Hoffnung auf Sinneswandel

Warum es bei der geplanten gesetzlichen Regelung der Beihilfe zum Suizid nicht nur um Selbstbestimmung gehen darf
Gehaltene Hände
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Helfen beim Sterben?

Noch ist nicht ganz klar, wann der Bundestag Zeit findet, über die seit längerem fertigen Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidbeihilfe zu befinden. Johannes Fischer, Professor em. für Ethik und Systematische Theologie an der Universität Zürich hofft jedenfalls, dass bei allen politisch Verantwortlichen noch ein grundlegender Sinneswand eintritt.

Mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das gesetzliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Suizidbeihilfe für unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher für nichtig erklärt. Es argumentierte, dass im allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben enthalten sei. Dieses Recht schließe ein Recht auf Selbsttötung in sich. Durch das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid werde die Möglichkeit der Wahrnehmung dieses Rechts in unzulässiger Weise eingeschränkt. Daher sei dieses Verbot verfassungswidrig.

Damit bedurfte es einer neuen gesetzlichen Regelung für die Suizidbeihilfe. Im Bundestag sind hierzu drei parteiübergreifende Gesetzentwürfe eingebracht worden. Um deren Intention und Ausrichtung verstehen zu können, muss man sich die Stoßrichtung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in Erinnerung rufen. In der Begründung dieses Urteils ist die Selbstbestimmung Suizidwilliger das einzige relevante Schutzgut für die rechtliche Regelung der Suizidproblematik. Zwar kommt in einigen Formulierungen auch das Schutzgut des Lebens vor. Doch ist es mit dem Recht auf Selbstbestimmung unvereinbar, wenn jemand gegen seinen Willen zum Leben genötigt wird. Daher hat die Selbstbestimmung immer Vorrang. Eine Abwägung zwischen Selbstbestimmung und Leben kann es aus diesem Grund nicht geben. Das Leben kann nur indirekt (mit-)geschützt werden dadurch, dass die Selbstbestimmung geschützt wird und Menschen davor bewahrt werden, sich das Leben zu nehmen, ohne dass dies auf einer in freier Selbstbestimmung getroffenen Entscheidung beruht.

Diese Fokussierung auf die Selbstbestimmung als dem einzigen relevanten Schutzgut hat besonders von kirchlicher Seite Kritik auf sich gezogen. Andere hingegen sehen gerade in der Beschränkung auf die Selbstbestimmung einen Fortschritt in Richtung Liberalität, da in ihren Augen das Ziel des Lebensschutzes Teil einer Weltanschauung ist, die Suizide ablehnt und moralisch verurteilt. Nach ihrer Sicht wahrt das Bundesverfassungsgericht mit der Beschränkung auf die Selbstbestimmung seine weltanschauliche Neutralität.

Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung

Nun kann man allerdings fragen, ob tatsächlich all diejenigen, die für die Suizidprävention und somit für den Schutz des Lebens eintreten, Anhänger einer Weltanschauung sind, die Suizide moralisch verurteilt. Kann die Befürwortung der Suizidprävention nicht auch durch die Sorge um die Menschen mit Suizidgefährdung motiviert sein, für die man wünscht, dass sie Hilfe finden, die es ihnen ermöglicht, einen anderen Weg zu gehen als den des Suizids? Und kann eine solche Einstellung nicht problemlos und widerspruchsfrei mit der Achtung der Selbstbestimmung von Menschen einhergehen, die sich selbstbestimmt und freiverantwortlich für einen Suizid entscheiden?

Die grundsätzliche Anfrage an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht dahin, ob die Beschränkung auf die Selbstbestimmung als einzigem Schutzgut der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bedeutung von Suiziden gerecht wird. Für die meisten Menschen, die von einem Suizid in ihrem Lebensumfeld erfahren, hat dieses Ereignis etwas zutiefst Verstörendes. Was hier verstört, ist nicht ein Selbstbestimmungsproblem, sondern die Tatsache, dass ein ihnen naher oder bekannter Mensch sich das Leben genommen hat. Damit ist etwas geschehen, wovon sie wünschen, dass es nicht geschehen wäre. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung eines Suizids geht es also zuerst um das Leben. Es ist diese Grundeinstellung zum Suizid, in welcher die große gesellschaftliche Akzeptanz der Suizidprävention begründet ist.

Man stelle sich zum Kontrast eine Gesellschaft vor, die Suizide so wahrnimmt und erlebt, wie sie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts thematisiert werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung des Suizidenten als einzigem relevantem Schutzgut. In einer solchen Gesellschaft wäre niemand verstört angesichts eines Suizids. Worauf es ankommt, ist lediglich, dass dieser freiverantwortlich ist. Es gäbe daher auch keine Suizidprävention, sondern lediglich eine Prävention in Bezug auf Suizidentscheidungen, die nicht selbstbestimmt sind. Die Beratung suizidgefährdeter Menschen und ihre Betreuung in entsprechenden Einrichtungen wäre nicht an dem Ziel orientiert, sie nach Möglichkeit vor einem Suizid zu bewahren, sondern vielmehr an dem Ziel, ihnen zu helfen herauszufinden, was ihr selbstbestimmter Wille ist, nämlich ob sie leben oder ob sie sich suizidieren wollen. Die Beratenden und Betreuenden müssten daher eine neutrale Haltung zum Suizid einnehmen und dürften nicht versuchen, ihre Klienten von einem Suizid abzuhalten. In einer solchen Gesellschaft wäre ein Suizid etwas absolut Normales. Wenn ein Suizid selbstbestimmt und freiverantwortlich ist, dann geht er in Ordnung, und niemand muss sich darüber das Herz beschweren, selbst wenn es sich um den eigenen Sohn handelt. Können wir uns wünschen, in einer solchen Gesellschaft zu leben?

Gesellschaftliche Einstellung entscheidend

Man muss hier ja hinzunehmen, dass die Einstellung, die eine Gesellschaft zum Suizid hat, Auswirkungen hat auf suizidgefährdete Menschen und auf deren Willensbildung. Gerade in Einrichtungen zur Begleitung und Betreuung suizidgefährdeter Menschen hängt diesbezüglich viel von der Haltung beziehungsweise Einstellung der Ärztinnen und Ärzte, Pflegenden oder Betreuenden ab.

Während meiner beruflichen Zeit in der Schweiz erzählte mir die leitende Psychiaterin einer Einrichtung, die psychisch kranke Menschen betreut, von einem langjährig depressiven Patienten, der mit der Sterbehilfeorganisation EXIT Kontakt aufgenommen hatte, um sein Leben durch assistierten Suizid zu beenden. Alles war geregelt, die psychiatrischen Gutachten waren erstellt, die Angehörigen einbezogen, der Patient hatte sich in der Klinik verabschiedet und wurde von einem Mitarbeiter von EXIT abgeholt. Und dann kam er zurück. Er hatte den letzten Schritt nicht über sich gebracht. Es war ein bewegender Empfang, mit dem er wieder in der Einrichtung begrüßt wurde, bei dem Mitarbeitende Tränen der Erleichterung und Freude in den Augen hatten. Das Eindrückliche an dieser Schilderung ist für mich eben diese Reaktion, weil sich in ihr eine Einstellung der Betreuenden und Pflegenden zeigt, die darauf gerichtet ist, den ihnen anvertrauten psychisch kranken Menschen Hilfestellung zum Leben zu geben und sie nach Möglichkeit im Leben zu halten – was bedeutet, dass die Entscheidung eines Patienten zum assistierten Suizid Betroffenheit auslöst oder doch zumindest nicht gleichgültig lässt, so sehr diese Entscheidung auch zu respektieren ist. Diese Einstellung schafft eine Atmosphäre, wie sie gerade für die Betreuung psychisch kranker Menschen von kaum zu überschätzender Bedeutung ist.

Man stelle sich zum Kontrast eine Einrichtung derselben Art vor, in der es diese Einstellung nicht gibt und in der stattdessen eine Haltung von der Art herrscht: Der Patient ist urteilsfähig; seine Entscheidung ist wohlerwogen und autonom und angesichts des langandauernden Leidenszustands des Patienten verständlich, nachvollziehbar und zu respektieren. Also geht dieser Suizid in Ordnung, und niemand muss sich darüber bekümmern. Könnten wir uns wünschen, dass dies die Einstellung in unseren Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen für psychisch Kranke ist?

Lebensschutz im Recht abbilden?

Wenn es zutrifft, dass in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Suizids der Schutz des Lebens einen so hohen Stellenwert hat, muss sich das dann nicht auch im Recht abbilden? Müssen dann nicht entsprechende gesetzliche Regelungen von zwei Schutzgütern ausgehen, nämlich dem Schutz des Lebens suizidgefährdeter Menschen und dem Schutz der Selbstbestimmung von Menschen, die sich autonom für einen Suizid entscheiden? Es geht hier, wie gesagt, nicht um eine Güterabwägung. Es geht vielmehr darum festzulegen, wann das eine und wann das andere Schutzgut Vorrang hat und handlungsleitend sein muss. Wenn feststeht, dass eine Suizidentscheidung freiverantwortlich ist und dass der zugrunde liegende Wille unabänderlich ist, dann ist die Selbstbestimmung des Suizidwilligen zu respektieren und die Pflicht des Lebensschutzes hat dahinter zurückzutreten. So lange jedoch nicht klar ist, ob ein beabsichtigter Suizid selbstbestimmt ist und ob der Wille hierzu unabänderlich ist, gibt es die Pflicht, das Leben des Suizidwilligen zu schützen, und zwar dadurch, dass geprüft wird, ob die Kriterien der Freiverantwortlichkeit und der Unabänderlichkeit des Willens erfüllt sind.

Einer Erläuterung bedarf hier der Ausdruck ‘Unabänderlichkeit des Willens’. Wenn es lediglich um das Schutzgut der Selbstbestimmung ginge, dann würde es genügen, die Autonomie zu prüfen. Wenn sie gegeben ist, dann geht der Suizid in Ordnung. Wenn es jedoch darüber hinaus um das Schutzgut des Lebens geht, dann muss der Wille dessen, der einen Suizid beabsichtigt, auch daraufhin geprüft werden, ob er unabänderlich ist. Dafür spricht nicht zuletzt der empirische Befund, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen, die einen misslungenen Suizidversuch hinter sich haben, diesen im Nachhinein als eine Fehlentscheidung bewerten.

Ob ein Wille unabänderlich ist, dass lässt sich nur prüfen, indem man ihn zu ändern versucht. Natürlich kann es nicht darum gehen, einen Suizidwilligen zu etwas zu drängen oder zu überreden. Es muss bei einem solchen Beratungsgespräch in jedem Augenblick klar sein, dass es ergebnisoffen geführt wird und dass die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Suizidwilligen für seinen Gesprächspartner oberstes Gebot ist. Aber es geht doch darum, mit dem Suizidwilligen zusammen die Gründe anzusehen, die ihn zum Suizid veranlassen, und Möglichkeiten auszuloten, die ihn zur Änderung seines Willens oder doch zu einem Überdenken seiner Suizidabsicht veranlassen können. Wenn er bei seiner Suizidabsicht bleibt, dann muss diese Entscheidung mit derselben Achtung und demselben menschlichen Wohlwollen entgegengenommen werden wie die umgekehrte Entscheidung, vom Suizid Abstand zu nehmen oder ihn zu überdenken.

Warum keine Gegenleistung für Autonomie?

Darf einer suizidwilligen Person eine solche Prüfung der Unabänderlichkeit ihres Willens zugemutet werden? Geht es nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dann darf sie dies nicht. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt hiernach ein Recht auf Suizid in sich. Dieses erstreckt sich auch auf die Möglichkeit, eine Suizidabsicht verwirklichen zu können. Daher ist die Gewährleistung dieser Möglichkeit seitens der Gesellschaft kein Entgegenkommen, für das eine Gegenleistung in Gestalt der Bereitschaft des Suizidwilligen, die Unabänderlichkeit seines Willens prüfen zu lassen, zur Bedingung gemacht werden kann. Vielmehr wird damit nur etwas gewährleistet, worauf er ein Recht hat. Geprüft werden darf daher nur die Freiverantwortlichkeit seiner Suizidentscheidung, da das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nur greift, wenn Selbstbestimmung gegeben ist.

Doch stimmt die Argumentation des Gerichts in diesem Punkt? Anders, als das Gericht unterstellt, ist im Recht auf selbstbestimmtes Sterben keineswegs ein Recht auf Suizid enthalten.[1] Das Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten bezieht sich darauf, dass man selbst bestimmt und dass nicht andere bestimmen. Aber es bezieht sich nicht auf diese Möglichkeiten selbst und ist daher kein Recht auf eine dieser Möglichkeiten, also in diesem Fall auf Suizid. Es gibt kein Recht auf Suizid. Jedenfalls lässt sich ein solches Recht nicht aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ableiten.

Wenn die Gesellschaft die Möglichkeit gewährleistet, dass Suizidwillige ihre Absicht auch verwirklichen können, dann ist dies daher ein Entgegenkommen, für das eine Gegenleistung zur Bedingung gemacht werden kann, nämlich eine Gegenleistung in Bezug auf die der Gesellschaft wichtigen Schutzgüter, die durch den Suizid tangiert werden. Diese Gegenleistung besteht darin, dass Suizidwillige die Prüfung ihrer Suizidabsicht akzeptieren nach Maßgabe dieser Schutzgüter. Das ist nicht nur die Selbstbestimmung, sondern auch das Leben.

Vorgaben für Beratungsgespräch nötig

Ein Gesetz, das dem Schutzgut des Lebens Rechnung trägt, muss entsprechende Vorgaben für das Beratungsgespräch enthalten, die im erläuterten Sinne eine Prüfung der Unabänderlichkeit des Willens vorsehen. Überhaupt muss seine Systematik so aufgebaut sein, dass die Vorkehrungen zum Schutz des Lebens einerseits und zum Schutz der Selbstbestimmung andererseits je gesondert aufgeführt werden, wobei der Schutz des Lebens – zu dem Maßnahmen der allgemeinen Suizidprävention sowie im konkreten Fall die Prüfung der Autonomie und der Unabänderlichkeit des Willens eines Suizidwilligen gehören – an erster Stelle kommt, da das Recht auf Selbstbestimmung erst greift, wenn die Prüfung der Autonomie und der Unabänderlichkeit des Willens zu einem positiven Ergebnis gelangt. Dann erst geht es um jene Fragen, um die sich in den derzeit vorliegenden Gesetzentwürfen alles dreht, nämlich auf welche Weise Suizidwilligen die Realisierung ihres Suizidwunsches ermöglicht werden soll.

In keinem dieser Gesetzentwürfe kommt das Leben als eigenständiges Schutzgut vor. Zwar heißt es in dem Entwurf von Lars Castellucci, dass es Aufgabe des Staates ist, «ein konsistentes Regelwerk zu entwickeln, welches das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Schutz des Lebens auflöst». Aber das wird dann abgeschwächt mit der Feststellung, dass es Pflicht des Staates ist, «die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen». Das ist die Position des Bundesverfassungsgerichts: Das Leben wird nur mittelbar über den Schutz der Autonomie (mit-)geschützt. Es ist kein eigenständiges Schutzgut. Im Blick auf die Beratung Suizidwilliger wird in den Gesetzentwürfen großer Wert daraufgelegt, dass diese nicht in die eine oder andere Richtung beeinflusst werden dürfen. Es geht allein darum, ihnen zu helfen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, sei es für das Leben oder für den Suizid.

Oben wurde gefragt, ob wir uns wünschen können, in einer Gesellschaft zu leben, die Suizide so wahrnimmt und erlebt, wie sie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts thematisiert werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung des Suizidenten als einzig relevantem Schutzgut. Die vorliegenden Gesetzentwürfe lesen sich so, wie wenn sie für eine solche Gesellschaft verfasst worden sind.

 

[1] Zur Fragwürdigkeit der Herleitung eines Rechts auf Suizid aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben vgl. Johannes Fischer, Gibt es ein Recht auf Suizid? Zur Anmaßung des Rechts gegenüber der Politik im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020. https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2023/04/Urteil-des-Bundesverfassungsgerichts-vom-26.02.2020.pdf

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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