpunkt uns sein Thema und verweist auf das Konzept der „socialen Differenzierung“ von Georg Simmel:

„Die Art und Weise, wie das jüngste „zeitzeichen“-Heft den sog. „Klassismus“ als „Diskriminierung“ anprangert, ist (vorsichtig ausgedrückt: überraschend) naiv. Die Beiträge dürfen sich getrost als ‚gut gemeint‘ qualifiziert sehen. Denn es ist ja zweifelsfrei so:

  • Es gibt im wirklichen Leben den Hang, „Angehörige anderer Klassen als ‚fremd‘ zu identifizieren und abzulehnen“, wie Eberhard Pausch in seinem Beitrag schreibt.
  • Es gibt volle Kirchen „wenigstens bei der Aufführung von Bach-Oratorien“ und die gleichzeitige Beobachtung, wer alles nie auf die Idee käme, auch da hin zu wollen, auf die sich Sarah Vecera in dem Interview bezieht.
  • Es gibt Texte, auch bei kirchens, ob gedruckt oder von Kanzeln live heruntergespult, in die manches an Gehirnschmalz investiert worden sein mag – bei denen aber viele nach fünf Minuten abschalten, weil sie nur Bahnhof verstehen und sich nicht-gemeint finden.

Allesamt Konstellationen, die sich mehr oder weniger ‚schlecht anfühlen‘ für die, die sich dabei „ausgegrenzt“ vorkommen dürften  – und dabei sind’s nur Beispiele.

Kontroverse Interessen

Aber, diesseits vom „Betroffenen“-Modus gelesen: alles Beispiele auch bloß für das, was schon 1890 einer der Gründerväter der modernen Soziologie, Georg Simmel, „sociale Differenzierung“ nannte. Bezeichnet damit ist die Aggregationsform eines Gemeinwesens, das aus Einzelnen gebildet ist, denen Unterschiedliches zugeschrieben werden kann (ja die sich jenachdem diese Fremdwahrnehmung auch als Selbstbeschreibung aneignen): ‚soziale Rollen‘, ‚Positionen‘, Zugehörigkeit zu ‚sozialen Schichten‘, ‚Milieus‘, eben auch „Klassen“ (wie das Soziologen auszudrücken vorschlugen) – letzten Endes auch „Individualität“, die Identifikation eines Einzelnen als singulär Besonderen.

Unbestritten, dass schon die Sprachgestalt von derlei Zuschreibungen durch soziologische Reflexion kontroverse Interessen im wirklichen Leben eines Gemeinwesens ausdrücken oder auch verschleiern kann: die Rede von ‚Schichten‘ oder ‚Milieus‘ suggeriert, ganz geologische Metaphorik, quasi-naturale Gegebenheiten (‚da lässt sich nix machen‘) – während die Zuschreibung von Einzelnen zu dieser oder jener „Klasse“ infolge des dominant marx‘schen Sprachgebrauchs den Charakter sozial asymmetrischer Zuweisung auf der Stirn trägt (die zu beendigen – Stichwort „Klassenkampf“ – moralisch geboten sei).

Das sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Zuschreibung „Individualität“, deren Respektierung der zeitgenössische Protest gegen „Diskriminierungen nach Geschlecht, Sexualität oder Hautfarbe“ (Pausch) forciert, auf strukturell dieselbe „sociale Differenzierung“ einer ‚Gesellschaft‘ zurückgeht, der jene Unterscheidungen an Einzelnen als „Diskriminierung“ vorgeworfen werden.

Eliminierung von Gegensätzen

Aber dieser anspruchsvollen Einsicht weichen die „zeitzeichen“ mit ihrer wohlfeilen Entscheidung aus, bei der Erörterung ihres aktuellen Schwerpunktthemas in das populäre Anti-„Diskriminierungs“-Horn zu tuten „Eine Gemeinschaft zu gestalten, in der wir uns alle wohl- und willkommen fühlen und Teil von einem großen Ganzen sind“ formuliert Vecera als ihre ‚Vision‘. Damit artikuliert sie die Befindlichkeit des mainstreams in Zeiten, da in der öffentlichen Kommunikation nichts weniger so hoch bewertet wird wie „Partizipation“.

Der hier vorgebrachte Einwand erscheint demgegenüber ‚unzeitgemäß‘. Dabei weist er nur auf einen langfristigen Effekt des Prozesses (oder auch Zustands?!) „socialer Differenzierung“ hin: je nach dem Grad der Schärfe der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sektoren (Teilsysteme, Institutionen, Organisationen – auf den Terminus kommt’s hier nicht an) sind Kommunikationsprozesse innerhalb eines Sektors nicht ohne Weiteres für einem anderen Sektor Angehörende nachvollziehbar (systemtheoretisch tickende Soziologen würden „anschlussfähig“ sagen).

Dieser „Differenzierungs“-Effekt einer unvollständigen Zugänglichkeit von Allem für Alle mag schwer erträglich sein in Zeiten der Hochschätzung bedingungsloser „Partizipation“. Aber diesem Befinden beizukommen sein wird kaum gelingen durch Eliminierung der Differenzen, die jenachdem als „Diskriminierung“ bewertet sind.

Denn „sociale Differenzierung“ ist keine Momentaufnahme, sondern Signatur eines Zeitalters, und deren personal u.U. erlebte Nebenfolgen sind der Preis für die Leistungsfähigkeit des „großen Ganzen“. In diesem Sinne ‚zeitaltersgemäß’ wäre die Anti-„Diskriminierungs“-Strategie, individuelle Resilienz auch in Umständen beschränkter, gar fehlender Partizipation aufzubauen und zu habitualisieren.“

Auch der Zürcher Professor em. für Systematische Theologie, Johannes Fischer, übt grundsätzliche Kritik am Klassismus-Konzept, für ihn eine „Erfindung von Menschen, die sich die Welt im Kopf zurechtlegen.“:

„Der Begriff ‚Klassismus‘ kommt daher wie ein wissenschaftlicher Terminus. Als solcher wäre er der Ökonomie oder der Soziologie zuzuordnen. Seine Bedeutung lässt sich dann folgendermaßen definieren: Klassismus ist eine Einstellung, die Menschen gegenüber den Angehörigen einer ‚niedrigeren‘ sozialen Klasse haben und die sich darin manifestiert, dass diesen mit Vorurteilen begegnet wird oder dass sie diskriminiert, unterdrückt, geringgeschätzt oder verachtet werden. So aufgefasst hat das Wort ‚Klassismus‘ einen rein deskriptiven, wertneutralen Bedeutungsgehalt. Der Satz ‚Peter ist Klassist‘ ist dann eine empirische Feststellung und kein Werturteil. Andererseits ist die Funktion dieses Ausdrucks und der Gebrauch, der von ihm gemacht wird, eindeutig moralisch. Es geht darum, etwas moralisch Schlechtes zu benennen und aufzudecken, das überwunden werden soll. Der Satz ‚Peter ist Klassist‘ ist so begriffen eine moralische Anklage, darin vergleichbar dem Satz ‚Peter ist Rassist‘.

Ein Kunstprodukt

Diese Zwitternatur zwischen wertneutraler wissenschaftlicher Deskription und moralischer Wertung verweist darauf, dass der Begriff ‚Klassismus‘ ein Kunstprodukt ist. Die Moral hat ihr Fundament in der Lebenswelt. Gemeint ist damit die Welt, wie sie erlebt wird, im Unterschied zu der Welt, die im Kopf, genauer: im urteilenden Denken konstruiert wird. Vorurteile, Diskriminierung, Unterdrückung, Geringschätzung und Verachtung sind Dinge, die Menschen erleben und erleiden, und hieraus speist sich ihre moralische Bewertung.

Das, was der Ausdruck ‚soziale Klasse‘ bezeichnet, ist demgegenüber nirgendwo in der Lebenswelt zu finden. Eine soziale Klasse kann nicht erlebt werden. Es handelt sich bei diesem Ausdruck um ein gedankliches Konstrukt zum Beispiel im Rahmen der marxistischen Theorie. Daher ist eine soziale Klasse auch kein möglicher Gegenstand von Vorurteilen, Diskriminierung, Unterdrückung, Geringschätzung oder Verachtung. Das alles gibt es nur innerhalb der Lebenswelt, und dort bezieht es sich auf Menschen aus Fleisch und Blut, zum Beispiel weil sie arm sind, und nicht auf ein begriffliches Abstraktum.

 Mit dem Begriff ‚Klassismus‘ wird ein gedankliches Konstrukt mit moralisch konnotierten Ausdrücken aus der Lebenswelt kombiniert. Damit wird ein neuer pseudomoralischer Sachverhalt geschaffen. Das eigentliche moralische Übel ist dann nämlich nicht die Diskriminierung der Armen durch die Reichen, sondern die Diskriminierung einer niedrigeren Klasse durch eine höhere. Die Diskriminierung der Armen durch die Reichen ist nur ein Beispiel dafür. Sie ist nicht deshalb ein Übel, weil Arme diskriminiert werden, sondern deshalb, weil sie Klassismus ist.

Marx würde im Grab rotieren

Nun kann man ausschwärmen und überall in der Gesellschaft nach Vorkommnissen suchen, die sich unter die (deskriptive) Definition des Klassismus subsumieren lassen, um sie dann moralisch anzuprangern und den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen. Dabei erweist es sich als Vorteil, dass die Bedeutung des Ausdrucks ‚Klasse‘ vage und unklar ist. Das macht diesen Ausdruck vielfältig verwendbar, so dass es nicht schwer ist, fündig zu werden. Das verhält sich nicht anders als beim Rassismus. So findet man auch in der evangelischen Kirche Klassismus. Dass in den kirchlichen Synoden Arbeiter und Arme weit unterrepräsentiert sind, liegt dann am Klassismus der bürgerlichen Kirchenmitglieder.

Irreführend ist der Klassismus-Begriff vor allem deshalb, weil mit ihm Probleme, die ökonomisch und sozial bedingt sind, zu moralischen Problemen stilisiert werden. Karl Marx würde im Grab rotieren, wenn er davon erfahren könnte. Dass von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien und armen Familien nur 21 ein Studium beginnen, nur 8 einen Masterabschluss erreichen und nur eine Person eine Promotion schafft, das liegt dann am Klassismus der Gebildeten und Bessergestellten. So einfach ist das. Das verbindet sich mit der falschen Hoffnung, es ließe sich eine gerechtere Gesellschaft allein dadurch schaffen, dass man den Klassismus moralisch bekämpft und ausrottet.

Das alles liegt in einem Trend. Wir leben in einer hochmoralischen Gesellschaft. Die Moral fungiert dabei als der große Vereinfacher in einer immer komplexer werdenden Welt. Hinzu kommt, dass es ein gutes Gefühl macht, sich selbst auf der Seite des Guten im Kampf gegen das Schlechte zu wissen und eine Mission zu haben, nämlich die Welt zu verbessern.  Aber um welche Welt geht es? Um die erlebte und erlittene Welt mit Menschen aus Fleisch und Blut? Oder um eine im Kopf konstruierte Welt? Der Klassismus ist eine Erfindung von Menschen, die sich die Welt im Kopf zurechtlegen. Der Kampf für eine bessere Welt wird dann nicht für die Armen geführt, sondern gegen etwas, das nur in den Köpfen von Intellektuellen existiert.“

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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