pro und contra

Ein verpflichtendes Dienstjahr für alle?

Carsten Linnemann
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Linda Teuteberg
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Wäre ein verpflichtendes Dienstjahr für alle jungen Menschen ein richtiger Schritt zu mehr Gemeinsinn und gegen Nachwuchsmangel in vielen Bereichen? Ja, sagt Carsten Linnemann, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender der CDU. Ihm widerspricht die Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg, Mitglied des FDP-Parteivorstandes und der EKD-Synode.

Gemeinsames Fundament

Ein Gesellschaftsjahr wirkt den Fliehkräften entgegen
 

Mit einem Dienstjahr würden wir klarmachen, dass der Staat keine Bestellplattform ist, sondern dass unser demokratisches Gemeinwesen auf das Engagement aller angewiesen ist.

Seit mehr als einem Jahr hält uns der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in Atem. Angesichts der schlimmen Ereignisse denke ich oft an meine Zeit bei der Bundeswehr zurück. Wie dankbar können wir sein, dass in Deutschland seit Jahrzehnten kein Krieg herrscht. Zugleich führt uns der Krieg schonungslos vor Augen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist.

Während meiner Wehrdienstzeit im Jahr 1997 ereignete sich die verheerende Oderflut. Als der Ruf nach Unterstützung kam, machte ich mich mit vielen anderen Soldaten auf den Weg ins Katastrophengebiet. Tage- und nächtelang wuchteten wir Sandsäcke. Ich erinnere mich noch, wie kräftezehrend dies war. Aber ich weiß auch, dass die gemeinsame Anstrengung etwas im positiven Sinne mit uns machte. Kameraden aus allen Ecken Deutschlands und aus unterschiedlichen Milieus zogen an einem Strang. Am Anfang nahm ich den Wehrdienst als eine Pflichtübung an. Doch spätestens mit diesem Einsatz änderte sich meine Einstellung. Ich habe zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren, wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, dass man sich unterhakt. Ich habe gelernt, was Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenhalt bedeuten. Ich habe in dieser Zeit auch zum ersten Mal begriffen, wie sinnstiftend es ist, sich für andere Menschen einzusetzen.

Auch wenn die Geschehnisse während der Oderflut nicht vergleichbar sind mit dem derzeitigen Leid in der Ukraine, so sehen wir doch gerade dort sehr eindrücklich, welche Kräfte Zusammenhalt freisetzt. Fakt ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der zunehmend Fliehkräfte wirken. Die Digitalisierung verführt zu einem physischen Rückzug in die eigenen vier Wände und eigene Gedankenwelten. Oft tauschen wir uns nur noch dort aus, wo wir uns in unserer eigenen Meinung bestärkt sehen. Gleichzeitig werden unsere Wirklichkeiten pluralistischer, etwa durch die Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen. Ein solcher Pluralismus kann für eine Gesellschaft bereichernd sein, aber auch herausfordernd. Denn wo Menschen mit unterschiedlichen Werten und Lebensvorstellungen zusammenleben, lassen Bindekräfte nach und Konflikte treten auf.

Wir benötigen daher ein gemeinsames Fundament, das die Gesellschaft trägt und Vertrauen schafft. Ein solches Fundament wäre für mich ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Dieses Jahr – das nebenbei bemerkt kein ganzes Jahr sein muss – könnte beispielsweise bei der Bundeswehr, im Katastrophenschutz, in der Pflege oder auch im Ausland durchgeführt werden. Ein Gesellschaftsjahr wäre ein kraftvolles Instrument, um der zunehmenden Anonymität und Polarisierung entgegenzuwirken. Wir würden als Staat zeigen, für welche Kultur und welches Miteinander wir stehen. Wir würden damit entscheidende Weichen stellen für sozialen Frieden, Toleranz, Sinnstiftung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir würden klarmachen, dass unser Staat keine Bestellplattform ist, sondern dass unser demokratisches Gemeinwesen auf das Engagement aller angewiesen ist.

Der Vorteil eines verpflichtenden gegenüber einem freiwilligen Gesellschaftsjahr besteht darin, dass wir nur so auch diejenigen erreichen können, die von einem solchen Dienst besonders profitieren könnten. Etwa junge Menschen, die sich wegen ihres sozialen Umfeldes oder auch aufgrund ihres Migrationshintergrundes ausgeschlossen fühlen. Mit einem freiwilligen Dienst würden wir eher diejenigen erreichen, die längst wissen, dass sie durch ihr Tun einen Wert schaffen.

Ein Gesellschaftsjahr wäre nur durch eine Grundgesetzänderung umsetzbar. Dabei steht das Recht auf Freiheit, das in unserem Grundgesetz verankert ist, nicht zur Disposition. Jedoch bedeutet Freiheit für mich mehr als individuelle Freizügigkeit. Die Freiheit des Einzelnen können wir auf Dauer nur im Rahmen von gesellschaftlichem Frieden und demokratischen Werten gewährleisten. Beidem kann ein Gesellschaftsjahr dienen.


Untauglicher Ersatz

Die Wertentscheidung des Grundgesetzes widerspricht einem verpflichtenden Dienstjahr

Wir sollten auch in schwierigen Zeiten unsere Verfassung bewahren.

Das Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann: Es wird oft zitiert, aber selten wirklich beachtet. Darüber, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt und bewahrt werden kann angesichts vielfältiger Anfechtungen von innen und außen, lohnt es, nachzudenken und zu streiten.

Verstärkt wird seit einigen Jahren die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr erhoben. Um die Wehrpflicht soll es hier gerade nicht gehen. Sie ist ausgesetzt und kann wieder eingeführt werden, wenn dies verteidigungspolitisch geboten sein sollte. Letzteres ist angesichts der außen- und sicherheitspolitischen Situation nicht auszuschließen. Doch auch Experten der Bundeswehr halten es derzeit weder für sinnvoll noch praktisch durchführbar, erneut eine Wehrpflichtigenarmee zu organisieren.

Wichtig für die Debatte um eine Dienstpflicht ist indes die Wertentscheidung unserer Verfassung, die hier zum Ausdruck kommt: Dass nämlich jenseits des Zweckes der Landesverteidigung und ihrer Erfordernisse kein Raum ist für einen verpflichtenden, ja einen Zwangsdienst. Dass selbst die Mütter und Väter des Grundgesetzes angesichts der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer solchen Wertentscheidung kamen, sollte alle nachdenklich machen, die schnell Allgemeinplätze wie „Freiheit ist nicht grenzenlos“ entgegenhalten. Unsere Verfassung will Individuum und Gemeinsinn nicht gegeneinander ausspielen, sondern betont aus historischer Erfahrung Würde und Rechte des Einzelnen, der in Freiheit Verantwortung übernimmt.

Werte wie Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme und Pflichterfüllung zu vermitteln, ist Aufgabe von Erziehung und Wertevermittlung in Familie, Bildungseinrichtungen und Gesellschaft ohne staatliche Zwangsdienste. Eine Dienstpflicht ist untauglich als Ersatz dafür, Defizite und Versäumnisse bei Bildung und Integration zu kompensieren. Erst recht nach all den Entbehrungen und Zumutungen, ja realen Schäden, die junge Menschen im Zuge der Pandemie erlitten haben, ist es zudem ein problematischer Zungenschlag, dass gerade junge Menschen der Gesellschaft etwas geben müssten. Viele von ihnen engagieren sich bereits freiwillig. Entscheidend aber ist, dass man sich ein ganzes Leben freiwillig ehrenamtlich engagieren kann und sollte. Als staatsbürgerliche Normalität neben und zusätzlich zu Ausbildung, Studium und Erwerbsarbeit. In verschiedenen Lebensphasen mit ihren familiären und beruflichen Erfordernissen in unterschiedlichem Maße, aber eben nicht symbolisch begrenzt auf ein verpflichtendes Jahr.

Der Ruf nach einer Dienstpflicht ist auch Ausdruck einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit und einfachen Lösungen. Übrigens etwas, das man sonst gern Populisten vorwirft. Dabei werden regelmäßig die Augen verschlossen vor Auswirkungen an anderer Stelle. Angesichts der demografischen Entwicklung junge Menschen systematisch ein weiteres Jahr von Ausbildungs- und Berufsbeginn abzuhalten, reißt Lücken und zeitigt reale Probleme an anderer Stelle. Demokratie ist kein Versandhaus, kein Pizzadienst. Was wir daher benötigen in unserer Gesellschaft, ist mehr Wertschätzung, zum Teil überhaupt Respekt für Engagement. Gerade für langfristiges Engagement und nicht nur für oder gegen ein Thema, das die eigenen Interessen besonders berührt. Für das schwierige, Frustrationstoleranz erfordernde friedliche Ringen um demokratische Mehrheiten.

Auf die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt brauchen wir bessere Antworten und keine Ablenkungsmanöver oder Profilierung auf Kosten der jungen Generation. Wir sollten auch in schwierigen Zeiten die Fassung wahren und unsere Verfassung achten. Engagement braucht keine Grundgesetzänderung. Das Grundgesetz gibt uns den Auftrag, gesellschaftlichen Zusammenhalt ohne eine allgemeine Dienstpflicht zu organisieren.

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Carsten Linnemann

Dr. Carsten Linnemann ist Diplom-Volkswirt, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender der CDU.

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Linda Teuteberg

Linda Teuteberg ist Bundestagsabgeordnete, Mitglied des FDP-Parteivorstandes und der EKD-Synode.


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