Bedeutungsträger

Über kirchliche Gegenstände

Eine „absichtsvoll verstörende Sicht auf die evangelische Kasualkultur“ – das versprechen die Herausgeber des Bandes Kasualdinge, Thomas Klie, emeritierter Professor für Praktische Theologie in Rostock, und Jakob Kühn, wissenschaftlicher Mitarbeiter eben dort. Die Verstörung gelingt in den Beiträgen des Bandes, der auf eine Tagung im Jahr 2021 zurückgeht, durch den Blick auf „Sachverhalte“, das heißt auf materielle Kultur im Kontext der Kasualien. Damit folgt die Analyse von Kasualien einer kultur- und geisteswissenschaftlichen Einsicht, wonach Räumen, materiellen Einzelobjekten oder Dingen eine Akteursrolle zugemessen wird. Objekte werden zu „Bedeutungsträgern, […] die sich nicht einfach neutral ‚verhalten‘“. Dieser material turn ist im Bereich der Praktischen Theologie in den vergangenen Jahren bereits punktuell bearbeitet worden, zum Beispiel durch Inken Mädler, Thomas Klie, zuletzt Sonja Beckmayer. Somit reiht sich der Band in einen interdisziplinären Diskurs ein, der nun auf den Kontext von Kasualien konzentriert wird. Dinge, die im Gottesdienst als schlicht gegeben vorausgesetzt werden, beginnen in dieser Theorieperspektive zu „sprechen“ und werden zu „Objekten eigenen Rechts“ mit einer Eigenlogik, sie sind mehrdeutig und haben eine agency, also eine Handlungsmacht.

Mit der Bearbeitung der materiellen Religionskultur entledigt sich damit die Praktische Theologie eines auch auf konfessionelle Differenzen zurückgehenden Mantels der lutherischen Reformation, mit dem die Dinge zugunsten der reinen Verkündigung des Evangeliums verhüllt wurden: Die glaubende Person und deren religiöse Erfahrungen waren im Fokus der reformatorisch geprägten Praktischen Theologie. Und eben nicht dingliche Gegenstände im religiösen Vollzug. Nun die Wendung: Dinge sind nicht länger theologisch neutralisiert, tot und vergessen, sondern werden zu Orten des Handelns. Als analytisches Kriterium lässt sich so über materielle Kultur neu erschließen, wie beispielsweise liturgische Praxis im Zusammenspiel von Mensch und materiellem „Ko-Akteur“ abläuft. Dazu gehört auch, keine eindeutige Bedeutung eines Dinges aus dessen Funktion anzunehmen; Dinge sind je nach Handlungssituation „polyvalent“, das heißt sind bedeutungsoffen.

Der Sammelband bietet nun einerseits vorgelagert Vertiefungen aus den für die Praktische Theologie wichtigen Referenzwissenschaften für die Untersuchung von materieller Kultur – der phänomenologisch orientierten Ethnologie und der kognitionswissenschaftlich informierten Soziologie. Andererseits wird anhand der kirchlichen Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung beziehungsweise Funeralkultur) die Relevanz der materiellen Kultur für die Liturgiewissenschaft herausgehoben.

An dieser Stelle kann aus Platzgründen nur in Ausschnitten auf einzelne Beiträge des Bandes, in dem das Mitwirken der Dinge im Kontext einer Kasualie betrachtet wird, eingegangen werden.

Taufdinge wie Wasser, Taufbecken, Taufkleid werden von Christian Grethlein zum Ausgangspunkt genommen, den historischen Wandel und die heutige christliche Taufpraxis zu bestimmen. Auffallend ist, dass Grethlein schlussendlich die Dinge dann doch „gegenüber der menschlichen Kommunikation als sekundär“ betrachtet und von der zuvor theoretisch reflektierten Eigenmächtigkeit der Dinge im Kontext der Taufe nicht mehr die Rede ist.

Anders der Beitrag Manuel Stetters, in dem die Rolle des – wohl sonst eher unbeachteten – Hygiene-Handschuhs von Mitarbeitenden eines Bestattungsunternehmens analysiert wird und der Handschmeichler, der sich sowohl in der Hand des Verstorbenen als auch der Angehörigen befindet, nun greifbar Handlungsmacht des Erinnerns entfaltet. Die Funeraldinge beziehen sich hier also nicht nur auf den Gottesdienst, sondern auf unterschiedliche Momente des Umgangs mit den Toten. Doch auf Grundlage von ethnographischem Material zeigt Stetter präzise auf, welches Erkenntnispotenzial in der Dinganalyse steckt. Hier kommt instruktiv zusammen, was in anderen Beiträgen des Bandes tendenziell ausbleibt: eine vertiefte theoretische Reflexion der Materialanalyse und der sich überraschen lassende ethnografische Blick auf die Dinge, wodurch das Zusammenwirken von menschlichen Sinndimensionen, Körperlichkeit und Handlungsmacht des Gegenständlichen eine eigene Logik entfalten kann.

Den unterschiedlichen Einzelanalysen hätte es demnach nicht geschadet, wenn nicht nur die theoretische Reflexion über den material turn vorangestellt worden wäre, sondern auch intensiver bedacht worden wäre, wie denn nun die Dinganalyse methodisch gesichert vonstattengehen kann. Hier unterscheiden sich zwar die Einzelanalysen, machen aber insgesamt klar: Die Dinge werden in zukünftigen empirisch angelegten praktisch-theologischen Analysen lebendig werden.

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Foto: Privat

Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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