Glaube auf der Flucht
Antonija Potočki unterstützt seit sieben Jahren geflüchtete Menschen in Kroatien. Ali lebt gerade in Bosnien und Herzegowina im Geflüchtetencamp Lipa. Beide zweifeln manchmal an Gott und hoffen doch auf ihn. Ihnen begegnet Gott auf der Flucht. Zwei Perspektiven.
Novi Zagreb ist ein Teil der kroatischen Hauptstadt. In dem Stadtteil steht ein Hochhaus neben dem anderen. Er erinnert an eine Trabantenstadt. Die früher weißen Balkone sind inzwischen eher beige, die Fassaden braun oder grau. Nur vereinzelt laufen Menschen über die Gehwege. In einer dieser Bauten ist die NGO Are you Syrious beheimatet. 2015 gegründet, kümmert sie sich seitdem um Geflüchtete. Mittwochs ist immer der Freeshop geöffnet. Geflüchtete können kommen und in dem kleinen Laden sich kostenlos die Sachen nehmen, die sie brauchen: Schuhe, Hosen, aber auch Zahnpasta und Spielzeug.
Antonija Potočki: „Klar habe ich auch schon an Gott gezweifelt.“
Noch ist der Raum mit den Stapeln an Kleidung leer. Die Kundinnen und Kunden kommen erst gegen zwölf Uhr. Antonija Potočki sortiert noch die letzten Hemden und Blusen ein. Sie ist die Koordinatorin des Freeshops. Seit sieben Jahren arbeitet sie inzwischen bei der NGO: „Angefangen habe ich einmal als Volunteer, als freiwillige Helferin, und dann bin ich irgendwie geblieben.“ Die Menschen, die hierhin kommen, nennen sie „Mother“. Sie begegnet allen auf ihre individuelle Art und kümmert sich um jedes Problem – wie eine Mutter. Bei einer Zigarette auf der Terrasse vor dem Laden, können die Menschen ihr alles erzählen. Sie kommen gerne zu ihr, denn sie hört zu. Zuhören, das passiert nicht häufig auf der Flucht. Die Zeit ist zu knapp, jede*r hat seine*ihre eigenen Probleme, oder es interessiert einfach niemanden.
Heilige Schriften gelesen
Durch die Gespräche kriegt auch Potočki viel von dem Leid mit, was die Menschen auf ihrer Reise nach Kroatien erfahren haben. „Ich nehme jedes Mal ein bisschen mehr Gift auf. Solche Geschichten gehen, glaube ich, an niemandem spurlos vorbei!“ Viele der Helfer*innen zerbrechen an den schrecklichen Geschichten. Auch die 32-Jährige musste erst lernen damit umzugehen. Doch sie weiß, dass Gott sie in ihrer Arbeit unterstützt: „Klar habe ich auch schon an Gott gezweifelt. Das würde, glaube ich, jede*r tun, wenn er von dem Leid der Geflüchteten erfährt. Doch trotzdem sehe ich, dass die Menschen hier ankommen. Teilweise kommen sie allein, manche sind noch Kinder. Das grenzt dann auch an ein Wunder, dass sie es geschafft haben. Da muss es einfach Gott geben, der*die sie unterstützt!“
Ali aus Pakistan: „Ich habe viele schlimme Dinge gesehen.“
Durch Gott und den Glauben versucht sie auch den Menschen näherzukommen. Viele Geflüchtete, die zuAre you Syrious kommen, sind gläubig. Sie fühlen sich gleich besser verstanden, wenn jemand ihren Glauben kennt und auch versteht. Antonija Potočki kennt sich aus. Die heiligen Schriften, wie Bibel und Koran, hat sie gelesen. Ihren Master hat sie in protestantischer Theologie in Zagreb gemacht. „Das meiste lerne ich aber durch die Menschen hier. Vergangenes Jahr habe ich mit einigen zusammen Ramadan gefeiert. Wenn Sie merken, dass ich mich dafür interessiere und auch selbst schon einiges weiß über ihren Glauben, dann haben wir oft gleich eine Verbindung“, sagt Potočki.
Sie selbst ist als Katholikin geboren und aufgewachsen. Über 80 Prozent der Kroat*innen sind katholisch. Als Kind verbrachte sie viel Zeit in der Kirche. Doch das hat sich heute geändert. Für sie gibt es einen Unterschied zwischen Glauben und der Institution Kirche: „Ich unterscheide immer zwischen der Kirche und Glauben. Kirche steht für mich für die Institution. Glaube ist für mich die Gemeinschaft, die dahintersteckt.“ Die Institution Kirche würde Potočkis Art und Weise, wie sie über Religion und Glaube denkt, nicht unterstützen. Sie selbst sagt aber auch zu vielem, was in der Kirche passiert: „Fuck it!“ Ihr persönlicher Glaube setzt sich aus vielen verschiedenen Richtungen zusammen: So glaubt sie an Teile des Korans, aber auch an Abschnitte aus der Bibel. „Mir geht es vor allem um die Menschen. Die heiligen Schriften sind schließlich voll mit Menschen. Und wir sind immerhin ein Abbild Gottes!“ Deshalb sieht sie auch in ihrer Arbeit eine Berufung. Sie will die Menschen unterstützen, die so einen langen und oftmals auch schmerzhaften Weg hinter sich haben.
Arbeit als Berufung
Ali ist, genau wie Antonija Potočki, in den Dreißigern. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. Mit Anfang zwanzig ist er aus Pakistan geflohen. Er und seine Familie sind Schiiten. Sie gehören der zweitgrößten religiösen Strömung innerhalb des Islams an. In Pakistan stellen sie eine religiöse Minderheit dar. „Wir waren immer wieder Schikane ausgesetzt. Ich habe viele schlimme Dinge zuhause gesehen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten!“, so Ali. Er habe zwar in Pakistan noch studiert und bei einer Techfirma angefangen zu arbeiten, doch er wollte immer weg. Ein besseres Leben in Europa, das hatte er sich vorgestellt. Doch bislang hat er es nicht in die EU geschafft. Er ist immer nur bis zur Grenze gekommen. Inzwischen ist er im Geflüchtetencamp Lipa in Bosnien und Herzegowina untergekommen.
Ein weißer Container reiht sich hier an den anderen, umgeben von einem Zaun mit Kameras. Nur Männer leben in dem Camp. Einen verlassenen Fußballplatz gibt es und einen Kiosk, ansonsten herrscht Leere. Erst 2021 wurde das neue Durchgangslager im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina eröffnet. Bis Dezember 2020 stand dort noch ein provisorisches Lager aus Zelten für geflüchtete Menschen. Dann brannte es ab. Die Männer bekommen hier Wasser, Essen und medizinische Hilfe. Viele der geflüchteten Männer im Camp haben schon einmal versucht, über die Grenze nach Kroatien zu gelangen und damit in die EU. Von der kroatischen Polizei werden sie nach Bosnien zurückgeschoben, oft unter Anwendung von Gewalt. Auch Ali ist schon zum zweiten Mal im Camp Lipa, und er will erneut probieren, über die Grenze zu gelangen. Sein Ziel: Frankreich. Dort habe er Verwandte. Er hofft, dass er dort seinen Glauben offen ausleben kann.
Auch im Camp ist er der einzige schiitische Muslim. Dort gibt es zwar einen Container, der als Gebetsraum umfunktioniert wurde, doch darin betet er nicht. Er traut sich nicht. Er sei zu oft in Pakistan wegen seines Glaubens angegriffen worden. Deshalb geht er jetzt nicht mehr das Risiko ein, mit anderen zu beten. Das macht er lieber für sich in seinem Container, wenn seine Mitbewohner weg sind. Vor dem Schlafengehen liest er jede Nacht im Koran. Er hat ihn auf seinem Handy heruntergeladen. Das Handy ist der einzige Wertgegenstand, den er bislang noch nicht verloren hat.
Ungewisse Zukunft
Geld, ein Großteil seiner Kleidung und sonstige Erinnerungsstücke wurden ihm auf seiner Flucht abgenommen. Was ihm sonst noch passiert ist, darüber möchte er nicht reden – noch nicht. Das Trauma liegt noch zu tief. „Allah begleitet mich auf meiner Reise. Er treibt mich voran und steckt tief in mir drin, aber trotzdem zweifle ich oft an ihm. Warum muss ich mich auf diese Reise machen?“, so Ali. „Doch trotzdem begegne ich ihm immer wieder! Er verlässt mich nicht, auch jetzt nicht!“ Allah ist für ihn Menschlichkeit, und die begegnet ihm trotz allem immer wieder auf seiner Flucht – oft in kleinen Gesten.Wie es jetzt weitergeht, weiß Ali noch nicht. Vielleicht bleibt er etwas länger hier, oder er beschließt, von einem auf den anderen Tag zu gehen. Die Zukunft ist für ihn noch ungewiss. Auch für Antonjia steht eine Veränderung an. Sie möchte nach sieben Jahren bei Are you Syrious die NGO wechseln. Center for Peace Studies heißt ihre neue Organisation: Sie sehe in der Bildung von Menschen ihre zukünftige Aufgabe. Dem Kampf für mehr Gerechtigkeit für geflüchtete Menschen möchte sie aber treu bleiben. Schließlich fühlt sie sich dazu von Gott berufen. Gott gibt ihr die nötige Kraft, ihrer Aufgabe treu zu bleiben.
Charlotte Groß-Hohnacker
Charlotte Groß-Hohnacker ist Journalistin und Fotografin aus Dortmund.