Die Kraft des Rituals

Kasualien sind keine Glamour-Bühnen, sondern Räume zur Feier des Lebens in aller Brüchigkeit
Foto: Christian Lademann

Der Happy-Family-Fetisch hält sich wacker in unserer Kirche. Klar, langsam sickert die Ahnung durch, dass wir offenbar für diejenigen, die andere Lebenskonzepte haben als das Reihenhaus mit Vater-Mutter-Kind und Trampolin im Garten viel weniger Anknüpfungspunkte bieten in unserer kirchlichen Arbeit. Trotzdem hängt da immer noch etwas in der Luft von diesem Bilderbuchgedanken einer heilen Familie. Als kinderlose Single-Pfarrerin in einem riesigen Pfarrhaus, bei dem die Hälfte der Räume leer stehen, weiß ich ziemlich genau, wie sich das anfühlt. Jedes dieser Zimmer flüstert mir täglich zu, dass ideal doch eigentlich anders wäre.

An vielen Orten werden in den kommenden Monaten wieder Tauffeste gefeiert. Für mich gehört es zu den wesentlichen Erkenntnissen im Hinblick auf diese Feste, dass dort auch Menschen die Taufe ihres Kindes feiern, für die die Schwelle eines Sonntagsgottesdienstes unüberwindbar und die damit verbundene Sichtbarkeit unvorstellbar wäre. Schon die Frage, wer genau zum Familiensegen mit vor den Altar kommt und wer nicht, erzeugt für manche Alleinerziehende ein Unbehagen, dem sie sich niemals aussetzen würden.

In meinem pastoralen Dienst erlebe ich aber, dass die Taufe gerade in solchen Kontexten eine tiefe Kraft entfaltet. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Tag, als ich vor einigen Jahren den kleinen P. getauft habe. Alles, was raschelt und knistert, zog ihn in seinen Bann und Banane liebte er. Seine Mama war noch ganz jung. Anstrengend war das mit P. in der 1-Zimmer-Wohnung und trotzdem wunderschön. P’s Papa wird auch in der Kirche sein. Mit zum Taufbecken sollte er eher nicht. Sie sind zwar ok miteinander, aber das hätte sich irgendwie komisch angefühlt. Am Taufbecken sollte dann doch eher die beste Freundin und die Schwester sein.

Gesegnet, so wie es ist

Der Tag der Taufe kam. Wir feierten ein wunderbares Fest mit schallendem Lachen, Momenten der Rührung und Babyhänden, die im Taufwasser spielen. Wir haben der Ewigen für dieses Menschenkind gedankt. Für Mama haben wir gebetet und für Papa auch. Nach der Taufe stand ich am Ausgang, um die Gäste zu verabschieden. Da standen zwei Menschen Anfang 50 vor mir. Lächelnd und mit Tränen in den Augen. Das waren P’s Großeltern väterlicherseits. Nicht weil sie sich mir vorgestellt hätten, wusste ich das, sondern weil ich es einfach wusste. Der Mann schüttelte mir zum Abschied die Hand und hielt sie sehr lange fest. Mehrfach flüsterte er ein „Danke“ und seine Augen flüsterten den Rest.

Mir scheint, es war die ganze Kraft des Rituals, von dem diese Menschen so derart berührt und bewegt waren. Wir haben das Geschenk dieses Lebens inmitten all der Brüchigkeit gefeiert, die Beziehungs- und Familiengeschichten eben haben können. Alles durfte sein, wie es ist. Alles war gesegnet, so wie es ist. Das unendliche Wunder sichtbar zu machen inmitten von all dem, was so wenig perfekt scheint, das schafft nur das Ritual. Kein Gespräch kann das, keine Ratgeber-Literatur. Nur das Ritual hat diese Kraft.

Ich frage mich seit diesem Erlebnis häufig, wie wir dieses Potential der Kasualien eigentlich ins Gespräch bringen können. Welche Sprachformen braucht es, damit Menschen ahnen, dass unsere kirchlichen Rituale keine Glamour-Bühnen zur Präsentation vermeintlich gelungener Lebenskonzepte sind, sondern Räume, in denen wir das Leben ungeschminkt feiern und inmitten von alldem etwas von dem Geheimnis entdecken? Ganz genau weiß ich noch nicht, wie diese Sprache klingen könnte. Aber vielleicht ist es ein guter Anfang hier und da mal davon zu erzählen, von P., seinen  Eltern und Großeltern und von all dem Leuchten an diesem Tag.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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