Lange Streitgeschichte

Die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen beleuchtet ein Menschheitsthema
Das Historische Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen wirbt für die Jahresausstellung.
Fotos: Hans-Jürgen Krackher
Das Historische Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen wirbt für die Jahresausstellung.

Wie zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen sozialen und politischen Kontexten gestritten wurde, dieser Frage  widmet sich die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale. Und sie beleuchtet, wie Konflikte in die Öffentlichkeit getragen und verbreitet wurden und werden. zeitzeichen-Redakteurin Kathrin Jütte hat bei einem Rundgang Kurioses entdeckt.

Die Vorgeschichte: Es war im Sommer 1721, als der Mathematikprofessor Christian Wolff, scheidender Prorektor der Friedrichs-Universität zu Halle an der Saale, eine akademische Festrede hielt. Gemäß seinem universalen Anspruch hatte sie den Konfuzianismus zum Thema. Doch sein Lob der als atheistisch anerkannten Chinesen rief die pietistischen Theologieprofessoren Halles um August Hermann Francke auf den Plan. Mit großer Mühe konnte zunächst die Verbreitung der Rede unterbunden werden. Doch die Auseinandersetzung fand Einlass in den Studienbetrieb und eskalierte durch die Verbreitung von Streitschriften, Briefen und Drucken.

Was folgte war ein beispielloser Disput, der 1723 dazu führte, dass Wolff vom preußischen König unter Androhung der Todesstrafe des Landes Brandenburg-Preußen verwiesen wurde. Wer dachte, der Konflikt sei damit aus der Welt, wurde eines Besseren belehrt, denn mit seiner Flucht stieg das öffentliche Interesse. In rund 300 Veröffentlichungen stritten seine Verteidiger und seine Gegner darüber, ob er zu Recht oder zu Unrecht der „Atheheisterey“ beschuldigt worden war.

Heute, 300 Jahre später, nehmen die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale im Historischen Waisenhaus eine der größten publizistischen Auseinandersetzungen in der Frühen Neuzeit zum Anlass, der streitbaren Auseinandersetzung auf die Spur zu kommen. „Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute“ heißt die Jahresausstellung der Stiftungen, die bis zum 4. Februar 2024 in der Saale-Stadt zu sehen ist. Das komplexe Thema der Grenzen des Sagbaren vermittelt das interdisziplinäre Hallenser Kuratorenteam in den Zeitebenen des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart sehr eindrucksvoll. Es geht dem Phänomen in verschiedenen sozialen Kontexten nach und beleuchtet in jeweils drei historischen und zeitgeschichtlichen Streiträumen, wie sich die Konfliktsituationen jeweils in der Öffentlichkeit darstellen und verbreiten.

Vom Lästerstein bis Twittertweet

Im Raum der „Streitarena Universität“ empfängt den Besucher die wandgroße Reproduktion eines Kupferstiches aus dem Jahr 1723, die einen Prorektoratswechsel im großen Hörsaal im Gebäude der Ratswaage am Markt zeigt. Darauf platziert sind kleine grüne und gelbe Sprechblasen mit Zitaten, die an heutige Twittermeldungen erinnern. An den Wänden heißt es „pereat Wolff vivat Lange“ (Nieder mit Wolff, es lebe Lange!), „vivat Wolff pereat Lange“ (Nieder mit Lange!). So gerieten die Studierenden zwischen die Fronten; es wurde Buch über Lehrveranstaltungen geführt und „Anstößiges Verhalten“ wie die Teilnahme an Kundgebungen vermerkt: Darauf weist ein Eintrag aus dem Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät zu dem Studenten Jacob Carpov hin, der „bey dem ProrectortatsWechsel in der Stadt herum gezogen“ ist. Auch wird dokumentiert, wie August Hermann Francke versuchte, die Theologiestudenten in einer Vorlesung von der Richtigkeit des Geschehens zu überzeugen. Wie sich dieser Streit verschärfte, alle Parteien zunächst zwar stichelten, aber oberflächlich versuchten, nicht gegen die kodifizierten Regeln der Universität zu verstoßen, dann aber eine Flut von Veröffentlichungen einsetzte, die Parteien zu immer verzweifelteren Mitteln bis zur persönlichen Anschwärzung griffen, davon erzählt dieser Raum. Erkennbar werden so die vielen Ähnlichkeiten zu heute ausgetragenen Kontroversen, und es wird deutlich: Streit gehört als anthropologische Grundkonstante zum menschlichen Dasein. Überraschend ist jedoch die Derbheit, mit der seinerzeit in gelehrten Kreisen formuliert wurde, weit davon entfernt, nur philosophische oder theologische Argumente auszutauschen. Die Ahnung steigt auf, dass die Entwicklung des Streitens in Vergangenheit und Gegenwart kaum einen Unterschied ausmacht.

„Die heute von vielen Menschen vielfach als verroht empfundene Streitwelt hat eine lange Vorgeschichte der Grenzübertretungen, des Schmähens, des Herabsetzens“, erläutert bei einem Rundgang Holger Zaunstöck, einer der Kuratoren der Ausstellung. Deshalb sei es dem Ausstellungsteam ein besonderes Anliegen, „soziale, mediale, sprachlich-rhetorische und körperliche Mechanismen sowie Folgewirkungen“ aufzuzeigen. „Wissenschaftlich zugrunde liegt der Ausstellung das Konzept der ‚Invektivität‘, um historische wie gegenwärtige Streitkulturen zu analysieren“, so Zaunstöck. An der Universität Dresden wurde das Modell entwickelt, das die Dynamiken der Herabsetzung, des Phänomens der Schmähungen, Beleidigungen und Herabwürdigungen in den Fokus rückt. „Das Modell vermag plausibel zu machen, dass sich Streiten in der Regel öffentlich vollzieht und dass der öffentliche Charakter zugleich auf den Streit selbst zurückwirkt“, schreibt Gerd Schwerhoff in seiner Einführung im Ausstellungskatalog.

Streit um die Hosen

Co-Kuratorin Claudia Weiß führt in den nächsten Raum der Ausstellung, die „Streitarena Marktplatz“. Gerade dort kam es beim Handeln und in Gesprächen zu Meinungsverschiedenheiten, die sich in verbalen oder körperlichen Attacken äußerten. Drei besondere Exponate der Frühen Neuzeit stechen hier ins Auge: Da ist zunächst ein mächtiger, hölzerner, fast tonnenartiger Schandmantel aus dem Jahr 1775. Ringsum bemalt illustriert er die Streitsituationen seiner Zeit mit ihren Exzessen und Handgreiflichkeiten. Des Weiteren ausgestellt sind eine sogenannte Schandmaske in Form einer Teufelsfratze und die sogenannten Lästersteine. Sie legen beeindruckendes Zeugnis ab von den Ehren- und Schandstrafen, die für das Streiten mit Gott, Fluchen, Lästern oder unehrliche Geschäftspraktiken damals verhängt wurden.

Auch wurden auf dem Marktplatz aufsehenerregende Streitfälle mittels Flugschriften oder Druckgrafiken an den Mann oder die Frau gebracht. Das Hauptaugenmerk liegt in diesem Ausstellungsraum auf geschlechts- beziehungsweise genderbezogenen Auseinandersetzungen und ihrer Verbreitung. So berichtet Claudia Weiß von dem „Streit um die Hosen“, einem schon seit dem 14. Jahrhundert vor allem im mitteleuropäischen Raum verbreiteten Erzähl- und Bildmotiv. „Zwei Darstellungsstränge entwickelten sich, entweder stritt ein Ehepaar um die Hose oder mehrere Frauen rangen um sie“, erläutert Historikerin Weiß. Schon immer war es ein Streit um Macht und Entscheidungsgewalt, wie Holzschnitte, Kupferstiche und eine Federzeichnung aus dem 18. und 19. Jahrhundert eindrücklich belegen.

Wie fließend die Grenze zwischen Sachkritik, persönlichen Angriffen und Verunglimpfungen verlaufen kann, lässt sich in der „Streitarena der Höfe“ demonstrieren. Das Beispiel von Voltaire und Friedrich II. zeigt, dass sowohl Voltaire als auch Friedrich II. einerseits für eine argumentenbasierte Kultur des Streitens eintraten, sogar eine Schrift dazu verfassten. Sie waren sich jedoch nicht zu schade, das Mittel der Schmähung und der Herabsetzung angriffslustig einzusetzen. Originaldrucke, seltene Grafiken und eine Hörstation vermitteln das imposant. In diesem Zusammenhang steht auch ein kostbares Miniaturporträt von Friedrich II., das diesen im Siebenjährigen Krieg als Feldherrn zeigt.

Multimediale Streitperformance

Und heute? Wo liegen die Grenzen des Sagbaren? Wo endet eine konstruktive Diskussion, wo beginnen Beleidigungen und Herabsetzungen? Die öffentlichen Streiträume haben sich verändert und mit ihnen auch die Streitsituationen, die sozialen und medialen Bedingungen. Den drei historischen Streitarenen hat das Hallenser Kuratorenteam deshalb nun drei zeitgenössische multimediale Arenen gegenübergestellt, welche die Geschichte spiegeln. Zunächst können die Besucher an einer Karaoke-Station selbst ins Streiten kommen und aus filmisch inszenierten Streits von „Polizeiruf“ bis „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die Rollen übernehmen.

Prägnante Beispiele aus Kino, Fernsehen und Social Media zeigen in dem „Screen“ genannten Raum, dass die visuelle Streitkultur längst keine Erfindung von heute ist. Auf einer Kinoleinwand mit Filmszenen aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Battle of the Century“ begreift der Betrachter rasch, wie Gesten, Mimiken und Posen die „Tiefenstruktur“ heutiger Darstellungen ausmachen. Dazu gehört auch die Talkshow der 1990er-Jahre, in der sich die deutsche Girlgroup Tic Tac Toe eine Streitperformance liefert und sich vor laufender Kamera trennt. Die Neuzeit steht in diesen Traditionen, Medienstationen vermitteln aktuelle Auseinandersetzungen im Kino-, Video-, Fernsehen- oder Handyformat.

Plötzlich steht der Besucher in einem Fußballstadion. Es öffnet sich als beengter Raum zwischen zwei Fankurven, an Bauzäunen sind Exponate angebracht. Im Mittelpunkt der Streit der Fans, im Stadion, in Blogs und auf den Social-Media-Fankanälen. Spürbar wird: Die Prozesse des Schmähens und der Grenzüberschreitungen verlaufen nicht nur zwischen den Fans und den Mannschaften, sie richten sich auch gegen Dritte, wie den DFB oder den Finanzchef von RB Leipzig.

Am Ende offenbart sich in der Hallenser Ausstellung eindrucksvoll: Die Streitkultur ist zutiefst menschlich, in Muster und Mechanismen keineswegs neu. Kurator Zaunstöck präzisiert: „Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Streitkultur, die wir pflegen, von uns selbst gemacht ist. Die Regeln sind nicht in Stein gemeißelt oder göttlich, sondern wir Menschen machen sie selbst, in unserer eigenen Gegenwart und Zeit“.

Eindringlich gestaltet hat das Kuratorenteam das komplexe Menschheitsthema Streit auf den Punkt gebracht. Schon am Eingang wird die Quintessenz veranschaulicht. Von einem historischen Paradeschlitten geblieben ist ein kunstvoll geschnitzter menschlicher Kopf, umschlungen von einem gefederten Vogelhals zwickt er sich selbst in die Nase. Es ist der „Vogel Selbsterkenntnis“. 

 

Informationen:

Die Franckeschen Stiftungen sind eine von sechzig Institutionen, die sich angesichts von Herausforderungen wie Migration, Klimawandel, Zukunftsangst, Extremismus und Wirtschaftskrisen mit kulturellen Programmen am Themenjahr „Streitkultur und Zusammenhalt“ der Stadt Halle an der Saale beteiligen www.themenjahre-halle.de). Die Ausstellung selbst begleiten ein ansehnlicher Katalog sowie ein umfangreiches Jahresprogramm (www.francke-halle.de/de/ausstellung/streit).

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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