Dumm? Klug? Oder Gottes Urteil?

Unser Erkennen ist Stückwerk
Morgendämmerung.
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Morgendämmerung.

Die Journalistin Antje Schrupp prangerte in ihrer jüngsten Kolumne auf zeitzeichen.net Dummheit an. Das regt Annette Weidhas, promovierte Theologin und Programmleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) aus Leipzig, zu Widerspruch, Zustimmung und weiterführenden Überlegungen an.

Zur Dummheit neigen wir alle, nur geht es dabei immer um die Dummheit der anderen. Dummheit sei eine »gefährliche Art und Weise, der Welt zu begegnen« und auch »sehr gebildete Menschen können dumm sein, wie schon Hannah Arendt betonte«, zitiert Antje Schrupp in ihrer zeitzeichen-Kolumne vom 6. April die Philosophin. In der Tat beklagt Arendt bei Eichmann empörende Dummheit und Gedankenlosigkeit und fragt sich, ob Denken davor bewahren könne, Böses zu tun.

Eher nicht, schaut man auf Arendts große Liebe Martin Heidegger. Denken konnte der Mann. Leider dachte er jedoch unter anderem, in Hitlers Reich der neue Staatsphilosoph werden zu können. Und dachte falsch. Die »gefährliche Art und Weise, der Welt zu begegnen« ist offenbar weniger mit Dummheit als mit einer Art Wirklichkeitsblindheit verbunden. Grund solcher Wirklichkeitsblindheit ist zumeist Selbstsucht, ideologische Verfangenheit und Überheblichkeit – letztlich Gottesvergessenheit, die Christen Sünde nennen. Wir wollen uns selbst entwerfen und selbst bestimmen. Wir wollen selbsttätig sein, selbstwirksam, Spuren in der Welt hinterlassen. Das ist gut und nötig. Leider schlägt dieses Streben schnell um, wenn wir dafür den Falschen nachlaufen, um jeden Preis mitmachen wollen oder uns andersherum um jeden Preis absondern, aus Prinzip quertreiben und alle anderen außer uns selbst für dumm halten.

Dann geschieht, was Dietrich Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen von 1944 beschreibt und Antje Schrupp als Beleg ihrer Argumentation anführt: »Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch.« Aber ist der Dumme wirklich dumm?

„Wir sind alle fehlbar“

Bonhoeffers Sentenz über die Dummen habe ich in jungen Jahren ebenfalls zitiert. Bis ich bemerkte, auch schon zu denen gehört zu haben, die erst im Nachhinein klüger waren. Wir sind alle fehlbar und nur ganz selten »wahre Propheten«. Denn das Dumme ist, dass Verschiedenes von verschiedenen Menschen in verschiedenen Zusammenhängen als dumm angesehen wird. Irren ist menschlich, vor allem, wenn es um die Zukunft geht. Zukunft ist eben nicht von uns machbar, sondern prinzipiell offen. Zudem sind wir alle verführbar. Jeder sollte sich hüten zu meinen, er sei es in keiner Hinsicht. Einige Beispiele sollen illustrieren, was ich meine:

Ich trete für Waffenlieferungen an die Ukraine ein. Aber ich schätze durchaus einige gar nicht dumme Menschen, die hier Vorbehalte haben, und streite mich mit ihnen. Als überzeugte Atlantikerin sehe ich nicht, wie Europa ohne die angelsächsisch dominierte westliche Welt mit den USA als Führungsmacht mit China, Russland und der wachsenden Zahl sonstiger Despotien zurechtkommen will.

Das Problem ist alt. Schon Martin Heidegger sah im „Amerikanismus“ die „eigentlich gefährliche Gewalt der Maßlosigkeit, weil er in der Form der demokratischen Bürgerlichkeit und gemixt mit Christentum auftritt, und alles dieses in einer Atmosphäre der entschiedenen Geschichtslosigkeit“. Den Krieg zwischen Nazideutschland und den USA stilisiert er zum riesenhaften Entscheidungskampf zwischen schicksalhafter Geschichtlichkeit und katastrophaler Geschichtslosigkeit.

„Am liebsten die US-Flagge verbrannt“

Gut, kann man sagen, das war Heidegger – einer, der sich den Nazis angedient hat. Aber dieses Denken, das nicht von Heidegger erfunden wurde, wirkt nach – rechts wie links. Im Juni wird bei der Evangelischen Verlagsanstalt anlässlich ihres 20. Todestages eine kritische Würdigung Dorothee Sölles von Konstantin Sacher erscheinen: Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherung an eine Ikone des Protestantismus. Hier kann man nachlesen, wie Sölle amerikanische Richter mit den Nazis verglich und am liebsten die US-Flagge verbrannt hätte. Sie kritisierte in den 1980er-Jahren scharf, dass Westdeutschland ein von den USA besetztes Land ohne Friedensvertrag sei und wendete sich dann gegen die Wiedervereinigung.

Sölle unterschrieb am 2.12.1989 den Aufruf »Für euer Land, für unser Land«. Dort heißt es: »Eine Vereinigung beider Staaten würde Deutschland zur europäischen Vormacht werden lassen. Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserem Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden, wenn sich die Kräfte des Kampfes um den Weltmarkt und nicht die für eine humane Gestaltung menschlichen Lebens durchsetzten. Deshalb stellen wir uns gegen alle Versuche der Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik an Eure Seite.« Was soll man dazu sagen? Neben Dorothee Sölle unterschrieben auch Karl Bonhoeffer, ein Neffe Dietrich Bonhoeffers, und Helmut Gollwitzer. Alles Dumme?

Zurück in Bonhoeffers Zeit: In der Tat lag ein großer Teil der deutschen Elite völlig falsch in ihrer Hoffnung, die Nazis würden sich schon sortieren, heißt zivilisieren, und nicht die Dummheit begehen, die damals schon auf internationale Beziehungen angelegte Wirtschaft Deutschlands zu zerstören. Das war ein Irrtum. Exakt denselben Irrtum aber begingen kürzlich die deutschen Eliten wieder – nun in Hinblick auf Russland. Merkel, Steinmeier, Linder – alles Dumme? Von der Partei Die Linke und der AfD nicht zu reden, auch nicht von Schröder, der Mitglied der SPD bleiben darf trotz seines Freundes Putin, der schlicht ein Mörder ist und der Pate einer mafiösen Staatsform. Bis auf ganz wenige wie den CDU-Politiker Norbert Röttgen hörte niemand auf die Warnungen vieler Osteuropäer. Und las schon gar nicht in den Geschichtsbüchern, die hinlänglich dokumentieren, wie sich Imperatoren noch nie um das Wohlergehen ihres Volkes gekümmert haben.

„Millionen dem Hungertod preisgegeben“

Als manche Deutsche 1932/1933 noch dachten, Hitler einhegen zu können, gab Stalin Millionen seiner Landsleute dem Hungertod preis. Der Holdomor forderte allein in der Ukraine bis zu vier Millionen Tote. Für Maos Kulturrevolution in den 1960er und 1970er Jahren gibt es keine sicheren Zahlen für die unzähligen Toten und Gequälten, von Pol Pot nicht zu reden. Bis heute interessieren sich afrikanische und lateinamerikanische Diktatoren nicht für ihre Völker. Wir aber glaubten, Putin wolle Russland – mit unserer Hilfe – aufbauen. Wie kamen wir auf diese sonderbare Idee? Waren Selbstüberschätzung und Realitätsverlust schuld? Ist der Begriff »Zeitenwende« nur eine Ausflucht? Ja. Die Zeiten haben sich nicht geändert. Wir dachten das nur einige Jahrzehnte lang – bis zum 24. Februar 2022.

Aber gehen wir weiter: Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass die Coronaimpfungen insgesamt richtig waren, bin aber dann doch froh, dass es nicht zu einer allgemeinen Impfflicht kam, wie ich sie kurzzeitig befürwortet habe. Denn wir wissen inzwischen, dass die Impfung nicht vor Ansteckung schützt, es mehr Impfschäden gab als vermutet und Post-Vac ähnliche Auswirkungen hat wie Long Covid. Gegen Schulschließungen und andere Panikreaktionen war ich immer, aber soll ich darauf stolz sein? Mit Dummheit oder Klugheit hat das nichts zu tun, sondern eher schlicht mit meinem Charakter, dem Extreme zuwider sind.

„Wir hatten schlicht Glück“

Was hat man sich in Deutschland über die unverantwortlichen Schweden aufgeregt. Am Ende liegt Deutschland bei den Coronatoten zwar hinter Schweden, aber nur knapp. Dafür haben wir höhere Kollateralschäden. Wer war jetzt klüger? – Ich weiß, ein kleines dünn besiedeltes Land ist in einer Pandemie nicht mit einem großen dicht besiedelten zu vergleichen. Aber war die Panikmache in Deutschland richtig? Ganz sicher nicht. Angesichts dieser Panikmache hatten wir schlicht Glück, dass sich die zeitweise starken Tendenzen zu einer Null-Covid-Strategie, die auch Antje Schrupp befürwortet hat, sich nicht durchsetzen konnten. Wir sind zwar nicht mit Schweden vergleichbar, aber als Land in der Mitte Europas auch nicht mit dem Inselkontinent Australien oder dem diktatorischen Riesen China, dem seine Null-Covid-Strategie auch nicht wirklich bekommen ist. Wer war dumm? Und welche neuen Einsichten in Irrtümer und »Zeitenwenden« stehen uns noch bevor?

Ich bin strikt für Klima- und Umweltschutz, halte es aber für gefährlich, so zu tun, als könne Deutschland allein und ohne Rücksicht auf seine Industrie das Weltklima retten. Atomstrom hat sich erledigt. Aber war es wirklich richtig, dass Angela Merkel, um mit der SPD regieren zu können, Fukushima zum Anlass nahm, aus der Atomenergie auszusteigen? Laut Wikipedia und verschiedener Zeitschriftenartikel wurde bisher exakt ein Todesopfer als Folge der Strahlungseinwirkung bekannt. Und ohne Tsunami – etwas, das in Deutschland bisher nicht vorkommt – hätte es gar keinen Reaktorunfall gegeben. Das lässt schon fragen, wann welche Reaktion angemessen ist und wann sie vielleicht ganz andere Gründe hat. War also Merkels Ausstiegsbeschluss 2011 eine rationale oder eine machtpolitische Entscheidung? Die Antwort muss ich nicht geben. Sie liegt auf der Hand. Trotzdem halte ich es für möglich, dass es in Deutschland gelingt, aus dieser damals eher machtpolitisch-ideologisch bedingten Entscheidung etwas Gutes entstehen zu lassen. Wissen können wir das nicht, nur hoffen.

Zwei letzte Beispiele: Ich bin gegen jeden Rassismus und damit gegen jedwede Identitätspolitik – rechte wie woke. Aber sind deren so unterschiedliche Anhänger dumm? Ich fürchte, sie kämpfen allesamt vor allem um Macht und instrumentalisieren Einzelne, die verletzt wurden. Und was ist mit der Asylfrage? Wird sich Europa hier einigen können? Ich weiß es nicht. Und wer traut sich derzeit zu sagen, was bei dieser Frage eines Tages als das Richtige angesehen werden wird? »Wir schaffen das«, sprach die Frau, die – trotz sichtbaren Misstrauens – Putin unterschätzt hat. Derzeit »schafft« Deutschland Integration nur eingeschränkt und Bildung immer weniger. Die Auswirkungen dieses Desasters sind noch gar nicht abzusehen. – Ist irgendwer Herr der Geschichte? Die Mächtigen sind es offenbar nicht. Und wir Nichtmächtigen schon gar nicht. Statt das in Bescheidenheit zu akzeptieren und im Rahmen des Möglichen unser Bestes zu geben, entbrennen wir in Hass oder wenigsten Verachtung gegeneinander und bezichtigen die anderen der Dummheit. Ist das klug?

„Gut gemeint endet oft böse“

Sitzen wir nicht alle gern den Fehlurteilen auf, die wir aufgrund bestimmter Prägungen und Lebensumstände immer schon für richtig halten wollten? Ich fürchte schon. Und das kann durchaus böse sein, endet aber zumindest oft böse, auch wenn es gut gemeint war. Schon Paulus wusste in Blick auf Gott und Welt: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.« (1. Korinther 13,12) Wo das nicht ernst genommen wird, kommt ins Spiel, was Christen Sünde nennen – nämlich Gott gleich sein und immer schon wissen zu wollen, was wahr und falsch, gut und böse, dumm und klug ist. Dessen eingedenk sollten wir uns um der Nächstenliebe willen dann aber tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen zu dem bekennen, was wir für wahr und falsch, gut und böse, dumm und klug halten.

Mit ihrem Mut zur Meinungsstärke liegt Antje Schrupp nicht falsch. Keine Stellung zu beziehen ist vielleicht manchmal klug, befördert aber auf Dauer Angst, Eigennutz und Indifferenz. Für Christen steht dagegen Matthäus 3,37: »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.« Nur: Wenn wir Stellung beziehen, dann bitte nicht gegen die anderen, sondern für sie. Dann können wir es auch ertragen, dass das Urteil über unser Handeln (und Reden) in Gottes Hand steht. Und wir erkennen vielleicht auch mit Sebastian Kleinschmidt (Kleine Theologie des Als ob, München 2023), dass es besser ist, zu leben, als ob es Gott gäbe. Zu einem Leben ohne Gott neigen wir sowieso. Aber Glauben wie Unglauben wäre unmöglich ohne Gott.

»Theologie behandelt ihre Themen deshalb nicht dann adäquat, wenn sie diese gemäß der neuzeitlichen Methodenentscheidung etsi deus non daretur zu traktieren sucht, sondern indem sie gerade umgekehrt alles traktiert etsi deus daretur(Ingolf U. Dalferth, God first, 199).

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Foto: EVA Leipzig

Annette Weidhas

Annette Weidhas, geboren 1960 in Rodewisch im Vogtland, ist promovierte Theologin und arbeitet als Programm- und Verlagsleiterin für die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig und ist Redakteurin der Theologischen Literaturzeitung.


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