Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel. Er ist Mitarbeiter von zeitzeichen.
Weiter Horizont
Ostersonntag, 9. April
Als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal … Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. (1. Korinther 15,3–8)
Uns geht es wie Paulus: Auch er war nicht dabei, als Jesus in Jerusalem gekreuzigt wurde und kurz danach seinen Jüngerinnen und Jüngern erschien. Paulus gibt den Christen der griechischen Hafenstadt Korinth ein Glaubensbekenntnis weiter, das er vorfand (Verse 3–5). Und heute tun das Kirchen zum Beispiel mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis. Aber Paulus begnügt sich nicht mit der Weitergabe von Glaubenssätzen und der Ermahnung, diese für wahr zu halten. Er verweist auch auf Erfahrungen, dass Christen vor ihm Christus „gesehen“ haben und dies „zuletzt von allen“ auch ihm widerfahren ist.
Was die vier Evangelien über die Erscheinungen des Auferstandenen erzählen und wie sie das tun, unterscheidet sich. Und Jesus ist Paulus wiederum anders erschienen als denen, die mit ihm durch die Lande gezogen waren und seine Kreuzigung erlebten.
Auch heute gibt sich Jesus Christus auf sehr unterschiedliche Weise zu erkennen. In seltenen Fällen haben Menschen eine Vision des Auferstandenen. Sie sollte man nicht sofort als Spinner abqualifizieren, sondern erst einmal zuhören, nachfragen und nachdenken. Öfter bewirken Worte der Bibel bei Menschen eine neue Sicht Jesu und damit eine Lebenswende. Und der Auferstandene zeigt sich indirekt durch Menschen, die sich für Mitmenschen einsetzen und dabei ihren guten Ruf, die berufliche Existenz oder gar das Leben riskieren.
So unterschiedlich die angedeuteten Erscheinungen auch sind, eines ist ihnen gemeinsam: Jesus und seine Botschaft erweisen sich als lebendig, erweitern den Horizont und stärken das Vertrauen, dass selbst die Toten bei Gott geborgen sind.
Tiefe Sehnsucht
Sonntag Quasimodogeniti, 16. April
Jakob blieb … allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. (1. Mose 32,25–29)
Immer noch schmälern manche Theologen und viele Zeitgenossen, die im Religionsunterricht nichts gelernt oder ihn gar nicht besucht haben, die Bedeutung des Alten Testamentes. Dabei enthält es spannende Erzählungen von Menschen, die beglückende wie schmerzliche Erfahrungen mit Gott machten.
Der Abschnitt des 1. Mosebuchs, der heute in evangelischen Gottesdiensten in Deutschland ausgelegt wird, schildert, wie Jakob mit jemand ringt, der als „er“ bezeichnet wird. Und Jakob gibt nicht auf. Er lässt Gott, der sich hinter dem geheimnisvollen Unbekannten verbirgt, nicht los und spricht Worte, die Juden und Christen ermutigen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (Vers 27). Dabei geht es Jakob nicht nur um einen Segen für sich, sondern als Stammvater Israels auch für sein Volk. Und Christen sind überzeugt, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs diesen Segen durch Jesus auch an Nichtjuden weitergibt.
Die Sehnsucht von Juden und Christen, dass Gott sie und andere segnet, berührt sich meines Erachtens mit der Sehnsucht von Menschen, die nicht an Gott glauben. Der atheistische Philosoph und Sozialwissenschaftler Max Horkheimer (1895 – 1973) sprach nicht von der Sehnsucht nach Gott (und seinem Segen), aber von der „Sehnsucht nach dem Anderen“. Denn „die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit“ könne „in der säkularen Geschichte niemals verwirklicht werden; denn selbst wenn eine bessere Gesellschaft die gegenwärtige soziale Unordnung ablösen würde, wird das vergangene Elend nicht gutgemacht“.
Nötige Kontrolle
Miserikordias Domini, 23. April
Die Ältesten unter euch, ermahne ich … Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist …, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. (1. Petrus 5,1–3)
Die Frau ist eine gute Hirtin“, schrieb mir ein Freund, nachdem er die Pfarrerin seiner neuen Kirchengemeinde im Gottesdienst erlebt hatte. Mich berührte, das von einem 56-Jährigen zu hören, der seit Jahren in einer Großstadt lebt. Aber möglicherweise ist ihm das Wort „Hirtin“ eingefallen, weil er in Norddeutschland aufwuchs, wo der evangelische Pfarrer mit dem lateinischen Wort „Pastor“ bezeichnet wird, das auf Deutsch „Hirte“ heißt.
Ich wuchs auf der Schwäbischen Alb auf. Daher sind mir im Unterschied zu dem Freund Hirten mit Schafen und Hütehund vertraut. Und natürlich berührt mich der 23. Psalm in der Übersetzung Martin Luthers und in der gereimten Form des Chorals The Lord’s my shepherd, der in angelsächsischen Ländern oft bei Beerdigungen gesungen wird. Trotzdem belustigt und befremdet mich, wenn das Bild vom Hirten und seiner Herde auf die Kirche übertragen wird. Denn ein Hirte bestimmt nun einmal, wohin die Schafe gehen sollen. Und er setzt das durch mit der Hilfe eines Hundes.
Aber letztlich geht es im Ersten Petrusbrief ja darum, wie in der Kirche Leitung ausgeübt werden soll. In evangelischen und alt-katholischen Kirchen geschieht das durch Gremien, in denen Ordinierte und Nichtordinierte vertreten sind. Sie wählen die Amtsträger und kontrollieren sie. So kann verhindert werden, dass Frauen und Männer im Pfarr- und Bischofsamt über die Gemeinden „herrschen“.
Wer ein öffentliches Amt ausübt, hat eine besondere Vorbildfunktion. Und das gilt in besonderer Weise in der Kirche. Dazu gehört auch, dass leitende Geistliche Verantwortung für das übernehmen, was in ihrer Amtszeit geschieht, und ins zweite oder dritte Glied zurücktreten, wenn es sich um grobe Fehler handelt.
Dankbar und mutig
Jubilate, 30. April
Jesus … sprach zu ihnen: … Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. (Johannes 16,19–20)
Seit Ostern müssten Christen eigentlich nur noch jubilieren. Nicht nur am Sonntag Jubilate. Schließlich hat Gott Jesus auferweckt und dem Tod das letzte Wort entzogen. Dies feiert die Kirche weltweit jeden Sonntag. Aber warum hängen dann in Kirchen Kreuze mit dem Leib eines Menschen, der auf Befehl des Gewaltherrschers Pontius Pilatus gefoltert und ermordet wurde? Die Kreuze erinnern daran, wozu Menschen fähig sind. Und sei es, dass sie „nur“ zuschauen oder wegsehen, wenn Mitmenschen gequält werden. Die Kreuze erinnern auch daran, dass Menschen eines natürlichen Todes sterben müssen und manche dabei schrecklich leiden. Aber nicht zuletzt erinnern die Kreuze daran, dass Gott mitgelitten und sich mit dem leidenden Zimmermannsohn aus Nazareth vollständig identifiziert hat.
Die Traurigkeit über seinen Tod, der auch für den vieler Menschen in allen Zeiten steht, wird nicht automatisch „zur Freude“. Aber Christen müssen am Leid(en) nicht verzweifeln. Gegen das menschengemachte Leid können, ja müssen sie angehen. Denn dazu ermutigt der Auferstehungsglaube. Und er müsste bei Christen trotz des Schrecklichen, das tagtäglich in der Welt geschieht und immer wieder im Nahbereich, ein grundlegendes Gefühl von Dankbarkeit und Zuversicht bewirken, das sich immer wieder in lautem Jubel ausdrückt.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Pfarrerssohn und Christentumskritiker, schrieb über die Christen: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne. Erlöster müssten mir seine Jünger aussehen.“
Populäre Kirchen
Kantate, 7. Mai
Wenn … der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es war besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm. (1. Samuel 16,23)
Im Zentrum des Protestantismus steht das Wort, das geschriebene und gesprochene, aber auch das gesungene. Martin Luthers Theologie verbreitete sich nicht nur durch Flugschriften, sondern auch durch seine Choräle. Bei der Vertonung ihrer Choräle übernahmen die Lutheraner oft auch Melodien populärer Volkslieder. In den Kirchen, die vom Genfer Reformator Johannes Calvin beeinflusst wurden, wurde ebenfalls gesungen, aber nur Psalmen in Reimform, keine Choräle. Auch die Kirche von England war calvinistisch geprägt, wie die Rubriken des Book of Common Prayer von 1662 verraten. In ihr verbreiteten sich von der Gemeinde gesungene Choräle erst unter dem Einfluss des Methodismus.
Ohne Gemeindegesang kommt der Choral Evensong aus, ein Abendgottesdienst, den vor allem anglikanische Kathedralen pflegen. Ein Chor singt Psalmen, deren Melodie Anglican Chant genannt wird, das Magnifikat und Nunc dimitis und einige liturgische Stücke. Zu Beginn des Gottesdienstes, dessen Ablauf in der Regel dem Book of Common Prayer folgt, werden die Besucher mit einem schwierigen Sündenbekenntnis konfrontiert. Und später folgen zwei lange Lesungen aus dem Alten und neuen Testament. Trotzdem ist der Evensong auch im stark säkularisierten England populär. Für viele Besucher mag das Erlebnis exzellenter Chormusik in einem großartigen Gebäude im Vordergrund stehen. Aber wer das kritisiert, sollte bedenken: Von David heißt es lapidar, dass er allein mit einem Harfenspiel Saul so sehr „erquickte“, dass der „böse Geist“ von ihm wich (siehe oben). Und auch bei Chorälen wirkt mitunter vor allem die Melodie. Dann ergreift sie und erquickt Singende und Zuhörende so sehr, dass sie gar nicht mehr darauf achten, dass Texte gesungen werden, die überholt oder einfach nur schrecklich sind.
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".