Rufe nach Frieden

Das Kriegslied des Matthias Claudius und der Ukrainekrieg
Graffito in Berlin-Kreuzberg im April 2023
Foto: Stephan Kosch
Graffito in Berlin-Kreuzberg, April 2023.

Mit Blick auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine hoffen viele Menschen auf einen militärischen Erfolg gegen Russland. So auch Hans-Jürgen Benedict, Prof. em. für diakonische Theologie in Hamburg. Doch verschreibt er sich als Pazifist und Kriegskind damit nicht der militärischen Logik, die schon Matthias Claudius in seinem „Kriegslied“ 1779 beklagt hatte? 

Mit den berühmten Zeilen „‘s ist Krieg“,‘s ist Krieg. O Gottes Engel wehre, /Und rede du darein/‘s ist leider Krieg und ich begehre/Nicht schuld daran zu sein!“ beginnt Matthias Claudius sein Kriegslied. Dieses 1779 anlässlich des bayrischen Erbfolgekriegs veröffentlichte Gedicht enthält eine deutliche Kritik an Sieg und Ruhm, die nichts sind angesichts der vom Krieg angerichteten Gräuel. Zum ersten Mal wird hier das Verhältnis des einzelnen zum Krieg ausdrücklich thematisiert. Der Einzelne, der den Krieg fürchtet, kann  einerseits nur die göttliche Macht zur Intervention auffordern, andererseits für sich allenfalls Schuldfreiheit reklamieren. Beides hängt aber dialektisch zusammen – der Engel Gottes ist der Statthalter des noch ohnmächtigen Einzelnen.

Eindrücklich  wie Claudius diesen Widerspruch gestaltet, das sprechende Ich wird heimgesucht von einem bedrängenden Gewissenstraum, in dem die Geister der Erschlagenen kommen und vor ihm klagen: „Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen/und blutig bleich und blaß/ Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,/Und  vor mir weinten, was? Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten, /Verstümmelt und halb tot/Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten/In ihrer Todesnot? Wenn tausend Väter, Mütter, Bräute, / So glücklich vor dem Krieg, / Nun alle elend, alle arme Leute, / Wehklagten über mich?“ Krieg bedeutet massenhaften grausamen Tod und schreckliches  Leiden. Der Dichter  beschönigt nichts, er stellt die Schrecken des Krieges so vor, wie eigentlich  diejenigen sie sehen müssten, die für sie Verantwortung tragen. Es ist ausgemalt wie eine Anklage im Jüngsten Gericht, wo sich auch die Könige und Generäle für ihre Untaten und Kriegsgräuel verantworten müssen.

Im Gewissenstraum imaginiert das poetische Ich das, was heute der Internationale Haager Strafgerichtshof versucht irdisch-zeitlich umzusetzen, wenn er Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen sucht. Und so jüngst den russischen Präsidenten Putin wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland. anklagte. Der Angsttraum, den der Dichter hat, redet den für die Leiden der Opfer Empfindungslosen ins Gewissen, ohne sie direkt anzusprechen. Ob der Einzelne, der begehrt nicht schuld am Krieg  zu sein, diese Schuldfreiheit bekommt, bleibt offen. Die Schlussstrophe lautet: „Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre/Die könnten mich nicht freuen!/‘s ist leider Krieg – und ich begehre/Nicht schuld daran zu sein!“ So redet das Kriegslied  den Nachgeborenen, auch uns Heutigen ins Gewissen, bleibt aktuell.

Manifest der Kriegskinder

Der Bayrische Erbfolgekrieg verlief glimpflich ohne größere Schlachten, wenn auch tausende der beteiligten Soldaten durch Seuchen und schlechte Ernährung zu Tode kamen. Schon am 13.Mai 1779  kam es auf Initiative der Kaiserin  Maria Theresia zum Frieden von Teschen. Claudius lobte ihre Friedensinitiative  in dem kurzen Gedicht Auf den Tod der Kaiserin, das er, als Maria Theresia, am 29.November 1780 starb, als poetischen Nachruf in die Hamburgische neue Zeitung setzte:

„Sie machte Frieden, das ist mein Gedicht.

War ihres Volkes Lust und Segen,

Und ging getrost und voller Zuversicht

Dem Tod als ihrem Freund entgegen.

Ein Welterobrer kann das nicht.

Sie machte Frieden! Das ist mein Gedicht.“

Das ruft nicht nur bei mir die Frage wach: Wie ist heute Frieden zu machen? Von Frieden ist momentan im Ukrainekrieg nicht die Rede. Alles wartet auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine. Eine hoffentlich erfolgreiche Offensive, die die Ausgangsbedingungen für Waffenstillstandsverhandlungen für die Ukraine verbessern soll.  Aber indem ich so rede, verschreibe ich mich da nicht der militärischen Logik, die Claudius beklagt?

Ich habe unter das „Manifest der Achtzigjährigen. Die Stimme der Kriegskinder zum Krieg in der Ukraine“, das Marianne und Reimer Gronemeyer verfasst haben, als einer von mehreren Erstunterzeichnern meine Unterschrift gesetzt.  Mehrere Tausend haben es bislang unterzeichnet. Auch hier wird zu Beginn das Kriegslied von Claudius zitiert, Ausgehend von den Kriegserfahrungen in den Bombenkellern Deutschlands, unserer Angst vor den alliierten Bombenangriffen, die wir erst später  als  notwendige tödliche Befreiung vom Hitlerfaschismus verstanden, wollte das Manifest sowohl an das Leiden der der ukrainischen Kriegskinder unter den russischen Raketenangriffen erinnern als auch eine Alternative  zu den ständigen erhöhten Waffenlieferungen des Westens an die sich tapfer verteidigenden Ukrainer und zu der Position des Siegfriedens aufzeigen. „Wir fürchten uns vor den Furchtlosen, die erst den Krieg gewinnen wollen, um dann Frieden zu machen“, sagt das Manifest. Es kritisiert die öffentlichen Meinungsmacher, die „die Hoffnung auf Versöhnung  mit dem Gegner als Ideologie der Schwächlinge diffamieren. Sie nennen diejenigen, die Bedenken tragen gegen den Einsatz von immer mehr Waffen, verächtlich Zauderer; diejenigen, die Kompromisse erwägen, werden als Verräter gebrandmarkt, die Vorsichtigen nenn sie feige, die Besorgten schwächlich und die Pazifisten traumduselig.“ Gegen diese  Mehrheitsmeinung erinnert das Manifest  an „die große Tradition der Friedensstifter, die mit einem Handstreich für erledigt erklärt wird.“ Es bestreitet, dass „das ganze Gute“ auf Seiten der westlichen Allianz ist und „das ganze Böse jenseits der Demarkationslinie“, weist auf den Anteil des Westens an der Eskalation  hin (die NATO- Osterweiterung) und plädiert für einen ersten Schritt auf den Feind zu.

Chance des ersten Schritts

Ausgangspunkt für das Manifest war das Erschrecken über die von der Mehrheit der Politiker und der Medien (und auch von Bevölkerung) befürwortete Haltung, ganz schnell vor allem  auf militärische Unterstützung der Ukraine zu setzen. Sigmund Freud hat in seinem Brief „Warum Krieg?“ an Albert Einstein 1932 geschrieben, wir seien kulturell so zivilisiert, dass wir den Gedanken der Lösung von Konflikten mittels eines Kriegs eigentlich überwunden haben. Deswegen sind wir Pazifisten. Aber die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist noch nicht so weit wie unsere individuelle, deswegen wird es vorerst weiter Kriege geben. Nach dem 2.Weltkrieg und dem Ende des Kalten Kriegs entstand jedoch nach Jahrzehnten der Hochrüstung auf beiden Seiten eine europäische Friedensordnung, die auf Abrüstung und Zusammenarbeit setzte, was unter anderem auch das Ergebnis einer starken westlichen Friedensbewegung in den 1980er-Jahren war.

Diese Entwicklung ist mit dem russischen Angriff auf die Ukraine vorerst beendet. Das ist zu beklagen. Aber gegen eine resignative Haltung ist das Ziel einer friedlichen Lösung von Konflikten weiter hochzuhalten, was in dem Manifest mit dem Hinweis auf große Pazifisten auch geschieht. Es wollte mit diesem Festhalten an der Chance von ersten unilateralen Schritten auch zu Diskussionen anregen.

Kann dies in dem Fall von Putins Rußland Aussichten auf Erfolg haben? Eine illusionslose Betrachtung der russischen Politik seit 15 Jahren zeigt, dass trotz der wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Westen über Gaslieferungen etc. die Rückkehr zu imperialen Zielen nicht aufgegeben wurde. Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Kriegserfahrung der heute über 80jährigen in den Bombenkellern für den Ukrainekrieg? Nazi-Deutschland konnte nur durch massive Bombenangriffe und durch die für die Alliierten verlustreiche Eroberung seines Territoriums niedergezwungen werden. Auch berühmte Pazifisten wie Russell und Albert Einstein teilten die Anschauung, dass  Nazideutschland nur militärisch besiegt  werden konnte.

Raketen und Munition

Der Aggressor Russland ist zwar nicht Nazideutschland, aber ein Akteur, der offensichtlich nicht gesprächsbereit ist und den Krieg gegen die Ukraine unbegrenzt fortführen will (trotz des Weizenabkommens). Die bislang durch den Krieg hervorgerufenen Schäden sind immens. Viele zerstörte Städte, Zehntausende von Toten auf beiden Seiten, sieben  Millionen Ukrainerinnen auf der Flucht. Putins Armee muss deswegen  daran gehindert werden, weiter schutzlose Zivilisten anzugreifen, Städte wie Mariupol und  Bachmut in Trümmerhaufen zu verwandeln und für Putins  Kriegsziele, die Auslöschung der Ukraine und die Erweiterung seines  Imperiums, bedenkenlos zehntausende von jungen Soldaten zu opfern. Und damit auch die sich verteidigende Ukraine zu großen Opfern an Menschenleben und zur Hinnahme der Zerstörung von Infrastruktur zu zwingen. Das von diesem Krieg ausgehende Leiden schreit gen Himmel. Eine die Russen aufhaltende Strategie geht vorerst nur mit der Bereitstellung effektiver Raketenabwehrsysteme und mit Munitionslieferungen, die den Gegner stoppen oder sogar zurückdrängen können, ohne eine Ausweitung des Konflikts in Richtung Einsatz von Atomwaffen zu provozieren. Eine militärisch erfolgreiche Verteidigung der Ukraine ist nicht möglich ohne die Unterstützung der USA, auch wenn diese damit  auch ihre Vormachtstellung absichern will.

Ebenso wichtig ist die Unterstützung der Ukraine durch die europäischen Länder, so Rußland zeigend, dass eine europäische Friedensordnung die Bereitschaft einschließt, diese Ordnung notfalls militärisch zu verteidigen. Diese militärische Verteidigung soll aber nur ein Zwischenschritt sein auf dem Weg, friedliche Lösungen zu finden  Diese besteht in der Implementierung von gewaltfreien Konfliktlösungen wie der Sozialen Verteidigung eines Landes, dem Verzicht auf Angriffskriege  und in der Etablierung von Friedensordnungen wie der KSZE.

Papst und Patriarch

Wieder sind Ende April russische Raketen und Marschflugkörper in Kiew und anderen Orten eingeschlagen, haben Tote gefordert und massive  Zerstörungen angerichtet. Bei jedem Angriff denke ich an Alina und ihre Tochter Polymniana, die nach ihrer Flucht im März 2022 drei Monate bei uns gelebt haben und dann nach Kiew zurückgekehrt sind: hoffentlich ist ihnen nichts passiert.  Die Toten und Verletzten klagen vor uns und rufen nach Frieden, sagt Claudius‘ Gedicht. Zu den Merkpunkten einer mit der angegriffenen Ukraine solidarischen Politik gehört auch die Abwägung darüber, ob die fortgesetzte militärische Verteidigung nicht zu große Opfer an Menschenleben und an Zerstörung der Infrastruktur nach sich zieht. Wenn dies der Fall sein sollte, müsste der Westen auch auf die Ukraine einwirken, in Waffenstillstandsverhandlungen einzutreten, selbst wenn ein möglicher Frieden nicht alle ukrainischen Ziele garantiert. Diplomatische Initiativen sind vonnöten, dazu gehört auch die Erwägung von Papst Franziskus mit Patriarch Kyrill ins Gespräch zu kommen.

Dieser Druck könnte notfalls auch in Form der Einstellung von Militärhilfe geschehen. Es kann ja nicht Ziel der Unterstützung der Ukraine sein, die Zerstörung ganzer Städte hinzunehmen, nach dem Motto „OP erfolgreich, Patient tot.“ Russland muss sich zurückziehen aus den besetzten Gebieten, das ist das maximale Ziel. Falls es nicht ganz erreicht wird und Teile ukrainischen Gebiets unter Russlands Einfluss bleiben sollten, lehrt die Geschichte, dass Besetzungen fremder Länder nicht für ewig waren, sondern  immer noch ein Ende gefunden haben. Ich weiß, das lässt sich von der sicheren Bundesrepublik aus leicht sagen und ist kein Trost für die jetzt unter dem Krieg Leidenden. Trotzdem gilt es fest zu halten an der Hoffnung:  „Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“ (B.Brecht) 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"